Seite:Die Gartenlaube (1888) 379.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

ihr Auszug, desto früher ziehen sie bei grauendem Morgen wieder zu Holze – gleichsam als wüßten sie, daß die Vollendung ihres Hauptschmuckes den Beginn der ihnen drohenden Gefahr bezeichnet.

Wenn dann der Jäger am frühen Morgen von der Hütte aus sein Revier begeht, findet er nur noch die frischen, alle Wege kreuzenden Fährten. Lauschend und spähend zieht er weiter; da geräth es ihm wohl manchmal, daß er aus dem nahen Dickicht ein gedämpftes Rascheln und Klappern vernimmt, das er leicht zu deuten weiß; und einmal steht er plötzlich stille, ein vergnügliches Schmunzeln auf dem sonnengebräunten Gesichte – er steht vor dem ersten, frischen „B’schlachter“, vor einem niederen Fichten- oder Lärchenstämmchen, an welchem in der Nacht ein Hirsch „geschlagen“ – und dazu noch „a ganz a guter“ – das deuten die hochgebrochenen Zweige an, das verräth an dem Stämmchen die Höhe und Länge der Stelle, von welcher in Fetzen die zerfegte Rinde niederhängt, während Schweiß und Basthaare an dem kahlen Holze kleben.

Die Fegezeit ist im vollsten Gange – mit dieser Meldung steigt der Jäger ins Thal. Und nun beginnt die Jagd auf den Sommerhirsch, auf den richtigen Feisthirsch.

Diese Jagd wird selten mit Treibern geübt, da der Hirsch in der Feistzeit leicht „vergrämt“ ist und durch jede allzulaute Beunruhigung veranlaßt wird, seinen Standort zu verlassen und auf lange Wochen zu verschwinden – der Kuckuck weiß, wohin. Nur ausnahmsweise, wenn etwa der Jagdherr selbst oder ein hoher, mit besonderen Privilegien ausgestatteter Jagdgast im Bezirke weilt, werden kleinere, isolirt liegende Bestände „geriegelt“. Während der Jäger, zumeist allein oder in Begleitung nur weniger Treiber, mit schlechtem Winde, d. h. bei solchem Winde, der vom Jäger gegen den Stand des Wildes zieht, den „Bogen“ unter Vermeidung jedes lauteren Geräusches „angeht“, indem er langsam den ihm wohlbekannten Wildwegen folgt, die in der Jägersprache „Riegel“ oder „Wechsel“ heißen – während dessen hat der Schütze seinen Stand in der Nähe der Stelle, an welcher der unter bestem Winde liegende „Hauptwechsel“ aus der Dickung mündet. Da mag es dann wohl geschehen, daß der in der Dickung „bestätigte“ Hirsch, nachdem er vor dem nahenden Jäger munter geworden, ziemlich vertraut dem Schützen vor die Büchse trollt, um den tödlichen Schuß zu empfangen und nach kurzer Flucht verendet hinzustürzen in das vom quellenden Schweiße roth sich färbende Gras. Aber nur selten ist der Erfolg ein so günstiger wie bequemer. Gar häufig schlägt solch ein schlauer gewitzter Recke dem Schützen ein Schnippchen, indem er hart am Saume des Dickichts „umschlägt“ oder gleich von Anfang an den Jäger unbekümmert an sich vorüberläßt, um lautlos auf dem Rückwechsel auszukneifen. Oder es ist der Hirsch vor dem Jäger allzu „munter“ geworden; dann geht’s mit Brechen und Rauschen durch die Büsche, wie ein Husch über die schmale Lichtung – und während der Hirsch in rasender Flucht, das Geweih tief in den Nacken drückend, zwischen schützendem Gezweig verschwindet, bohrt die nachgeschickte Kugel ein schnell vernarbendes Loch ins Blaue. Ist aber die Kugel dennoch flüchtiger gewesen als die Flucht des Hirsches, dann trägt er zumeist einen schlechten Schuß davon, einen Waidwund- oder Schlegelschuß, und da setzt es nun eine langstündige, mühevolle Suche mit dem angeriemten Schweißhund oder eine den ganzen Bezirk beunruhigende Hetze, bis der Hirsch gefunden oder gestellt ist – wenn er überhaupt zur Strecke gebracht wird und nicht ungefunden in einem verlorenen Winkel des weiten Bergwalds verendet. Doch wenn auch der Erfolg ein günstiger ist, so mag bei solcher Jagd doch nie die rechte Waidmannsfreude sein.

Die waidgerechteste Jagdart zur Feistzeit ist jene, die den ruhigsten, sichersten Schuß ermöglicht: der Ansitz vor dem abendlichen Auszug, der Ansitz und die Birsche vor dem Einzug bei grauendem Morgen und die „Trapfbirsch’“ nach einem starken Gewitterregen, nach welchem sich alles Haarwild von den „trapfenden“ Büschen und Bäumen aus dem Dickicht auf die Schläge treiben läßt, um sich draußen „abzubeuteln“ und in der warmen, hell durch die Wolken brechenden Sonne das nasse Fell zu trocknen.

Der ruhigste, sicherste Schuß – das war vorerst nur vom Standpunkt des praktischen Jägers aus gesprochen. Aber auch der Naturfreund findet bei solcher Jagdart seine beste Rechnung. Ein solcher steckt ja schließlich in jedem richtigen Jäger, und so kommt es – man mag die Grammatik der Jägerei von Anfang bis zu Ende durchblättern – daß jedem edleren Wilde gegenüber jene Jagdart als die waidgerechteste gilt, welche mit der sichersten Erlegung den reichsten, mannigfaltigsten Genuß der Natur und ihres Thierlebens vereinigt.

Und welch ein Hochgenuß, so hinauszuziehen in Berg und Wald, wenn nach Sturm und Wetter sich der Himmel klärt, wenn in der Ferne dumpf die Donner verrollen, wenn der letzte Entscheidungskampf der Wolken um die Zinnen der Berge wogt, wenn ein kräftiger Erdgeruch vermischt mit süßem Blumenduft die Lüfte füllt, wenn die ganze Natur so recht von Herzen aufzuathmen scheint in Erquickung und Frische! Oder vor Anbruch des Tages die trauliche Hütte zu verlassen und hineinzuschreiten in die stille Dämmerung, wenn fern über den westlichen Bergen die letzten Sterne erlöschen, wenn im Osten das gebrochene Frühlicht der nahenden Sonne in farbigen Bändern emporschwimmt über den Himmel, wenn der Thau wie ein grauer, seidenartig schimmernder Schleier über allem Grunde liegt, wenn die steigende Helle in den zahllosen Tropfen, unter denen sich die schlanken Gräser tief zur Erde neigen, ein buntes Glühen und Blitzen weckt, wenn aus Bäumen und Büschen sich die ersten schüchternen Vogelstimmen hören lassen, und wenn der volle Tag erwacht in seiner ganzen leuchtenden Glorie! Und welchen Reichthum an stillen Reizen bietet erst am Abend das stundenlange Verweilen an einer Stelle, zu deren Häupten sich die wildzerrissenen Felsen über den Bergwald thürmen, während ihr zu Füßen das tiefe Thal gebettet liegt in sanfter Schönheit! Dieser Reichthum erschöpft sich nicht – er wird nicht ausgenossen, da er mit jedem Abend sich neu erzeugt in neuer Form. Jeder einzelne Abend hat seinen eigenen Reiz, jeder andere ein anderes Gesicht.

Da wäre es auch ein vergebenes Unterfangen, den wechselnden Reiz solcher Abende in ein typisches Gemälde fassen zu wollen. Ich muß an einen bestimmten Abend denken – etwa an den letzten, den ich droben in den Bergen verbrachte.

Ich weilte damals seit einer Woche auf der „Herrenroint-Hütte“, die auf einem weit in das Königsseeer Thal hinaus gebauten Vorberg des Watzmann gelegen ist. Abend für Abend hatte ich vergeblich des guten Hirsches gewartet, der über dem „Kaltenkeller-Schlag“ in einer steilen Dickung seinen Standort hatte. Nun war’s am 10. August. Während des Vormittags war ein Gewitter über die Berge hingegangen, ohne recht zum Ausbruch zu kommen. Aus den im Kreise treibenden Wolken rieselte den ganzen Tag hindurch ein dünner Regen nieder. Schon gab ich den Abend für verloren; doch unerwartet, gegen sechs Uhr, ließ der Regen nach, die Wolken klüfteten sich, und mit goldigen Strahlen spielte die sinkende Sonne über den Berghang. In rosigster Laune und in dem sicheren Erwarten, daß die Eigenart des Abends den Hirsch für heute zu zeitlicherem Auszug veranlassen würde, suchte ich gegen sieben Uhr auf dem nur wenige Minuten von der Hütte entfernten Schlage mein altes Plätzchen auf. Das lag auf dem Abhang eines kleinen, den weiten Schlag beherrschenden Hügels. Eine weiche Moosplatte diente mir zum Sitze, während ein schräger Felsblock eine bequeme Lehne bot. Hoch emporgeschossene Gräser, ein junges Fichtenböschlein und niedere, schwach belaubte Ahornstämmchen, die mir zu Füßen aus dem steinigen Grunde stiegen, gaben mir gute Deckung, ohne den Ausblick zu hemmen. Auch der Wind ließ nichts zu wünschen übrig – scharf zog er über die steile Dickung nieder. Mit sachten Bewegungen richtete ich mich in jägermäßigem Sinne häuslich ein. Ich zog das Fernrohr auf und lehnte es wider den Felsblock; den Bergstock schob ich senkrecht vor mir in die Steine, um ihn als Stütze des Fernrohrs gleich parat zu haben; das kleine Doppelglas, das in der Dämmerung, wenn dem Fernrohr das Licht schon ausgegangen, noch gute Dienste thut, steckte ich lose in die rechte Joppentasche und legte die Büchse in Bereitschaft über die Kniee. Dann kreuzte ich die Arme und schickte die Augen auf die Reise.

Tiefer Schatten lag schon über dem weiten Schlag und der steilen Dickung, über deren höchste Wipfel der schroffe Riesenzacken des Watzmann, noch sonnenbeschienen, majestätisch niederblickte. Graue, vielgestaltige Schattenbilder überhuschten seine Wände, wenn die leichten Nebel oder die schweren, von goldenen Tönen behauchten Wolken im Winde über seine Zinne trieben. In jagender Eile überflog das zerrissene Gewölk den mir zur Rechten in unsichtbarer Tiefe liegenden Königssee und mischte sich in die wogenden Nebelmassen, die alle Kuppen der jenseitigen Berge

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 379. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_379.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)