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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Arbeiten sich zu erleichtern pflegen. Flott geht die Arbeit von statten; ein guter Geist beseelt die Mannschaft, und je mehr das Becken des Meerbusens von Siam sich öffnet, je länger und gleichmäßiger die Dünungen der südlichen Chinasee heranrollen, um so freudiger blicken die Gesichter: es geht der Heimath zu.

Ein kleines Intermezzo drohte freilich am zweiten Tage, den Frieden zu unterbrechen. Frau Howard, welche es nicht hatte erreichen können, daß Diner und Souper ihr allein servirt wurden, und die also gezwungen war, an den gemeinschaftlichen Mahlzeiten der Kajütentafel theilzunehmen, hielt sich streng abgesondert. Mit höflich kalter Frage erkundigte sie sich bei dem Kapitän nach einem Platze auf Deck, wo ihr Ruhestuhl vor jeder Annäherung der Schiffsleute gesichert sei.

„Madame, einen solchen Platz giebt’s nicht auf den Planken des ,Wotan‘, es sei denn Ihre eigene Kabine,“ antwortete der Kapitän. Darnach hielt sich Frau Howard vierundzwanzig Stunden in der Kabine. Aber das Bedürfniß nach frischer Luft nöthigte die Dame doch wieder hinaus an Deck. Die malayischen Dienerinnen lagen an der Seekrankheit darnieder.

„Befehlen Sie jemand zu meiner Bedienung!“ forderte Mistreß Howard. Doch ehe der Kapitän irgend einem Schiffsjungen winken konnte, kroch hinter den Fässern, die den „Wassergang“ entlang lagen, ein halbwüchsiger Bursche hervor; der form- und farblose Kittel des chinesischen Arbeiters umschlotterte seine Glieder. Dieser Mensch, von dem niemand wußte, wie er aufs Schiff gekommen, sank vor Frau Ellen in die Kniee und hob bittend die Arme zu ihr auf.

Eine unbeschreibliche Scene folgte. Die Dame fuhr mit einem lauten Schrei der Entrüstung und des Abscheus einige Schritte zurück; der Kapitän trat näher, packte den fremden Burschen derb an der Schulter und rief: „Ho, holla, Eindringlinge an Bord!“ und im Nu war die gesammte Mannschaft in höchster Aufregung auf den Beinen. Das kann nicht Wunder nehmen in den indischen Gewässern, wo jedes nicht aufs Schiff gehörige Individuum als mit Piraten im Bunde betrachtet werden muß. Das hastete durch einander und stieß leise Verwünschungen aus. Der bezopfte Uebelthäter aber stand zitternd wie Espenlaub in der Mitte und blickte nur immer nach der zürnenden Frau, welche das vom Kapitän begonnene Verhör mit dem energischen Ruf unterbrach: „Ich fordere Strafe für den frechen Uebelthäter, harte Strafe!“

„Das ist mein Amt, Madame,“ sagte nachdrücklich der Kapitän, und auf der braunen Stirn schwollen die Adern. Diese Frau würde ihm während der weiten Reise noch zu schaffen machen!

„Ich fordere harte Strafe!“ Ellen Howard war einige Schritte vorgetreten; sie schien es jetzt nicht zu beachten, daß ihr weißes Kleid von ganz gemeinen Matrosen gestreift wurde. „Ich fordere harte Strafe, denn der Bursche ist mein.“

„Ihr Sklave?“ fragte der Kapitän.

„Pfui, nein! aber einer meiner Gartenarbeiter, den ich wegen Diebstahls fortjagen ließ und der mir nun nachgelaufen ist. Die Peitsche dem frechen Burschen! Ich fordere es.“

Die Situation begann ernstlich zu werden. Die Mannschaft, von der Entrüstung der schönen Frau angesteckt, murrte unverhohlen, und es ward sogar die Bemerkung laut. „Ueber Bord mit ihm, über Bord!“

„Ein Wort, Kapitän!“

Das sagte alte tiefe Mannesstimme; Walter Iversen, der zweite Passagier des „Wotan“, legte seine Hand auf die Schulter des Chinesen.

„Widerspricht es der Disciplin oder der Etikette dieses Schiffes, wenn ich diesen Menschen als meinen Diener annehme?“

„Nein, dadurch wäre die Frage sofort gelöst.“

„Gut, so gehört er zu mir, und ich mache mich verantwortlich für seine Aufführung.“

Diese ruhigen Worte wirkten sichtlich wohltuend; die Wellen der Erregung legten sich und nach einer Viertelstunde kümmerte sich niemand mehr um den Chinesen. Der bezopfte Bursch lag in seines neuen Herrn Kabine auf den Knieen und putzte eifrig an einem Paar Pistolen herum, deren Ladung vorher entfernt worden war. Im Reiben und Wischen hielt der Mensch oft inne und drückte das kalte Eisen an seine Stirn, an seinen Mund; er streichelte auch die alten rothangelaufenen Stiefel, die neben der Koje standen – ein chinesischer Kuli hat eben auch an Herz.

Dieses Intermezzo hatte zur Folge, daß bei der Mittagstafel Frau Ellen sich zum ersten Male am Gespräche betheiligte.

Die Herren sprachen über Völkertypen und charakteristische Eigenschaften der asiatischen Völker. Walter Iversen, der schwarzbärtige Deutsche, welcher, um von einem schweren Schicksal sich zu erholen, einen „Spaziergang um die Erde“ machte, erwähnte, diese Eigenthümlichkeiten seien eine jedesmalige Wirkung der Natur, des Klimas, der Nahrung und so weiter. Das feine ironische Lächeln auf Frau Howards Gesicht veranlaßte ihn zu der Frage: „Sie scheinen anderer Ansicht, Frau Konsul?“

Sie winkte der braunen Nina, daß sie ihr einen Fächer bringe; denn drückend schwer lastete die tropische Temperatur auf allen Lebewesen, und dann mit unbeschreiblich stolzer, doch anmuthiger Bewegung des Kopfes erwiderte sie: „Natur, Natur! Sie werden doch diese braunen, gelben, schwarzen Geschöpfe mit zwei Armen und zwei Füßen nicht zu den ‚Menschen‘ im engeren Sinne zählen? Kultur, Gesittung, Bildung machen den Menschen.“

Halb betroffen, halb unwillig hielt die Dame inne; eben hatte sie Geschmack gefunden an der Unterhaltung mit diesen Männern – besonders der Deutsche mit seiner breiten Stirn über den blauen Augen und dem lächerlichen Idealismus gefiel ihr – da mußte derselbe Deutsche bei dem ersten längeren Satze, welcher von ihren Lippen kam, so fest und tief seine Augen in die ihren senken, als wolle er den letzten Grund ihrer Seele finden. Energisch wehte ihr Fächer. Nun kam es langsam von den Lippen Walter Iversens:

„Sie haben die Welt gesehen, Frau Konsul; kam Ihnen nie das Bedürfniß oder bester die Neugier bei, den tausendfältigen Lebenserscheinungen in der Natur – Verzeihung, da ist sie schon wieder – und im Menschendasein auf die Spur zu kommen? Kümmerten Sie sich nie um die Seelenregungen Ihrer Untergebenen, z. B. was den armen Schelm, der da drinnen“ – er deutete nach der Kabine Nr. 1 – „jetzt einen wahren Kultus mit todten Gegenständen treibt, zu dem ‚strafwürdigen‘ Benehmen von heut Morgen veranlaßte?“

„In der That, mein Herr, eine starke Zumuthung, die sie mir da stellen,“ lächelte die Engländerin abwehrend; „haben Sie vielleicht diese interessante Menschenseele schon ergründet?“

Unbeirrt durch den spöttischen Ton nickte der Deutsche vor sich hin und erwiderte gelassen:

„Ja, und ich fand auch in diesem Einzelfalle bestätigt, daß Furcht und Liebe die stärksten Triebfedern im Menschen sind.“

„Mein Herr –!“ Mit funkelnden Augen erhob sich die englische Dame, um sich zu entfernen. Doch Iversen deutete auf den Sessel zurück, den sie, wie von einem Bann gefangen, sogleich wieder einnahm. Er fuhr fort:

„Muß einer weichen, so bin ich’s, welcher die Kajüte räumt. Furcht und Liebe! Jawohl! Sie regierten auch die Handlungen Ihres ehemaligen Dieners! Die Furcht vor einer unbegreiflichen Macht führte den armen Jim zu einem Zauberdoktor. Sein alter Vater war wahnsinnig geworden, jener Zauberer hatte ihm aber gesagt, der Alte sei von einem bösen Geiste besessen, welcher nur dann von ihm weichen würde, wenn der dünne graue Zopf desselben mit dem Kamme der schönsten Frau von Bangkok gestreichelt werde. Die schönste Frau aber hatte der gute Junge ganz in der Nähe. Er glaubte auch, sie würde es nicht merken, wenn der kostbare Kamm aus ihrem Schlafgemach einen kleinen Spaziergang in die dunkle Chinesenhütte unternähme. Leider wurde der Schelm abgefaßt, als er, das eine Bein über die niedrige Fensterbrüstung geschwungen, mit langgestrecktem Leibe das Corpus delicti auf seinen alten Platz zurückbringen wollte. Der Rest ist Ihnen besser bekannt als mir, Frau Konsul. Der böse Geist wich in der That von dem Alten, denn dieser starb noch selbigen Tages. Wenn nun der dumme Jim, trotzdem er mit Schlägen fortgejagt wurde, immer wieder sich Ihnen zu nahen suchte und sogar die Gefahr, in Ihrer Gegenwart über Bord gesetzt zu werden, nicht scheute, so handelte er wieder getrieben von Liebe. Er liebte die schöne Frau, von welcher Hilfe für seinen Vater kommen sollte, wie man eine Gottheit liebt; er wollte sie anbetend verehren und sich rechtfertigen –“

„Mein Herr, Sie werden beleidigend,“ und nun stand die Engländerin wirklich, einer zürnenden Königin gleich, im niedrigen Schiffsgemach; „ich bin nicht gesonnen, Ihren Expektorationen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 370. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_370.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2021)