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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

die Gespräche geistreich zu beleben. „Arme Mädchen“ führt uns in die Kreise des Berliner Proletariats, aus denen die Heldin, Gretchen, sich nicht loszureißen vermag. Wo ihr eine glücklichere Lebensstellung winkt oder wo sie auch nur ein ausreichendes Unterkommen gefunden hat, da wird sie durch ihre Familie, besonders durch ihren trunkenen Vater, der sie wie ihr böser Gast verfolgt, selbst unmöglich gemacht. Auch als Pflegerin im Irrenhause kann sie sich nicht behaupten, seitdem der Vater dort herangebracht ist; sie sucht den Tod in den Wellen der Spree. Der Gemütszustand des armen Mädchens ist mit großer Feinfühligkeit geschildert und ein elegischer Hauch umschwebt dies ganze von rastloser Sehnsucht aufgezehrte Leben – die Odyssee des Proletariats.

Doch hier muß man mit dem Dichter rechten; er läßt ein braves und tugendhaftes Mädchen, das allen Versuchungen widersteht, rettungslos zu Grunde gehn, während eine allerdings aus den Kreisen der vornehmeren Armuth hervorgegangene Freundin, trotz einer Verirrung, die um so größer ist, je unbegreiflicher sie erscheint, ein wünschenswerthes Lebenslos erreicht. Das ist grausam, aber noch mehr, es wirkt entmuthigend und niederdrückend und giebt uns nicht die volle Lebenswahrheit wieder. Der Dichter hätte der unglücklichen Grete zum Kontrast ein anderes armes Mädchen gegenüberstellen sollen, dem die Armuth nicht das ganze Leben verkümmert, sondern das sich seine Zufriedenheit wahrt und ein stillbegnügtes Glück begründet; dadurch wäre, so sehr wir auch das Schicksal Gretchens beklagen müßten, doch eine moralische und künstlerische Befriedigung hervorgerufen und der Anschein vermieden worden, als solle das Geschick Gretchens nicht bloß ein zufälliges Menschenschicksal, sondern ein allgemein gültiges Abbild sein von der Nichtigkeit aller Bestrebungen der Armuth, auch ein bescheidenes menschenwürdiges Los zu erreichen.

Paul Lindaus erzählendes Talent bewährt sich in diesem Roman in glänzender Weise; er versteht es zu spannen und einzelne Schilderungen sind von ergreifender Wahrheit. Zu Jordans Darstellung mit ihrer Gedankenwucht, ihren naturwissenschaftlichen Exkursen, ihrem ins Breite gehenden Behagen steht Paul Lindaus leichtflüssige Erzählungsweise in schroffem Kontrast. Er ist kein sklavischer Nachahmer der Novellisten an der Seine, doch er hat ihnen die graziöse Leichtigkeit abgelernt, die uns von Kapitel zu Kapitel führt, ohne uns je zu ermüden. Alles giebt sich natürlich und ungezwungen und wir müssen dem geschmeidigen Erzähler scharf auf die Finger sehen, wenn wir ihn bei einer Unwahrscheinlichkeit ertappen wollen.

Wieder eine gänzlich verschiedene Physiognomie trägt Wilhelm Jensen zur Schau, dessen Geschichtencyklus „Aus schwerer Vergangenheit“ (Leipzig, B. Elischer) uns in die schreckensreiche Zeit des Dreißigjährigen Krieges versetzt, aus welcher der Autor schon so manche kleinere und größere Erzählung herausgegraben hat. Die Zeit mit ihrer abenteuerlich bunten Bewegtheit paßt für manche kecke Erfindung, wie sie der Dichter liebt, aber sie paßt auch für das Gewaltsame und Düstere, das er mit Vorliebe schildert. Eine abenteuerliche Geschichte ist die erste „Unter frommem Schutz“. Der Fähndrich Eitelwolf erschlägt seinen Hauptmann beim Würfelspiel und soll dafür gehängt werden. Auf dem Gange zum Galgen wird er durch die Aebtissin eines Klosters gerettet, welches das „Scherenrecht“ besitzt.

Unsere Leser besinnen sich, daß auch die „Gartenlaube“ eine illustrirte Novelette, welcher derselbe Stoff zu Grunde gelegt ist, gebracht hat (vergl. Jahrg. 1887, S. 297). Die Prinzessin-Aebtissin in der Jensenschen Erzählung, die den Fähndrich Eitelwolf gerettet hat, ist keine andere, als seine Jugendgeliebte Magdalis Hasenfratz, die nach mancherlei Abenteuern einen italienischen Principe geheirathet und nach dessen Tod zu hoher klösterlicher Würde emporgestiegen. Die beiden haben, nachdem auch er sie wieder erkannt, nichts Eiligeres zu thun, als aus dem Kloster zu entfliehen und sich dann von einem Priester, dem einzig Ueberlebenden einer verwüsteten Stadt, trauen zu lassen. Wie aus dem Ordensgewand der würdigen Aebtissin auf einmal wieder die übermütige, lebenslustige Jungfer Hasenfratz herausschlüpft, das ist schalkhaft und ergötzlich geschildert. Die zweite Geschichte „Auf der Lateinschule“ spielt großenteils in der Stadt Landshut, und da fehlt es nicht an Kriegsabenteuern, an Mord und Brand. Dem würdigen Rektor der Lateinschule wird von schwedischen Soldaten der Kopf vom Rumpfe getrennt; sein einst von der Straße aufgegriffener Famulus Konrad Mentelin und seine Tochter Helia, die einander in stiller Liebe zugethan sind, erleben wunderbare Schicksale, werden gerettet, ohne etwas von einander zu wissen, und finden sich zuletzt in Weimar wieder, nachdem Konrad unter den Fahnen des Herzogs Bernhard tapfer gefochten. „An der See“ ist eine Episode der Belagerung von Stralsund. Die Bewohner der Südwestküste von Rügen, tapfere Schiffer, bemächtigen sich eines von Wallenstein gebauten Schiffes. Dazwischen eine romantische, trotzige Liebe, die gehörig in Wasser gebadet wird, ehe der Alte darüber seinen lakonischen Segen spricht.

Die eigenartigste Erzählung ist „Ueber der Haide“, sie enthält stimmungsvolle Naturbilder, welche an diejenigen Adalbert Stifters erinnern; das Zigeunermädchen, das mitten unter dem raschelnden harten Blattwerke des Schilfs auftaucht, wird die Heldin romantischer Episoden, während die Liebe zwischen der Pfarrerstochter und dem jungen Studenten, dem Pflegesohne des Pfarrhauses, einen idyllischen Reiz bewahrt. Doch in das freundliche Leben der Lüneburger Haide bricht bald der Kriegslärm, bricht Freund und Feind verwüstend ein; grelle Brand-, Raub- und Mordscenen lösen sich ab, der Pfarrer selbst wird zu einem Ungläubigen und Gottesleugner, der seine Bauern in den Kampf führt, nur die beiden Liebenden finden ein friedliches Glück.

Die letzte Erzählung „Um ein Menschenalter später“ bringt uns noch einen Nachhall früherer Kämpfe in dem Zweikampf zweier Bürger der Reichsstadt Nördlingen, die in feindlichen Lagern sich an dem großen Krieg betheiligt hatten. Das Ganze führt zu versöhnlichem Abschluß; es hat einen mehr genrebildlichen Charakter; der verschnörkelte und verzierte Stil der Rede und des Lebens, der damals zur Geltung gekommen, wird von dem Autor mit Behagen ausgemalt.

Im höheren Idealstil der historischen Erzählung ist Karl Frenzels Novelle „Schönheit“ (Berlin, Gebrüder Paetel) gehalten. Die Handlung spielt in Florenz zur Zeit des Bußpredigers Savonarola, der nach dem glänzenden kunst- und lebensfreudigen Zeitalter der Medicis die Welt mit einem düstern, in Sack und Asche trauernden Bußgefühl zu erfüllen suchte. War doch damals aus dem Platze vor der Signoria eine riesige achtseitige Pyramide errichtet worden, in allen Farben schillernd, von Gold und Silber leuchtend; Masken und Larven, falsche Bärte und Harlekinskleider, Damenbretter und Schachspiele, elfenbeinerne Kämme und silberne Spangen, Schmuckgeräthe der Frauen und die Bücherrollen der Gelehrten, Lauten und Geigen, Würfelbecher und Gemälde bildeten sie in buntem Durcheinander und oben thronte als Krönung des Ganzen eine weithin sichtbare groteske Figur, halb wie ein Teufel, halb wie ein verlarvter Spaßmacher ausstaffirt, mit gelben Fledermausflügeln.

Und dieser Karneval ging in hellen Flammen auf unter dem Jubelgeschrei des Volks; stürmisch wie bei einer Feuersbrunst läuteten dabei alle Glocken. Das war der Höhepunkt der Bewegung, die der düstere Mönch hervorgerufen; am Schlusse der Erzählung sehen wir seinen Sturz, die Erstürmung des Klosters von San Marco durch das Volk von Florenz. Die Liebe Giulianos, eines Gegners der mönchischen Reformbewegung, zu Elena, die anfangs in die Pyramide der zum Feuer verdammten Weltlust die Sonette des Petrarca und eine Perlenkette trägt und so Giuliano zuerst begegnet, zieht sich durch die geschichtlichen Lebens- und Sittenbilder. Auf den Wunsch des Vaters hatte Elena den Lionardo Vacchi geheirathet, doch als sie in ihm einen Verräther erkannte, folgte sie ihrer Liebe zu Giuliano und begleitete diesen auf seine Villa in Fiesole. Als ihn die politischen Verwicklungen in die Stadt riefen und er dort längere Zeit verweilte, fühlte sie das Peinliche, Aussichtslose ihres Verhältnisses; auch sie begab sich insgeheim dorthin, sah ihren Giuliano mitten in glänzenden Festen, nach der Meinung des Volkes bereits mit der schönen Dame verlobt, die er zum Tanze führte; Elena begab sich dann in das Kloster von San Marco und ging bei der Erstürmung desselben durch das Volk zu Grunde, indem ihr eigener Gatte, der sich unter den wild Eindringenden befand, die Treulose durchbohrte.

Diese Erzählung hat ein farbenreiches Kolorit; lebendige Schilderungen wechseln ab mit sinnigen Betrachtungen und das Bild jener interessanten geschichtlichen Epoche tritt mit fesselnden Zügen vor uns hin.

Ins deutsche Mittelalter führt uns der fesselnde Roman von Julius Wolff „Das Recht der Hagestolze, eine Heirathsgeschichte aus dem Neckarthal“ (Berlin, G. Grotesche Verlagsbuchhandlung).

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 338. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_338.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)