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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Ende März 1861 erschien der König zum ersten Mal in der königlichen Centralturnanstalt, um die Uebungen der Militär- und Civileleven (Offiziere und Lehrer), welche damals noch in demselben Raume vereint waren, wenn sie auch getrennten Unterricht erhielten, zu besichtigen. Gemeinschaftlicher Unterrichtsdirigent war Major Hugo Rothstein, der mannhafte, aber hartköpfige Vertreter der schwedischen Gymnastik, die er gar gern an die Stelle des deutschen Turnens gesetzt hätte.

Ich als erster und damals einziger „Civillehrer“ hatte die Uebungen der Civileleven zu leiten. Trotz sorgfältiger Vorbereitung sah ich doch, wie ich offen gestehen will, mit einigem Bangen der Stunde der Vorstellung entgegen. Und sie kam; mit sprichwörtlich gewordener Pünktlichkeit fuhr der König vor, verließ den Wagen, trat in Begleitung des damaligen Kronprinzen, des Prinzen Friedrich Karl und des Fürsten von Hohenzollern in den ersten Saal, in dem die Offiziere, dann in den zweiten, in dem ich mit den Civileleven Aufstellung genommen hatte; ich kommandirte: „Still gestanden!“ Der König trat näher, ich wurde vorgestellt und – verschwunden war jegliche Beklemmung, nachdem ich in diese so mildblickenden Augen geschaut, nachdem ich die von freundlich wohlwollendem Lächeln begleiteten gütigen Worte des hohen Herrn vernommen.

Einen mächtigen Eindruck machte auf mich diese hoch aufgerichtete kraftvolle Männergestalt, zu der ich, der ich doch auch nicht zu den kleinsten gehöre, emporsehen mußte. Nur das ergraute Haar bekundete die 64 Lebensjahre. Das Turnen und Fechten begann; es wechselten die Offiziere mit den Civileleven ab; der König wandte allen Uebungen seine volle ernste Aufmerksamkeit zu und manches fragende Wort zeugte von dem Interesse, mit dem dieselben verfolgt wurden; auch manche beifällige Aeußerung kam aus hohem Munde und die Anerkennung für die Gesammtvorstellung blieb am Schluß ebenfalls nicht aus.

Seit dem Jahre 1861 erschien der König regelmäßig in jedem Frühjahr bis zum Jahre 1867. Und seine Theilnahme blieb sich immer gleich: nichts entging seinem scharfen Auge; jede neue Uebungsgruppe, ja einzelne bis dahin noch nicht gezeigte Uebungen wurden bemerkt und besprochen. Einmal äußerte er wieder, daß er eine vorgeführte Uebung noch nicht gesehen, und fragte, wie das komme.

„Majestät,“ erwiderte ich, „wir suchen in unserem Unterricht von Jahr zu Jahr fortzuschreiten und wollen dann die neugewonnenen Formen auch gern zur Anschauung bringen.“

Die von Professor Dr. O. H. Jäger in Stuttgart in den Turnbetrieb eingeführten Uebungen mit dem Eisenstab erregten des Monarchen volles Interesse. Er nahm bei der ersten Vorführung derselben einen Stab in die Hand, wog dessen Schwere und äußerte sich dann anerkennend über diese kräftigenden Uebungen. Am meisten gefielen ihm ruhige Bewegungen, bei denen große Kraft und vollendete Sicherheit mit guter Körperhaltung vereint waren; aber auch solche, deren Ausführung raschen Entschluß und kühnen Muth, doch gepaart mit Besonnenheit, verlangte, wußte er sehr wohl zu schätzen. Als einmal ein Eleve am Barren mit besonderer Tüchtigkeit turnte und der Kaiser – es war nach dem Jahre 1871 – sich lobend äußerte, entschlüpfte mir die Bemerkung: „Diesen Eleven haben wir zur Herzhaftigkeit erzogen.“

„Wie verstehen Sie das?“ fragte der Kaiser, sich lebhaft zu mir wendend.

„Majestät,“ erwiderte ich; „in jedem Winter giebt es unter den einberufenen Lehrern einzelne, welche bei guter körperlicher Beanlagung ihre eigene Leistungsfähigkeit noch so wenig kennen, daß sie sich anfangs an schwierigere, nur scheinbar gefährliche Uebungen, die sie sehr wohl ausführen könnten, nicht heranwagen, da sie ein Mißlingen und infolge dessen eine Verletzung fürchten. Diese bringen wir durch methodisches Vorgehen im Unterricht allmählich zum Bewußtsein ihres körperlichen Vermögens; wir erwecken ihren Muth und ihre Entschlossenheit und haben dann die Genugthuung, daß sie zuletzt selbst solche Uebungen, deren Mißlingen wirklich Gefahr bringen könnte, frisch, muthig und mit vollkommener Sicherheit ausführen.“

„Wenn Sie es so meinen, bin ich ganz mit Ihnen einverstanden.“

Im Jahre 1862 ließ ich bei der Vorstellung den ersten Reigen schreiten. Ich hatte einen solchen versuchsweise mit meinen Eleven eingeübt; der Unterrichtsdirigent, Major Rothstein, veranlaßte mich, ihn dem Könige vorzuführen. Nicht allein dieser, auch die anwesenden Gäste, der Kronprinz, der Kriegsminister v. Roon und andere Generale interessirten sich aufs lebhafteste für diese Verbindung kräftigen Männergesanges mit turnerischen Schreitungen; seitdem durfte ein Reigen bei keiner Vorstellung mehr fehlen. Es sind Marschlieder patriotischen, beziehungsweise kriegerischen Inhaltes, welche, ein- oder mehrstimmig gesungen, die Schreitungen turnerischer Ordnungsübungen, die zum Theil den militärisch taktischen Uebungen verwandt sind, begleiten. Diese Reigen, von A. Spieß, dem Begründer des neueren Schulturnens, wieder eingeführt oder richtiger neu geschaffen, haben nicht allein im Schulturnen, sondern auch in den Turnvereinen wohlverdienten Anklang gefunden.[1] Dieselben trugen, wie mir von einem berühmten General, der in des Kaisers Gefolge wiederholt bei den Vorstellungen zugegen gewesen, einmal versichert wurde, nicht unwesentlich dazu bei, die scharfe Grenze zwischen dem Militär- und Schulturnen zu bezeichnen; denn beides ging auch in der Centralturnanstalt durchaus seinen eigenen Weg. Gemeinschaftlich waren nur gewisse einfache Bewegungsformen wie auch jetzt noch; aber vor allem war es die, ich möchte sagen, militärische Korrektheit und Bestimmtheit in der Ausführung aller Uebungen, die beiderseitig angestrebt wurde und die das militärische Auge des Kaisers auch bei unserem Turnen erfreute.

Es fehlte bei diesen Vorstellungen auch nicht an komischen Vorkommnissen. Wir hatten in einem Kursus einen Eleven von auffallend geringem Körpergewicht, der übrigens ein tüchtiger Turner war. Als derselbe zu einer Uebung ans Reck trat, äußerte ich zum König, daß dieser Eleve nur 88 Pfund wiege. Demselben mißglückte zufällig die Uebung; er fiel, wurde aber glücklicherweise aufgefangen und so vor Beschädigung geschützt. Der König winkte ihn zu sich und fragte, ob er sich verletzt habe.

„Nee, Majestät,“ erwiderte dieser, ein echtes Berliner Kind.

„Ich höre, Sie wiegen nur 88 Pfund.“

„Nee, Majestät, ich wiege jetzt 89.“

Der Kaiser lachte und gab ihm die Hand.

Ein häufiger Gast bei diesen Vorstellungen war General Wrangel, dem besonders auch unsere Uebungen gefielen. Einmal – bei der Vorstellung im Frühjahr 1874, bei welcher der damalige Kronprinz, unser jetziger Kaiser Friedrich, den von schwerer Krankheit genesenden Kaiser Wilhelm vertrat – war auch der „alte Marggraff“, der Freund Jahns und Friesens, erschienen. Nachdem der Kronprinz in seiner liebenswürdigen Weise den alten Herrn begrüßt, der sich angelegentlich nach dem Befinden des „Herrn Vaters“ und der „Frau Gemahlin“ des Kronprinzen erkundigte, ging auch Wrangel auf ihn zu – die beiden Alten bei einander stehen zu sehen, war ein unvergeßlicher Anblick – und fragte ihn.

„Wie alt sind Sie?“

„So alt wie Sie, Excellenz, bin ich noch lange nicht.“

„Nun, ich werde neunzig.“

„Und ich erst siebenundachtzig!“

Aber in zäher Ausdauer war der Marschall dem Doktor Marggraff doch „über“. Während ersterer die ganze Vorstellung hindurch stehen blieb, mußte sich dieser setzen und wartete auch den Schluß der Vorstellung nicht ab.

Im Jahre 1877 trat die längst als nothwendig erkannte und lange geplante Trennung ein: es wurde eine besondere Turnlehrer-Bildungsanstalt gegründet, deren Uebungsstätte vorläufig die Turnhalle des königlichen Wilhelmsgymnasiums war. Direktor derselben blieb der bisherige Civildirektor der Centralturnanstalt, Geheimer Oberregierungsrath Waetzoldt; ich wurde

  1. Bei der Turnvorstellung im März 1887, welcher als Vertreter des Kaisers Wilhelm der Kronprinz, unser jetziger Kaiser Friedrich, beiwohnte, wurde ein Reigen geschritten, der sich an die „Deutsche Hymne“ („Glorreich auf dem Erdenrunde Steht das deutsche Vaterland“), gedichtet von F. W. Plath, komponirt von Sabbath, anschloß. Der Kronprinz lobte Lied und Weise und sprach dem mit anwesenden Dichter mit freundlichem Händedruck seinen Dank aus.
    Bei der diesjährigen Schlußvorstellung am 20. März, der leider weder Kaiser noch Kronprinz beiwohnen konnten, wurde ein von Geheimrath Waetzoldt gedichtetes, von P. Eicke komponirtes Lied („Hoch ragt empor auf felsenfesten Grund die Zollernburg in altersgrauen Tagen“) für die Reigenschreitung gewählt. Das Lied war bereits 1883 einigen Reigen zu Grunde gelegt worden. Der Kronprinz war damals darüber so erfreut, daß er sich noch ein zweites Exemplar des das Lied enthaltenden Programmes geben ließ, „um es dem Kaiser mitzubringen“.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 320. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_320.jpg&oldid=- (Version vom 6.6.2018)