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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Im Grunde war ’s doch wieder nur die Liebe zu Hildegard, die mich aus dem Sumpf zog. Allmählich wurde ich ruhiger, wie der Segen der Arbeit an mir kräftig wurde. Ich ging nach Leipzig. Unwiderstehlich zog es mich dahin. In den nicht häufigen Freistunden, die ich mir gönnte, wanderte ich durch die Straßen, jedes Mädchengesicht musternd, das mir in den Weg kam. Vielleicht, vielleicht begegnete sie mir einmal! Der Zettel des Vaters konnte ja nicht ihr Werk sein! Die Leute, bei denen sie wohnte, mußten meinen Brief aufgefangen haben! Daran klammerte ich mich.

So saß ich eines Abends im Zwielicht in einer Konditorei hinter meiner Zeitung. Ich legte sie nieder – da hörte ich mir gegenüber einen leichten Schrei – ich blickte auf: Hildegard stand bleich und lieblich über das Marmortischchen dort gebeugt und blickte mich an! Ich sprang auf, alles um mich her vergessend. "Fräulein Starke, es ist Zeit, daß wir gehen!“ tönte da kurz und herbe die Stimme einer dürren Dame, die neben ihr saß, in dieses Wiedersehen hinein, und ein Blick traf mich, in dem Abscheu und Schrecken sich spiegelte. Da zog sie mit Hildegard ab in eiliger Flucht! Noch ein tieftrauriger Blick aus den großen, blauen Augen, ein kaum merkbares Beugen des Hauptes – und sie war in Nacht und Nebel verschwunden!

Jetzt suchte ich rastlos vom Morgen bis zum Abend – ich wußte es, sie war und blieb mein. Da fand ich eines Tages, als ich müde nach Hause kam, einen Brief auf meinem Tisch. Ihre Hand, ihre Hand! Ein Lesezeichen fiel heraus, ein kleines rothes Seidenband und ein kleiner, flüchtig geschriebener Zettel:

„In der Nacht gearbeitet! Dir zum Andenken! Werde morgen wieder fortgeschickt und weiß nicht wohin! Vergiß mich nicht! Hildegard.“

Und dann sah ich sie nicht wieder und fand keine Spur von ihr, und kein Zeichen des Lebens oder der Liebe kam je wieder an mich.

Was soll ich dir ein Langes und Breites von mir selbst und mir allein erzählen! Ich machte gute, sehr gute Examina, arbeitete bald hier, bald dort und fand überall offene Thüren; aber in mir regte sich stets die Sehnsucht nach meinem verlorenen Lebensglück. Es machte mir alles keine rechte Freude mehr. Manche liebe Blume blühte an meinem Wege, aber ich mochte mich nicht bücken, sie an meine Brust zu stecken. Ich wurde ein einsamer Mensch. Meine Nachforschungen hatte ich zuletzt aufgegeben. Hildegard war wie vom Erdboden verschwunden. Ihr väterliches Heimwesen war aufgelöst worden, nachdem der Vater gestorben, wie es schien unter eigenthümlichen Umständen, über die ich nirgend rechtes Licht erhalten konnte, und die Töchter waren in die Welt hinausgegangen. Wohin? Das brachte ich nicht heraus! So viel wurde mir allmählich klar: Hildegard wollte sich nicht finden lassen. Weshalb nicht? Ja, wenn ich das gewußt hätte!

Die Gesellschaft und die Geselligkeit unserer Kreise ließ mich kalt, wie gesagt, und ich kam nach und nach so etwas in den Ruf eines Sonderlings und Einsamkeitshubers. Oben im dritten Stock eines Hauses der Vorstadt mit herrlicher Aussicht hatte ich mich einquartiert bei einer jungen Witwe, die mit einem reizenden Büblein da still und ehrbar hauste, und um derentwillen ich manche Anspielung und manchen nicht immer zarten Scherz anhören mußte, bis endlich ein an sich ganz harmloser Anlaß denn doch dem Faß den Boden ausstieß. Ich kam eines Tages von einem langen Spaziergang zurück, auf dem mich der Regen überrascht hatte. Und wie ich so zwischen den Weinbergen eilig meiner Behausung zustrebte, sah ich vor mir auf dem einsamen Wege eine Frau in Trauer, ein schreiendes Knäblein auf dem Arme, und im Näherkommen entdeckte ich meine arme junge Sekretärswitwe, wie sie, triefend vom Regen und glühend von der Aufregung und Angst, eilig dahinschritt. Ich habe immer ein Herz gehabt für duldende Menschen. Schnell war ich an ihrer Seite:

„Erlauben Sie, Frau Wald; die Last darf ich Ihnen wenigstens abnehmen!“

„Nein,“ sagte die stattliche, hübsche junge Frau – "Herr Assessor – das geht nicht!“

Aber ihr Athem ging keuchend. Statt aller Antwort nahm ich ihr das Kind aus dem Arme. „So, nun kommen Sie!“

Und so zogen wir selbander unsere Straße, und oben vor unserer gemeinsamen Etagenthür gab ich ihr das Bengelchen zurück. Aus dankbaren Augen sah sie mich an und ging. Und ich freute mich des kleinen guten Werks.

Unangenehm aber empfand ich das Lachen einiger bekannter Herren am Abend, als ich im Schützenhaus mein Bier trank. Die Redensarten wurden allmählich anzüglicher und deutlicher und die vermeintlichen Scherze nahmen schließlich eine Gestalt an, die ich mir nicht gefallen lassen wollte. Ich nahm meinen Hut und wollte gehen. Da hörte ich halblaut ein Wort fallen von einem Gruß, den ich bestellen sollte, so daß ich mich kurz umkehrte und, während das Blut mir stürmend in die Stirn stieg, mit scharfem Schlag die Infamie rächte. Die Folge war ungeheures Aufsehen, ein Duell auf Pistolen, bei dem ich meinen Gegner lahm schoß und selbst verwundet wurde, daß ich sieben Wochen im Lazareth lag; zwei Monat Festung, meine Versetzung nach einem entfernten Gericht und Bekanntwerden meines Namens bis in das kleinste Käseblatt in allen Provinzen. Am Schluß der erbaulichen Artikel hieß es gewöhnlich: "Wie wir erfahren haben, soll ein Liebeshandel die Veranlassung zu der blutigen Affaire gewesen sein.“ Da hauste ich nun nahe der Grenze unter einem rohen Geschlecht – und wurde allmählich müde. Es ist ein böses Ding für einen jungen Mann, wenn er von Erinnerungen leben soll. Und das that ich. Ich hatte für nichts und für niemand zu sorgen, ritt meilenweit ins flache, öde Land hinein und saß abends still zu Haus hinter meinem Theekessel, rauchte meine lange Couleurpfeife und las. Wenn ’s Zehn schlug, klappte ich mein Buch zu und legte das rothe, flüchtig bestickte Seidenband aus Leipzig hinein. – Wäre Feuer bei mir ausgebrochen, hätte ich jedenfalls zuerst nach diesem Bande gegriffen und nach dem schweren, tiefen Goldrahmen über meinem Schreibtisch, der ihr Bild einschloß, auf das ich morgens den ersten und abends den letzten Blick warf. Es war mir schon zur Gewohnheit geworden, und oftmals dachte ich kaum etwas Besonderes dabei; manchmal aber kam auch das alte Weh der stillen holdseligen Studentenlieb’ über mich, daß ich mich aufs Pferd warf und im wilden Jagen in triefendem Regen und stöberndem Schnee durchs Land ritt; aber das Glück, das verlorene, immer wieder lockende, erjagte ich auf keinem Wege. „Und du kannst noch zehn Jahre warten – zehn Jahre sind bald herum!“ hörte ich ihr, Hildegards, leises Singen auf der Bank im Mondschein. – Ja, sie waren jetzt bald herum; aber was wir uns von ihnen versprochen hatten, war nicht in Erfüllung gegangen und ging nicht in Erfüllung. Immer noch zehn Jahre mehr – jetzt mußte Hildegard sechsundzwanzig Jahre alt sein – immer noch zehn Jahre mehr, bis wir beide alt und grau und stumpf geworden? Ja, lebte sie sie denn überhaupt noch? War der süße, blühende Leib nicht gar schon im Grabe vermodert, die Hand, die am meinen Nacken gelegen, verwelkt? Wußte ich es?

Verstimmt wandte ich dann das Pferd und trabte heimwärts. Mir graute manchmal ordentlich vor dem grauen Städtchen, das da im grellen Abendlicht aus der weiten Schneelandschaft vor mir auftauchte, mit seinem Thurm und seinen verfallenen Wällen dunkel und in scharfen Linien sich abhebend von dem goldigen Horizont.

„Hören Sie ’mal, das geht so nicht mit Ihnen!“ redete mich eines Tags der Präsident auf einer Inspizierungsreise an; „wie kann ein junger, frischer Mann sich so einspinnen! Ich will Ihnen etwas sagen: Sie reichen ein Urlaubsgesuch auf sechs Wochen ein; ich schicke Ihnen einen Referendar als Stellvertreter, und Sie fliegen aus – in die Welt, ‚auf die Dörfer,‘ wie man so sagt. Nur keine Redensarten! Ich liebe die alten jungen Herren nicht; wär’ schade um Sie! Also ich erwarte bestimmt Ihr Gesuch, und dann kommen Sie mit einer jungen Frau zurück. Ist nichts mit den Junggesellen. Nur die berühmte junge Witwe nicht! Hoffentlich tragen Sie um die keinen Gram? Na, na, nur nicht so böse aussehen – meine es gut mit Ihnen!“ Damit schüttelte er mir die Hand und ging.

Also ich sollte auf Urlaub! Nun kam die wichtige und schwere Frage: „Wohin?“ Jedenfalls an die See, am den Staub dieser Pußta hier um mich herum, oder richtiger dieser Lehm-Sahara, ’mal gründlich abzuspülen. Aber es mußte ein einsames Seebad sein; wenig Menschen, keine Kurhotels, keine Kellner. Wo gab es das? Ich studirte Specialkarten. Hier war dies nicht, dort jenes nicht, wie es sein sollte; plötzlich haftete mein Auge auf einem Punkte nicht an, sondern vor der Küste. Da war, eine Seemeile vom Strande auf einer einzelnen Klippe, die zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 464. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_464.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)