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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

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Vom Nordpol bis zum Aequator.
Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Alfred Edmund Brehm.
Eine Reise nach Sibirien.
(Schluß.)

Schon vor Barnaul hatten wir den Ob erreicht, bei Barnaul ihn überschritten; in Tomsk schifften wir uns ein, um ihn zu befahren. 2600 Werst, fast 400 geographische Meilen, schwammen wir, nachdem wir durch den Tom in ihn gelangt, abwärts. Gewaltig, überaus großartig ist dieser Strom, so einförmig, so öde er auch genannt werden mag. In einem Thale, dessen Breite von zehn bis dreißig Kilometern wechselt, strömt er dahin, mit unzähligen Armen zahllose Inseln umschließend, zu oft unabsehbaren seeartigen Flächen sich breitend. Kaum durch Lichtungen unterbrochene Urwälder, bis in deren Innerstes noch nicht einmal der eingeborene Mensch vorgedrungen, bekleiden das Gelände seiner wirklichen Ufer; Weidewaldungen in allen Zuständen des Wachsthums dieser Baumart decken die ewig durch die umgestaltenden Fluthen benagten, ihnen verfallenden und von ihnen wiederum neu aufgebauten Inseln. Aermer und ärmer wird das Land, ärmer und dürftiger werden diese Wälder, liederlicher auch die Dörfer, je weiter man stromabwärts kommt, obgleich der Strom, je näher seiner Mündung, desto reichlicher spendet, was das arme Land versagt. An Stelle des Bauers tritt der Fischer und Jäger, an Stelle des Viehzüchters der Renthierhirt. Seltener und seltner werden die russischen Ansiedelungen, häufiger die Wohnsitze der Ostjaken, bis endlich nur noch die beweglichen, kegelförmigen Birkenrindenhütten, hier „Tschum“ genannt, und dazwischen höchstens überaus ärmliche Blockhäuser, die zeitweiligen Wohnsitze der russischen Fischer, von dem Dasein des Menschen Kunde geben.

Wir hatten beschlossen, auch eine Tundra oder Moossteppe zu durchwandern, und deshalb das zwischen dem Ob und dem Karischen Meerbusen gelegene Land der Samojedenhalbinsel ins Auge gefaßt. Behufs dieser Reise mietheten wir in Obdorsk und weiter unten am Strome mehrere Leute, Russen, Syranen, Ostjaken und Samojeden, und traten am 15. Juli unsere Fahrt an.

Auf den nördlichen Höhen des Ural, welcher hier als wirkliches Gebirge, seinem Gepräge nach sogar als Hochgebirge, sich zeigt, entspringen nahe bei einander drei Flüsse, die Ussa, welche der Petschora, die Bodarata, welche dem Karischen Meerbusen, und die Schtschutschja, welche dem Ob zuströmt. Das Gebiet der letztgenannten beiden war es, welches wir bereisen wollten. Wie das Land beschaffen sei, wie es uns ergehen würde, ob wir auf Renthiere hoffen dürften oder den Weg zu Fuß zurücklegen müßten, wußte uns niemand zu sagen.

Bis zur Mündung der Schtschutschja reisten wir noch in gewohnter Weise, bei jeder ostjakischen Ansiedelung unsere gemietheten Ruderer ablohnend und neue annehmend; auf der Schtschutschja selbst traten unsere eigenen Leute in Thätigkeit. Acht Tage lang fuhren wir langsam dem Flusse entgegen, jeder seiner zahllosen Schlangenwindungen getreulich folgend, immer in der überaus eintönigen, ja ertödtend langweiligen Tundra dahin, bald dem Ural uns nähernd, bald wieder von ihm uns entfernend. Acht Tage lang sahen wir keinen Menschen, sondern nur die Spuren desselben, seine auf Schlitten gepackten, für den Winter nöthigen Schätze und seine Grabstätten. Unwegsame Sümpfe zu beiden Seiten des Flusses hemmten jeden weiteren Ausflug, Milliarden blutgieriger Mücken quälten uns unablässig. Am siebenten Tage der Fahrt sahen wir einen Hund – für uns wie für unsere Leute ein Ereigniß; am achten Tage trafen wir auf einen bewohnten Tschum und in ihm den einzigen Menschen, welcher uns über das vor uns liegende Land Auskunft geben konnte. Ihn nahmen wir als Führer mit, und mit ihm traten wir drei Tage später eine Wanderung an, welche ebenso beschwerlich wie gefährlich werden sollte.

Neun volle Tagereisen von uns entfernt, auf dem Weideplatze Saddabei im Ural, sollten sich Renthiere befinden; an der Schtschutschja war zur Zeit kein einziges aufzutreiben. Es blieb uns daher nichts anderes übrig, als die Reise zu Fuß zu beginnen und alle Beschwerlichkeiten und Unannehmlichkeiten einer solchen Wanderung durch ein unwegsames, nahrungsloses, mückenerfülltes, menschenfeindliches und – was das schlimmste – unbekanntes Gebiet auf uns zu nehmen.

Umsichtig, erst nach langen Berathungen unter uns und mit den Eingeborenen wurden die Vorbereitungen bewerkstelligt, sorgfältig die Lasten abgewogen, welche jeder auf seinen Rücken laden sollte; denn drohend stand das Gespenst des Hungers vor uns. Wohl wußten wir, daß nur der Wanderhirt, nicht aber der Jäger im Stande ist, sein Leben zu fristen in der Tundra; wohl kannten wir erfahrungsmäßig alle die Mühseligkeiten, welche der pfadlose Weg, die Qualen, welche das Heer der Mücken bereitet, die Wetterwendigkeit des Himmels, die Unwirthlichkeit der Tundra überhaupt, und trafen danach unsere Vorkehrungen; gegen das aber, was wir nicht kannten, nicht ahnen konnten und was uns dennoch betraf, uns vorzusehen, ihm vorzubeugen, war unmöglich. Umkehren wollten wir nicht; hätten wir voraussehen können, was uns begegnen sollte, wir hätten es doch wohl gethan.

In kurze Pelze gehüllt, schwer belastet, außer dem durch gewichtigen Schießbedarf beschwerten Rucksack noch Gewehr und Reisetäschchen über der Schulter, brachen wir am 29. Juli auf, unser Boot der Obhut zweier Leute überlassend. Mühselig, keuchend unter der unserem Rücken aufgebürdeten Last, ununterbrochen, Tag und Nacht gequält von den Mücken, schritten wir durch die Tundra, nach stündiger, halbstündiger Wanderung, zuletzt nach je tausend Schritten Ruhe heischend und wegen der Mücken kaum sie findend. Zahllose Hügel überstiegen, ebenso viele Thäler überschritten, kaum weniger Sümpfe, Moräste und Brüche durchwateten wir; an hundert namenlosen Seen gingen wir vorüber; Bäche und Flüßchen mußten wir kreuzen. Unfreundlicher, als es geschah, konnte die Tundra uns nicht wohl empfangen. Feinen Regen peitschte der Wind uns ins Gesicht; in den durchnäßten Pelzen legten wir uns auf dem regengetränkten Boden nieder, ohne Obdach über, ohne wärmendes Feuer neben uns, auch jetzt noch immer unablässig gequält von den Mücken. Doch die Sonne trocknete die Kleider wieder, brachte neuen Muth und neue Kraft: es ging vorwärts. Eine freudige Nachricht stärkt mehr als Sonne und Schlaf: unsere Leute entdecken zwei Tschums; unsere Ferngläser zeigen uns deutlich sie umgebende Renthiere. Beglückt im innersten Herzen, sehen wir uns bereits behaglich hingestreckt auf das einzige und allein mögliche Gefährt, den Schlitten, sehen wir vor uns das diesen Schlitten rasch bewegende absonderliche Hirschgespann. Wir erreichen die Tschums, die Renthiere – ein grauenvoller Anblick verletzt das Auge. Unter der geweiheten Herde wüthet der Milzbrand, die fürchterlichste, auch für Menschen gefährlichste aller Viehseuchen der unerbittlichste, ohne Wahl und ohne Gnade vernichtende Todesengel, dessen verderbenbringendem Würgen der Mensch ohnmächtig gegenübersteht, welcher hier zu Lande Völkerschaften verarmen macht und unter den Menschen ebenso unrettbar Opfer fordert wie unter den Thieren.

Sechsundsiebzig todte Renthiere zähle ich in unmittelbarer Nähe der Tschums; wohin das Auge sich wendet, trifft es auf Leichen, auf gefallene, in den letzten Zuckungen liegende Hirsche, Thiere und Kälber. Andere kommen, den Tod im Herzen, zu den bereits zur Abfahrt gerüsteten Schlitten herbeigelaufen, als hofften sie in der Nähe der Menschen Hilfe und Rettung zu finden, lassen sich von hier nicht vertreiben, bleiben mit glotzenden Augen und über einander gekreuzten Vorderläufen eine, zwei Minuten lang stehen, wanken hin und her, stöhnen und fallen um; weißer, blasiger Schaum tritt ihnen vor Maul und Nase – noch einige Zuckungen und ein Leichnam mehr liegt am Boden. Säugende Mutterthiere mit ihren Kälbern trennen sich von der Herde; die Mütter verenden unter gleichen Erscheinungen; die Kälber betrachten neugierig und verwundert die absonderlich sich gebärdenden Mütter oder äsen sich unbesorgt neben dem Sterbelager ihrer Erzeugerinnen, kehren dann zu ihnen zurück, finden anstatt der liebevollen Ernährerin einen Leichnam, beschnuppern diesen, prallen erschreckt zurück, eilen weg, irren blökend umher, beriechen dieses Altthier, nähern sich jenem, werden von allen vertrieben, blöken und suchen weiter, bis sie finden, was sie nicht gesucht: den Tod durch einen Pfeilschuß von der Hand ihres Besitzers,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 447. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_447.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)