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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

berufenen Frau noch besonders gewürztes Mahl, und verließen hierauf gegen Sonnenuntergang den auch geschichtlich merkwürdigen Ort.

Tschukutschak ist dieselbe Stadt, welche im Jahre 1867 nach langwieriger Belagerung den Dunganen, einem mongolischen, aber dem Islam ergebenen, gegen die chinesische Oberherrschaft in beständigem Aufruhr stehenden Volksstamme, in die Hände fiel, mit Mann und Maus vernichtet und der Erde gleich gemacht wurde.

Von den dreißigtausend Einwohnern, welche Tschukutschak kurz vorher gezählt haben soll, war über ein Drittel geflohen, der Rest aber, durch wiederholt abgeschlagene Stürme sicher gemacht, zu seinem Verderben geblieben. Als den Dunganen der letzte Sturm gelang, hausten sie mit derselben Grausamkeit und Unmenschlichkeit, welche die Chinesen ihnen gegenüber bethätigt hatten. Was nicht dem Schwerte verfiel, wurde vom Feuer vernichtet.

Als unser bisheriger Reisegeleiter, Oberst Friedrichs, vierzehn Tage später die Stätte besuchte, auf welcher Tschukutschak gestanden, kräuselte keine Rauchwolke mehr um die verkohlten Firsten. Wölfe und Hunde, die Bäuche geschwellt vom Fraße an menschlichen Leibern, schlichen, beutesatt, vor ihm davon oder ließen sich in ihrem eklen Mahle nicht stören und nagten weiter an dem Gebein ihrer früheren Gebieter; Adler, Milane, Raben und Krähen theilten mit ihnen den Schmaus. Wo man Raum hatte schaffen müssen, waren die Leichen auf Haufen geworfen worden, Dutzende, Hunderte über einander; in den übrigen Stadttheilen, in den Straßen, Hofräumen, Häusern, lagen sie einzeln, zu zweien, zu zehn, Gatte und Gattin, Urahne, Großmutter, Mutter und Kind, Familien und nach Rettung geflüchtete Nachbarn neben einander, die Stirnen zerklafft von Schwerthieben, die Gesichter zerfetzt, verbrannt, die Glieder vom Zahne der Hunde und Wölfe benagt, zerrissen, die Leiber ohne Köpfe, ohne Hände. Was die tollste Einbildung an Greueln ersinnen kann, fand das entsetzt umherirrende Auge hier verwirklicht.

Zur Zeit unserer Anwesenheit zählte Tschukutschak höchstens tausend Einwohner; die neu aufgebaute zinnengekrönte Festung stand tatsächlich unter dem Schutze des kleinen russischen Pikets in Bakti.

Unter Führung des Major Tichanoff und seiner dreißig Kosaken durchzogen wir das Thal des Emil, ohne einen Dunganen zu sehen zu bekommen, ohne auf tagelangen Wanderungen Menschen zu begegnen. Der Emil fließt, vom Saur herkommend, zwischen dem Tarabagatai und Semistau, zwei in spitzigem Winkel zusammenstoßenden Hochgebirgsketten, dahin, von beiden Seiten her zahllose Bächlein in sich aufnehmend. Die Bewässerungskunst der Chinesen hatte, alle Wasseradern benutzend, aus dem ganzen Thale einen fruchtbaren Garten geschaffen, als die Dunganen hereinbrachen und diesen Garten verwüsteten und der Steppe, welcher jene ihn entrungen, wieder übergaben. Wohl durchritten wir in der Nähe der Stadt noch kleine Dörfer, stießen auch auf einen Aul der Kalmücken, dann aber nur noch auf die Trümmer früheren Besitzes und Wohlstandes, früherer Betriebsamkeit des Menschen.

Ueber die Felder hat die Natur selbst mit milder Hand einen Schleier gebreitet; aber die noch nicht dem Sturme, dem Wetter erlegenen Trümmer der Dörfer klagen zum Himmel. Besucht man solche Dörfer, so treten die Greuel vergangener Tage mit erschreckender Klarheit vor Augen. Zwischen verödeten Mauern, deren Dächer verbrannt und deren Giebel halb oder gänzlich eingefallen sind, auf dem modernden Schutt, aus welchem geile Giftpilze aufschießen, Reste von chinesischem Porzellan und halbverkohlten, deshalb auch erhaltenen Einrichtungsgegenständen umherliegen, stößt man überall auf menschliches Gebein, zertrümmerte Schädel, vom Zahne der Raubthiere zersplitterte Knochen, vermischt mit einzelnen Theilen des Gerippes der Hausthiere, insbesondere des Hundes. Die Schädel zeigen noch heute die Spuren der scharfen Klingen, welche sie zertrümmerten, der Axthiebe, welche sie zerschmetterten. Die Menschen verfielen der Wuth der mordenden Feinde und die Hunde theilten das Schicksal ihrer Herren, zu deren Schutze sie jenen sich gestellt haben mochten; die übrigen Hausthiere aber wurden weggetrieben, geraubt wie alles werthvolle Besitzthum der Erschlagenen, die augenblicklich werthlosen Gegenstände endlich zerstückelt und verbrannt. Bloß zwei halbwilde Hausthiere sind den Trümmern noch geblieben: die Schwalbe und der Sperling; an Stelle der übrigen haben sich die Vögel der Ruinen eingefunden und eingenistet.

Wir zogen einsam durch das verödete Thal. Kein Dungane ließ sich blicken; denn hinter unseren dreißig Kosaken stand das große mächtige Rußland. Als wir wiederum auf Menschen stießen, fanden wir, daß es russische Kirgisen waren, welche hier in China ihre Herden weideten, ihre Felder bebauten und für einen ihrer Todten ein Grabmal errichteten.

Vom Thale des Emil aus überstiegen wir den Tarabagatai, an einer der niedrigsten Stellen des Gebirgskammes, stiegen dann auf die von ihm, dem Saur, Manrak, Terserik, Mustau und Urkaschar umgebene, ungefähr 1600 Meter über dem Meere liegende, fast ebene Hochfläche Tschilikti hinab, überquerten sie, mehrere ungemein große Kurgane oder Grabhügel der Eingeborenen berührend, und suchten uns dann in dem unendlich zerrissenen Manrakgebirge schlangenartig sich windende Thäler, um nach der Ebene von Saisan und dem erst seit vier Jahren bestehenden Grenzposten gleichen Namens, einem freundlichen Städtchen, zu gelangen. Hier, hart an der chinesisch-russischen Grenze, umgab uns seit Lepsa wieder einmal europäische Bequemlichkeit und Behaglichkeit. In den Gesellschaften, denen wir beiwohnten, verkehrte man wie in Petersburg oder Berlin: man unterhielt sich, spielte, sang und tanzte im engeren Familienkreise wie in einem öffentlichen Garten. Köstlich schlagende Sprosser begleiteten Tanz und Gesänge: man vergaß, wo man sich befand.

Ich benutzte die Zeit unseres Aufenthaltes zu einer Jagd auf Ullare, Hochgebirgshühner in Rebhuhngestalt, aber von der Größe des Auerhuhnes, und lernte dabei nicht allein die Wildheit des Manrakgebirges, sondern auch das Hirten- und Herdenleben ärmerer Kirgisen von einer für mich neuen Seite kennen, kehrte daher in hohem Grade befriedigt von meinem erfolgreichen Ausfluge zurück.

Am Nachmittage des 31. Mai bestiegen wir unsere Reisewagen wieder und rollten dem Schwarzen Irtisch zu, um ein uns vom General Poltorattski im Altaigebirge gegebenes Stelldichein nicht zu verfehlen. Durch reiches Steppenland, über kohlschwarze Erde, später durch trockenere Hochsteppen ging die rasche Fahrt bis zum Strome, dessen hochgehende Wellen uns am nächsten Tage dem Saisansee zuführten. So langweilig uns bisher alle Flüsse und Ströme Sibiriens erschienen waren, der Schwarze Irtisch war es nicht; denn köstliche Fernsichten auf zwei gewaltige Hochgebirge, Saur und Altai und die damit zusammenhängenden Ketten, entzückten, ein frischgrüner Ufersaum mit Vogelfang und heiterem Vogelleben erquickten das Auge. Ein rasch ausgeworfenes Netz förderte in reicher Menge köstliche Fische ans Licht und bewies uns, daß der Strom ebenso reich wie schön ist. Nachdem wir am 2. Juni den flachen und trüben, überaus fischreichen, aber nur durch die von ihm aus sich bietenden Fernsichten anziehenden See überfahren hatten, durchzogen wir am nächsten Tage den ödesten Theil der Steppe, welcher uns bisher zu Gesicht gekommen, lernten aber gerade hier drei der bemerkenswerthesten Steppenthiere kennen: den Kulan, ein Wildpferd; die Steppenantilope und das Fausthuhn. Vom erstgenannten wurde durch unsere Kirgisen ein Füllen gefangen, von letzterem ein Stück erlegt. Abends rasteten wir in den Vorbergen des Altai; am nächsten Tage trafen wir am bestimmten Orte mit den früheren Gastfreunden zusammen und ritten fortan unter ihrem Geleite weiter.

Es war eine köstliche Reise, ob auch Sturm, Schnee und Regen nur allzu oft uns umtobten und die freundliche Jurte, hier mit uns wandernd, dann einen guten Theil ihrer Behaglichkeit verlor, ob auch Wildwässer unsere Pfade sperrten und zur rauschenden Tiefe jach abstürzende Gehänge sie in Wege verwandelten, wie sie bei uns zu Lande wohl der Gemsjäger, nicht aber der Reiter zieht. Ein russischer Gouverneur reist nicht wie andere Sterbliche, am allerwenigsten dann, wenn er durch unbewohnte Gegenden seinen Weg nimmt. Mit ihm ziehen die Kreishauptleute und die unter diesen stehenden Amtsvorsteher, Gemeindeältesten und Gemeindeschreiber, die vornehmen und angesehenen Männer der ganzen Gegend, welche er zu besuchen gedenkt, ein Trupp Kosaken und deren Offiziere, bis zum Obersten hinauf, die eigenen und die Diener der Geleitgebenden etc. Und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 419. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_419.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2016)