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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Kühe und Hühner zu sehen gab – die nämliche Aussicht, die schon den Vater des Kindes und Tante Beate entzückt hatte. Und dieselbe treue Hand, die jene einst gehütet, hielt jetzt das Kindchen auf dem Arme, eine saubere, etwa fünfzigjährige Frau mit den freundlichsten Augen der Welt unter der schwarzen Bauernhaube. Lothar hatte sie heute früh persönlich aus dem schmucken Häuschen am Ende des Dorfes zu seinem Kinde geholt.

„Welch rührende Freundschaft!“ hatte die Prinzeß Thekla gerufen, aber Beate merkte den Sarkasmus nicht und Lothar wollte ihn wohl nicht bemerken. Er sah wie traumverloren in die immer finsterer werdende Wetternacht hinaus.

„Die Herzogin ist öfter leidend, wie wir alle wissen, Mama,“ sagte Prinzeß Helene, die Lothar nicht aus den Augen ließ.

„Natürlich! Vielleicht hat sie sich über irgend etwas alterirt,“ meinte die alte Prinzessin bedeutungsvoll. „Uebrigens, diese Schwüle ist erdrückend; ich hätte nie geglaubt, daß es in den Bergen hier so heiß sein kann; ich muß beständig an die kühle, wogende Nordsee denken. Herr von Pausewitz,“ wandte sie sich an den Kammerherrn, „haben Sie Nachricht aus Ostende, ob wir die Zimmer im Hôtel de l’Ocean bekommen werden?“

Beate schaute verwundert ihren Bruder an. Die ungeheuren Koffer, welche die durchlauchtigsten Damen nach Neuhaus gebracht, hätten auf einen längeren Aufenthalt schließen lassen.

Herr von Pausewitz machte eine bedauernde Bewegung. „Durchlaucht, der Wirth depeschirt, daß leider meine Bestellung zu spät kam, glaubt aber, in einem andern Hôtel –“

„Sie werden uns hoffentlich begleiten, lieber Lothar,“ unterbrach Prinzessin Thekla den alten freundlichen Herrn und wandte sich mit so liebenswürdiger Miene zu Baron Gerold, als sie noch je gezeigt. „Die Erinnerung an unsere theure Verewigte wird Sie ebenfalls dorthin ziehen, wo Sie die kurzen Wochen der Brautzeit mit einander verleben durften.“

Lothar verbeugte sich auffallend devot. „Verzeihung, Durchlaucht – ich sehe Plätze, an welche sich Erinnerungen knüpfen, die für mich so traurig sind, nicht gern zum zweiten Male; man läßt sich zu leicht hinreißen, der Vergangenheit ein allzu großes Recht einzuräumen, während es dem Manne obliegt, sich mit jedem zu Gebote stehenden Mittel innere und äußere Ruhe zu erkämpfen, um der Gegenwart, der Pflicht zu genügen. Aber abgesehen hiervon, ich habe in letzter Zeit bemerkt, daß meine Anwesenheit in Neuhaus mehr als nöthig ist; auch für meinen Besitz in Sachsen dürfte es gut sein, wenn das Auge des Herrn einmal wieder sorgend auf ihm ruht. Erst jetzt,“ sprach er weiter, indem er aufmerksam der Prinzeß Helene eine Kompotschale reichte, „erst nachdem ich so lange in südlichen Gegenden leben mußte, erst jetzt liebe ich meine Heimath so recht ehrlich, diese kleine Scholle, auf der ich groß geworden bin; ich möchte ihr wirklich nicht eine Stunde länger meine Gegenwart entziehen.“

Die Prinzeß warf einen verzweiflungsvollen Blick durch das Fenster; er konnte ebenso gut den drohenden Wolken da draußen gelten, als der Starrköpfigkeit ihres lieben Schwiegersohnes.

„Eine Frau, eine Mutter faßt das Angedenken an die Heimgegangene natürlich anders auf,“ sagte sie kühl, „weniger heroisch. Pardon, Baron!“

„Durchlaucht,“ erwiderte er mit Wärme, „es wäre schlimm, würde es anders sein! Die Frauen haben das holde Vorrecht, Kultus zu treiben mit den äußeren Zeichen der Trauer wie der Freude; sie sind es, welche Blumen streuen zum fröhlichen Fest, sie sind es, die das Grab bekränzen. Welcher Schimmer würde dem Leben fehlen, wenn sie ‚heroischer‘ wären!“

Prinzeß Helene ward dunkelroth. Wie kam ihre Mutter auf den Einfall, von hier fortzugehen – jetzt? Die Gabel in ihrer Hand zitterte, sie mußte sie hinlegen.

Komtesse Moorsleben rief: „Um Gott, sind Durchlaucht nicht wohl?“

„In der That – ich bin – mir ist so schwindelig plötzlich,“ stammelte die Prinzessin. „Verzeihung, wenn ich –“

Sie hatte sich erhoben und, das Tuch vor die Augen gedrückt, schritt sie, leicht grüßend, hinaus, der Komtesse winkend, zurückzubleiben. Sie flog die Treppe förmlich hinauf und in Frau von Bergs Zimmer.

„Alice!“ rief sie fassungslos, „Mama spricht vom Abreisen! Es ist schrecklich – es ist alles verloren!“

Frau von Berg, die im hellblauen Morgenkleide mit krêmefarbenem Spitzenbesatz im Zimmer auf- und abschritt und ihr englisches Riechsalz zuweilen mit halbgeschlossenen Augen an die Nase führte, wobei sie jedesmal leicht stöhnte, hielt inne und vergaß für einen Augenblick ihre Krankenrolle.

„Gerold hat Mama seine Begleitung abgeschlagen,“ fuhr die Prinzessin erregt fort, indem sie an ihrem Taschentuch zerrte, daß die feinen Valenciennes zerrissen. „Er schwärmt plötzlich von seinen deutschen Wäldern wie ein erbgesessener Bauernsohn, dem man zumuthet, nach Amerika auszuwandern. Was soll ich in Ostende? Und noch dazu, wenn ich weiß, Sie sind nicht mehr hier, Alice! Ich ertrage es nicht,“ betheuerte sie und warf sich auf das Sofa; „ich springe unterwegs aus dem Zuge, ich stürze mich von der Estacade in die See – ich –“

Das weiße Gesicht der Prinzessin leuchtete kaum noch kenntlich aus der schnell hereinbrechenden Dunkelheit herüber zu der unbeweglich dastehenden Frau.

„Ach Gott, es ist ja alles verloren!“ rief sie, als diese schwieg. „Ich gehe, und sie bleibt!“ Und sie begann leidenschaftlich zu weinen, indem sie aufs neue den Kopf in die Kissen barg. „Ich fühle es, Alice, ich fühle es, er liebt sie; er hat vorhin an sie gedacht!“ schluchzte sie.

Frau von Berg lächelte. Sie hatte keinen Grund mehr zur Schonung; sie haßte alle diese Menschen seit ihrer heutigen Niederlage und fühlte etwas von dem wonnigen Behagen, mit dem ein Anarchist daran denken mag, mittelst einer winzigen Dynamitpatrone eine ganze Gesellschaft in die Luft zu sprengen, Unschuldige und Schuldige.

„Prinzessin, jetzt keine unnöthigen Thränen,“ sagte sie kühl, „jetzt müssen Sie handeln. Vor allen Dingen, meine ich, müßte der Herzogin bewiesen werden, daß Durchlaucht keineswegs ‚im Fieber‘ gestern Abend redeten. Alles andere würde sich dann finden.“

Und Frau von Berg sah im Geiste schon die ganze Klique in die Luft fliegen; ihretwegen auch dieses kindische unentschlossene Geschöpf.

„Aber ich kann es ihr nicht sagen, ich kann es nicht!“ flüsterte die Prinzessin; „ich habe einmal sehen müssen, wie sie ein Reh krankgeschossen hatten, und ebenso blickte sie mich gestern an; ich kann es nicht! Ich habe die ganze Nacht deshalb nicht geschlafen.“

Frau von Berg zuckte die Achseln. „So gehen Durchlaucht nach Ostende; die Idylle hier wird sich um so ungestörter entwickeln.“

Draußen warf der Wirbelsturm, der vor dem Gewitter daherbrauste, Sand und Blätter gegen die Fenster und zerzauste wüthend die Aeste der Linden; dann fuhr der erste grelle Blitz hernieder und streifte das spöttisch verzogene Gesicht der schönen Frau, die am Fenster lehnte und in das Toben hinausschaute.

„Ich will ihr schreiben“ sagte jetzt die Prinzessin. „Sie würde mich ja so wie so gar nicht annehmen.“ Und nach einer Pause, während welcher ein Donnerschlag das Haus erbeben machte: „Ich bin es ihr schuldig – ja, ja, ich bin es ihr schuldig; Sie haben Recht, Alice. Kommen Sie in mein Zimmer, ich fürchte mich.“

Frau von Berg zündete eine Wachskerze auf dem Schreibtisch an und leuchtete der Prinzessin über den Korridor nach ihrem Zimmer. Auf dem weißen runden Frauengesicht lag ein Zug höchster Befriedigung. „Endlich!“ dachte sie und ballte heimlich die Faust; wenn noch eine Spur von Milde in ihr gewesen, der gestrige Abend hätte sie verlöscht. Wie hochmüthig sie an ihr vorübergeschritten war, als Baron Gerold sie – Frau von Berg, eine geborne Cornetzky – gemaßregelt; sie, deren Vorfahren mindestens so alt waren als ihre; sie stammten nachweisbar von den Sobieskis ab. In ihren Augen leuchtete es auf; der Herzog hatte sie gestern seit langer Zeit wieder einmal angesprochen und sie hatte resolut gewagt, ihn an schwüle vergangene Zeiten zu erinnern. Er war damals als junger Prinz blindlings in sie verliebt gewesen; und alte Liebe –

„Was meinen Sie, Alice,“ unterbrach die Prinzessin den kühnen Flug dieser Gedanken, „wie soll ich schreiben?“

Die graziöse Gestalt der kleinen Durchlaucht saß vor dem Rokokoschreibtischchen, vor sich ein wappengeschmücktes Briefblatt; vorläufig stand nichts weiter daraus als: „Geliebte Elisabeth!“

„Irgend so etwas, Durchlaucht, wie – daß die Sorge um das Glück Ihrer Hoheit Sie veranlasse, die gestern hingeworfene Bemerkung noch näher zu begründen; Durchlaucht könnten es vor

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