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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

brachen darüber hin; in den Blöcken und Tauen der Takelung heulte der wachsende Sturm und rüttelte wüthend an allem Festgefügten. Dazu stürzte Regen herab und die von rasender Gewalt geschleuderten Tropfen verursachten brennenden Schmerz auf den getroffenen Hautstellen.

Eine einzige bleifarbene Masse ist der Himmel; und das Meer, in rasender Wuth lebendig geworden, wird durch den Sturm mit dem Himmel zu einem Ganzen vereinigt. Menschensinne vermögen nichts mehr zu unterscheiden. Der Schrecken waltet.

Der Kapitän hatte die Mannschaft auf das Hinterdeck beordert, unter dem Schutz des Schanzkleides krochen die Leute an Deck entlang, um in die Nähe ihres Führers und Meisters zu gelangen, der durch geflissentlich zur Schau getragene Zuversicht ihre Hoffnung wach erhielt. Walter Iversen aber suchte die Frauen in der Kajüte auf. Die Malayinnen lagen, das Gesicht nach unten gekehrt, platt auf dem Boden in der am tiefsten liegenden Ecke; Ellen Howard aber – o Wunder! – hatte ihre weißen Arme krampfhaft um den Hals des armen Jim, des verachteten Chinesen, geschlungen. Der gute Bursche hielt sich und seine Last mit festgestemmten Füßen aufrecht; sorgsam und doch in scheuer Ehrfurcht glitt seine Hand tröstend über den Scheitel der geängstigten Frau.

Nahe genug gekommen, suchte der Deutsche Ellens Finger von dem Nacken des Chinesen zu lösen – ein Angstschrei brach von ihren Lippen, so gellend, daß er selbst das Krachen und Toben übertönte.

„Du armes Weib,“ flüsterte Iversen. Und nun nahm er sie in seine Arme, trug sie zu dem die Kajüte durchschneidenden Besanmast und suchte sie an diesen mittels eines von Jim geforderten Stückes Zeug festzubinden. Das sollte aber nicht so leicht gehen. Waren inzwischen oben an Deck schlimme Verwüstungen angerichtet, war das mit Ketten durch die Speigaten befestigte Schanzkleid fortgerissen, das Querschott der Back weggeschlagen, und war bereits über Bord geschwemmt worden, was an und unter der Back sich befand, so drückte jetzt eine ungeheure Welle die Steuerbordseite der Kajüte ein und – das Meer hatte den Weg in die Kajüte frei. Im Nu stand sie unter Wasser; tausend Gegenstände, Möbel, Kleider, Instrumente, schwammen in tollem Wirbel darin umher, bis eine neue See die Dinge hinausstieß.

In dem Einsturz der Kajüte verhallte ein zweiter Schreckensschrei; mit dem Ausdruck des Wahnsinns stierte Ellen in das Chaos. Walter Iversen aber nahm die Frau auf seine Arme und schleppte sie, von neuen Güssen überstürzt, aus dem Gewirr heraus auf die nach oben führende Treppe. Jim, die beiden Mädchen schleifend, folgte seinem Herrn. Auf der Treppe kauerten sie nieder. Ellens Gesicht ruhte an Walters Brust. Unter ihnen wogte ein Meer, die Wellen räumten aus; über ihnen ein Meer; rundum Meer, Brausen, Kreischen, Toben – Vernichtung.

„Sterben, sterben!“ schrie Ellen und warf die Arme in die Höhe.

„Nicht sterben, wir leben und werden leben.“

Das sprach eine ruhige Stimme. Sie fühlte den Hauch eines Mundes an ihrem Ohr, sie hörte Himmelsbotschaft. Und als müßte sie sich überzeugen, von wo der Ton gekommen, so fragend ernsthaft schaute sie in das dicht über sie gebeugte Mannesgesicht.

Walter Iversen war ruhig, keine Spur von Furcht; wahrlich, er lächelte, und doch – horch – im wüthenden Chaos ein neuer Ton, ein Brechen und Knattern wie Gewehrfeuer, ihr Blick fragt wieder: „müssen wir sterben?“ und doppelt fest klammert sie sich an ihren Beschützer.

„Da brach ein Mast,“ sagt Walter Iversen und lächelt ebenso ruhig wie vorhin und drückt die zarte Frauengestalt an sich. Jim und die braunen Dirnen murmeln Gebete. Von der Wucht des Orkans fest ins Wasser gedrückt, zittert jetzt das Schiff wie im Todeskampfe; die Salzfluth, zu Gischt gepeitscht, stürzt darüber hin – es ist nicht mehr zu erkennen, was Wolken sind und was Meer ist. Der Vernichtung, dem Verderben ist jedes Atom der Schöpfung geweiht.

„Fürchtest Du Dich nicht?“ kreischt Ellen bei einem neuen Wuthausbruch des Schrecknisses.

„Nein!“

„Warum fürchtest Du Dich nicht?“ begehrt sie zu wissen wie ein angstgefoltertes Kind.

„Weil ich die Natur verstehe.“

„Sie ist furchtbar, furchtbar!“ schreit das arme Weib wieder auf.

„Lerne sie verstehen und Du wirst sie lieben.“

„Liebe! Liebe! Ich habe Dich lieb! Verlaß mich nicht!“ wimmert Ellen leise, und Walter preßt sie fest in seine Arme und drückt auf ihre feuchtkalte Stirn einen Kuß.

In ungeheuren Haufen stürzte der Seegang von allen Seiten über das Schiff. Die Reeling in Lee lag vollständig unter Wasser. Reservehölzer, Boote, Fässer – alles war zerschlagen oder weggerissen, der Fockmast bereits preisgegeben und jetzt mußte auch der Großmast gekappt werden, um die Gefahr des Kenterns zu erschweren. An einer Seite wurden Wanten und stützendes Tauwerk des Mastes durchgehauen; kaum waren einige Stützpunkte hiermit hinweggeräumt, als der riesige, aus eisernen Röhren bestehende Mast wie ein Spielzeug in der Faust des Taifuns dicht über Deck abbrach; im wirren Durcheinander riß er nicht nur Tauwerk, Stengen und Hölzer mit hinab, sondern zerschmetterte auch das letzte Boot und schlug in die Deckplanken ein großes Loch. Dreißig Hände zugleich kämpften gegen die wüthenden Elemente, um den „Wotan“ von Wrackstücken zu befreien, die schlagend und scheuernd das Schiff zum Sinken reif machen mußten; die klaffenden Lücken des Mastabbruchs mußten schleunigst gestopft werden. Die Männer kämpften wie Ein Mann. Was that es, daß zwei Matrosen, von stürzenden Stücken getroffen, erschlagen und von der nächsten See hinweggespült wurden? Walter Iversen und Jim traten an ihre Stelle. Die Frauen, jetzt auch festgebunden, daß keine mehr als die Arme bewegen konnte, hatten das Schauspiel vor Augen: Menschenkraft gegen Naturgewalt.

Der Orkan hatte seinen Höhepunkt erreicht …

Nach vierundzwanzig Stunden ein anderes Bild. Mit ebenso kluger wie sicherer Berechnung hatte der Kapitän dem Centrum des Wirbelsturmes auszuweichen gewußt. Der „Wotan“, ein mastenloses Wrack, aber noch steuerbar, schwamm unter der indischen Sonne. Friedlich, in lächelnder Bläue athmete das Meer; das unglückliche Schiff glich einem mächtigen, kahlen Sarg, der schwerfällig schaukelnd im seltsamen Gegensatz zu dem heiteren Meeresfrieden stand. Auf dem schaukelnden Sarg befand sich ein Häuflein Menschen. Aber nicht in unthätiger Verzweiflung, sondern im Frohgefühl neuen Lebens bei frischer Arbeit. Da wurden Planken angenagelt und Löcher verstopft, an den Pumpen geschafft und die Kajüte gesäubert, und der Kapitän war vorn und hinten und überall zu gleicher Zeit, hier anfeuernd, dort lobend. Mitten unter den Matrosen befanden sich auch Walter Iversen und Jim, der Chinese, mit Nägeln und Werkzeug in den Händen; ihre Hammerschläge schallten nicht minder kräftig als die der andern. Die Noth und der Tod machen alle Menschen gleich; da kommt die wahre Brüderschaft zum Ausdruck. Einige von den Matrosen lagen freilich arbeitsunfähig mit gebrochenen oder zerschmetterten Gliedern darnieder; zu diesen gehörte auch der Obersteuermann. Des Kapitäns erste Aufgabe war es, diesen Unglücklichen Hilfe zu bringen. Mit dem primitivsten Verbandzeug ging er von einem zum andern, die zum Theil schrecklichen Verletzungen zu verbinden, die Qualen der Leute zu mildern. Dabei hatte er den schönsten, nein den besten, liebevollsten Beistand: Ellen Howard. Woher hatte die Frau diese Kenntniß der Krankenpflege? Sie schauderte nicht vor Blut, sie hielt sicheren Griffs den gebrochenen Arm oder den zermalmten Fuß. Sie netzte die Stirn eines Ohnmächtigen und bettete das wunde Haupt eines andern in ihren Schoß. O wunderschöne Menschenliebe, die sich nicht genug thun kann!

Frau Ellens blasses Gesicht ward selbst infolge der großen Anstrengung von Schatten der Ohnmacht überflogen; sie drohte der Anstrengung zu erliegen. Vorsichtig führte der Kapitän sie nach einem geschützten Plätzchen und ging dann, um Walter Iversen zu rufen.

„ Gehen Sie zu ihr, das ist ein herrliches Weib.“

Walter fand bereits ihre Dienerinnen um sie beschäftigt. Sie schlug die Augen auf und schickte dieselben fort, um mit ihm allein zu sein. Noch zauderte er, die sich ihm entgegenstreckende Hand zu erfassen.

„Verschmähst Du mich?“ rief Ellen erglühend. Da sank er vor ihr nieder und rief:

„Wie konnte es nur geschehen?“

„Ich habe fürchten und lieben gelernt!“ flüsterte Ellen.

„Hoi ho! Hoi ho! Schiff in Sicht!“ ruft eine Stimme und von einem Dutzend Männerstimmen schallt der Gesang über das blaue Meer: „Nun danket alle Gott!“



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