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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Die Herzogin hatte einen neuen Blutsturz gehabt in Cannes; sie wollte nur noch Eins – ihre Kinder wiedersehen und Verschiedenes ordnen vor ihrem Sterben. Die kleinen Prinzen waren daheim geblieben, sie sollten der Mutter nicht zuviel Unruhe machen; der Arzt hatte es so gewünscht, obgleich sie dagegen gekämpft. „Herr Doktor, ich sterbe ja vor Sehnsucht!“

Die alte Hoheit schüttelte nur immer leise das greise Haupt, während sie dies alles erzählte: „Es ist hart, es ist so besonders hart für Adalbert; sie hatten sich ganz und vollständig gefunden; sie waren auf dem besten Wege, ein glückliches Paar zu werden. Er schreibt so liebevoll von ihr, und nun?“ Sie seufzte; – „Gott mag wissen, was man noch alles erlebt!“

Die Herrschaften hatten sich jeden Empfang verbeten, aber die alte Hoheit wollte doch mit dem Erbprinzen hinunterfahren zum Bahnhof und befahl, Claudine möge sie begleiten. Gegen zwei Uhr fuhren sie den Schloßberg hinab; ein trüber Novemberhimmel hing über der Stadt und sandte große dicke Schneeflocken hernieder. Aber trotz des schlechten Wetters standen Hunderte von Menschen in der Straße, die zum Bahnhof führt.

Der Landauer der Herzogin hielt dicht vor der Rampe des fürstlichen Wartezimmers; die Polizei bemühte sich, der Menge zu wehren, die sich stumm herzudrängte. Alle standen denn auch ruhig in weitem Bogen um die Equipagen. Auf dem Perron befanden sich einige Herren; der Schnellzug, der die herzogliche Familie bringen sollte, war bereits signalisirt. Endlich brausten die Wagen unter die Halle, es entwickelte sich plötzlich ein buntes Treiben auf dem Perron. Der Herzog war zuerst ausgestiegen; er küßte seiner alten Mutter die Hand; dann hob er selbst die leidende Gemahlin aus dem Wagen. Aller Augen waren auf ihr bleiches schmales Antlitz gerichtet, dessen große Augen den Erbprinzen suchten. Sie umarmte die alte Herzogin und küßte ihr Kind mit einem traurigen Lächeln. „Da bin ich wieder,“ flüsterte sie matt. Kaum vermochte sie die paar Schritte zum Wartezimmer zu gehen; der Erbprinz und der Herzog stützten sie; freundlich, müde erwiderte sie die Grüße. Prinzeß Helene und ihre Hofdame, Frau von Katzenstein und die Kammerfrau, die Herren vom Gefolge, alle hasteten durch einander.

Als sie Claudine sah, zuckte es in ihrem Gesicht; sie winkte mit der Hand und deutete auf den Wagen.

Das schöne Mädchen eilte hinüber. „Hoheit,“ stammelte sie ergriffen und beugte sich über die Hand der Herzogin.

„Komm, Dina!“ flüsterte diese, „fahr’ mit mir; und Du, mein Herz,“ wandte sie sich an den Erbprinzen. „Adalbert wird mit Mama fahren.“ Und als man sie in den Wagen gehoben, sagte sie, während sie durch die schweigende ehrfuchtsvoll grüßende Menge fuhr: „Grüße, mein Kind, grüße sehr freundlich; die Leute wissen alle, wie krank ich bin.“

Sie selbst bog sich mit Anstrengung ein wenig vor und wehte matt mit dem weißen Tuche.

„Das letzte Mal! Das letzte Mal!“ murmelte sie. Dann faßte sie des Mädchens Hand. „Wie gut, daß Du da bist!“ – Oben am Portale entließ sie die Freundin. „Wenn ich geruht, so lasse ich Dich rufen, Dina.“

Claudine suchte ihr stilles Zimmer auf und schaute in den winterlichen Schloßhof hinab, der plötzlich das Gepräge der Einsamkeit verloren hatte. Equipagen fuhren ab und zu; die Wache zog auf und die großen Gepäckwagen kamen langsam den Berg herauf. Dort unten läuteten die Glocken der Marienkirche, vielleicht zu einer Hochzeit; hier und da blitzten schon Lichter auf, trotz der frühen Nachmittagsstunde, und es schneite, schneite immerzu.

Stunden vergingen. Man servirte Claudine den Thee in ihrem Zimmer. Sie betrachtete, in einem Fauteuil sitzend, das zuckende blaue Flämmchen unter der Maschine und dachte an Lothar und wie er ihr seine Einsamkeit und Sehnsucht auf dem verlassenen Schlosse in Sachsen geschildert. O ja, es ist schwer, sehr schwer, allein zu sein mit den marternden Gedanken, der schrecklichen Ungewißheit. Ungewißheit? Sie war fast zornig auf sich; ach Gott, sie wußte es so nur zu gewiß!

Prinzessin Helene hatte gut ausgesehen, ihr Gesicht hatte einen etwas anderen, günstigeren Ausdruck gezeigt. Das Leidenschaftliche, Unruhige war von ihr gewichen – sie hatte wohl Hoffnung, gegründete Hoffnung!

Was wollte nur die Herzogin von ihr selbst? Ach, es war ja klar! Sie würde, nachdem sie Lothars Antwort erhalten, zu ihr sagen: „Claudine, sei großmüthig, gieb Du ihm sein Wort zurück! Er fühlt sich gebunden.“

Freilich, das wußte sie, er würde die Verlobung nicht lösen, nie! Er war auf ihre Großmuth angewiesen. Ein heißer leidenschaftlicher Trotz erfüllte sie. „Und wenn ich jetzt nicht will? Und wenn ich lieber elend an seiner Seite werden will, als elend ohne ihn? Wer kann mich hindern?“ Sie schüttelte den Kopf. „O nimmermehr! Nein!“

Die altmodische Uhr auf der Spiegelkonsole schlug Neun. Heute war die Herzogin sicher zu angegriffen gewesen; es war wohl keine Hoffnung mehr, sie zu sehen. Es fror sie plötzlich in dem dunklen Zimmer; das Flämmchen unter dem Kessel war längst erloschen; im Kamin glühte nur noch ein schwacher rother Schein. Sie begann umherzuwandern; bis zehn Uhr wollte sie noch warten, dann zur Ruhe gehen. Vielleicht konnte man ja schlafen. Aber gegen zehn Uhr kam doch die Kammerfrau und beschied sie hinunter.

Sie ging die Korridore entlang und über verschiedene Treppen und Treppchen, bis sie in das wohldurchwärmte und hellerleuchtete Vestibül gelangte, vor den Gemächern Ihrer Hoheit. Sie war früher selten hier gewesen; bei den Festlichkeiten, die im Schlosse stattfanden, hatte sie die Herzogin-Mutter immer nur in die Prunksäle begleitet, und die kleinen Gesellschaftsabende in den Salons Ihrer Hoheit zu vermeiden gesucht. Aber sie empfand auch heute wieder den eigenthümlichen Zauber dieser prächtigen Räume. Ueberall dieses satte Roth auf Wänden, Teppichen und Vorhängen, überall das gedämpfte Licht röthlich verschleierter Ampeln und Lampen, überall Gruppen üppiger exotischer Pflanzen, und überall prächtige farbenglühende Gemälde in breiten funkelnden Goldrahmen.

„Krankhaft! fieberhaft wie der Geist, der diese Räume bewohnt,“ hatte einst Se. Hoheit gesagt, der, an die raue Waldluft gewöhnt, in dieser schweren duftdurchhauchten Atmosphäre zu ersticken gemeint. Es lag etwas Wahres darin. Ein heißes Verlangen, die arme Wirklichkeit zu verschönern, die Sehnsucht nach Leben und Glück sprach sich aus in dieser den Gemächern eines Feenschlosses gleichenden Umgebung.

Die Herzogin lag in ihrem Schlafzimmer, in dem niedrigen, mit schweren rothen Vorhängen umgebenen Bette, deren Falten oben am Plafond ein vergoldeter Adler in seinen Krallen hielt. Auch hier eine röthliche Beleuchtung, die das bleiche Gesicht mit trügerischen Rosen überhauchte.

„Es ist spät, Dina,“ sagte die Kranke mit verschleierter Stimme; „aber ich kann nicht schlafen, fast nie mehr, und ich kann nicht allein sein, ich fürchte mich. Ich habe nur darum einen Vorhang des Bettes so legen lassen, daß ich die Thür nicht sehe. Mich erfaßt mitunter eine unerklärliche Angst, es möchte irgend etwas Schreckliches über die Schwelle kommen, unser Hausgespenst, die weiße Frau, die mir melden will, was ich so schon weiß: daß ich sterben muß. Lache mich nicht aus, Dina; ich lag sonst so gern im Dunkeln. Erzähle, Claudine, erzähle mir alles; ich meine, oft wird es nicht mehr sein, daß ich Dir zuhören kann. Wie erging es Dir, Dina? Sprich!“

Claudine meinte, sie müsse hinauseilen aus diesem reichen Zimmer mit seinem vergoldeten Plafond und dem betäubenden Maiblumenduft, der vom Wintergarten herüberzog.

„Mir geht es gut, Elisabeth, ich bin nur traurig, daß Du leidest,“ sagte sie und nahm Platz zur Seite des Bettes.

„Claudine,“ begann die Kranke, „ich habe noch so vielerlei zu schreiben und zu ordnen, und wenn erst mein Vater hier ist und meine Schwester – sie werden bald eintreffen – und wenn ich die Angst wieder bekomme, die erstickende Angst, dann ist’s zu spät. Hilf mir ein wenig dabei.“

„Elisabeth, Du regst Dich unnöthig auf.“

„Nein, o nein; ich bitte Dich, Dina!“ Und sie wandte ihr abgemagertes Gesicht um und blickte das Mädchen an mit den großen glänzenden Augen, als wollte sie in das Herz der Freundin schauen. „Du bist eine so seltsame Braut, Claudine,“ begann sie nach einer Weile flüsternd, „und seltsam ist auch Euer Brautstand. Er dort, Du da. Claudine – gestehe, es war ein frommes Opfer von Dir, als Du Deine Hand verschenktest an jenem gräßlichen Tage! Sprich, Claudine, Du liebst ihn nicht?“

Mit wahrhaft verzehrender Angst hingen ihre Blicke an dem blassen Antlitz des Mädchens.

„Elisabeth,“ sagte dieses nach einer Pause und legte die Hände auf ihre Brust. „Ich liebe Lothar, ich habe ihn geliebt,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 398. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_398.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2016)