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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

der deutschen Literaturgeschichte wird einige Zeit hindurch der Vermerk haften, daß einmal in jener Straße Nr. 5 ein Mann wohnte, der zwölf Jahre hindurch von dort aus allerlei Absonderliches in Druck gehen ließ; aber auch das Gerücht wird verhallen und Eine Nacht einmal uns alle bedecken.“

Man hat Wilhelm Raabe oft mit Jean Paul verglichen und in seiner Weltanschauung die Spuren der Schopenhauerschen Philosophie gesucht. Dies wie jenes zeigt, welch hoher Maßstab an den Dichter gelegt wird; sonst aber zeigt es nur, wie unverwüstlich unsere gute deutsche Art ist, alles mit allem zu vergleichen, jedes aus jedem herzuleiten. Es giebt kaum etwas, das unserem heutigen Schauen und Empfinden fremder wäre als der unkünstlerische Geist des Bayreuther Humoristen, und wiederum kaum etwas, das so bis in die geheimste Ader modern wäre wie die Muse Raabes.

Jean Paul kompilirt, Raabe komponirt; Jean Paul sperrt seinen Zettelkasten auf, fügt despotisch zusammen, was er bei verschiedenen Anlässen, in verschiedenen Stimmungen, an Beobachtungen, an Einfällen, an Reflexionen und Eindrücken aufgespeichert, und läßt diese wundersame Mosaik hinausfliegen, wie der Knabe den Drachen, in alle Lüfte, in alle Weiten. Wilhelm Raabe modellirt seine Gestalten, schafft bedächtig an seinen Charakteren, versucht sogar seine bildnerische Kraft, wie meines Wissens niemand vor ihm, an einer Roman-Trilogie – „Der Hungerpastor“, „Abu Telfan“, „Schüdderump“ – welcher nicht ein Charakter, sondern eine Idee als Mittel- und Bindepunkt dient. Bei Jean Paul komponirt der Zufall, bei Raabe das künstlerische Bewußtsein.

„Wir sind am Schlusse,“ sagt er, indem er die Trilogie beendet, „und es war ein langer und mühseliger Weg von der Hungerpfarre an der Ostsee über Abu Telfan im Tumurkinlande und im Schatten des Mondgebirges bis in das Siechenhaus zu Krodebeck am Fuße des alten germanischen Zauberberges.“

So systematisch ist Jean Paul niemals einer künstlerischen Absicht nachgegangen. Nur darin könnte man allenfalls eine Aehnlichkeit erblicken, daß beiden, dem älteren Franken wie dem neueren Niederdeutschen, die Sprache gewaltsam überquillt und bei dem Jüngeren empfindlicher als bei dem Aelteren sich gleichsam neben dem Laufe des Hauptstromes ein Nebenbett gräbt. Das wäre ein Defekt, wenn es nicht ein Humorist wäre, mit dem wir es zu thun haben, so eigenwillig, so frei in seiner Laune, so regellos ist ja nichts wie der Humor, und er muß es sein; wie wollte er sich sonst in jedem Augenblicke zu allem und jedem in jenen wunderlichen Gegensatz stellen können, der sein Wesen ausmacht? Das am meisten Humoristische, was von Börne übriggeblieben, ist eine Trauerrede, diejenige aus Jean Paul; besagt diese Thatsache nicht zur Genüge, daß es keine Gesetze für den Humor giebt außer jenen, die er sich selbst auferlegt? Damit wäre denn freilich ausgesprochen, daß der Humorist sich der Beurtheilung mit festen Maßstäben und nach allgemein recipirten Grundsätzen entziehe, und das könnte leicht als unkritische Ketzerei betrachtet werden. Aber auf alle Gefahr hin bleibt es dabei, daß man den Humoristen nur auf den Eindruck prüfen darf, den man von ihm empfangen, und was mich betrifft, so weiß ich fast nicht zu unterscheiden, was ich in verschiedenen Zeiten bei der Lektüre der verschiedenen Erzählungen Raabes empfunden habe; denn durch einander lag es dabei wie nächtliches Düster und wie heller Sonnenschein über meiner Seele. Nur soviel war mir als klare Wirkung gegenwärtig, daß, um mit Raabes eigenen Worten zu reden, "über den Feldern und Wiesen jenes Flimmern und Zittern lag, welches auch über den Werken der grossen Dichter liegt und überall die Sonne zur Mutter hat.“

Wie aber nur ganz äußerlich von einer Aehnlichkeit zwischen Jean Paul und Wilhelm Raabe gesprochen werden kann, so ist es auch höchst bedenklich, dem Dichter des Hungerpastors die Schopenhauersche Weltanschauung aufzudisputiren. Mehr oder minder ist seit dreißig Jahren jeder gebildete Deutsche ein Schopenhauerianer, der eine bewußt, der andere unbewußt. Es ergeht uns, wie es der Generation vor uns mit Hegel erging. Aber damit ist noch lange nicht gesagt, daß nun auch jeder heutige Dichter von tieferer Weltanschauung auf die Verneinung des Willens zum Leben schwöre, daß er sich ihr als einer bestimmenden Wirkung auf sein künstlerisches Schaffen nicht zu entziehen vermöge. Ganz im Gegentheile, es wäre der Tod aller Poesie, wenn der Frankfurter Philosoph das Orakel unserer Dichter wäre. Es mag sein, daß Wilhelm Raabe, dem von dem Wissen und Denken unserer Zeit nichts fremd geblieben, in die Werke Schopenhauers sich mit Vorliebe vertieft hat, wenn er sein Bedürfniß nach einer systematischen Zusammenfassung seiner philosophischen Anschauungen befriedigen wollte; aber der Humorist wäre er sicherlich nicht geworden, wenn er zugleich sein dichterisches Schaffen an den Abgrund der Verzweiflung gerückt hätte, den der Frankfurter Lebens- und Weltverächter für alle diejenigen eröffnete, denen aus irgend einem Grunde das Unglück sympathischer ist als das Glück. Oder hätte man deshalb, weil einige Novellen und die Roman-Trilogie einer düsteren Lebensanschauung entquollen zu sein scheinen, ein Recht, den Dichter Raabe schlankweg unter die Pessimisten zu weisen? Ist nicht dagegen die überwiegende Mehrzahl seiner Schöpfungen, sind nicht „Horacker“, „Die Gänse von Bützow“, „Keltische Knochen“, „Der Dräumling“ von einer ergreifenden Heiterkeit, die „Krähenfelder Geschichten“ und „Wunnigel“ sogar von einem barock lustigen Ueberschwang, gegen den man bisweilen zu protestiren sich versucht fühlt? Nein, mit der Schablone kommt man diesem Poeten nicht bei; man kann seine Erzählung in der Apotheke „Zum wilden Mann“, einen Stoßseufzer der bittersten Menschenverachtung, als eine Verirrung des Humoristen ablehnen, kann manche seiner Geschichten wegen der überwuchernden Fülle ungehörigen Nebenwerks nach Gebühr tadeln; aber man darf ihm nicht eine kritische Marke anheften, auf der das Wort Pessimist zu lesen, weil er, wie es des Humoristen Amt und Sendung ist, neben den Wonnen des Daseins auch das Elend dieser Welt an seinen Gestalten demonstrirt.

Wir Deutschen können uns nicht beschweren, daß es uns an Humoristen fehle; nur die Engländer besitzen ihrer mehr als wir. Es scheint doch, als ob – von Cervantes und Rabelais abgesehen – der Humor eine specifisch germanische Geistesanlage sei. Aber um so dankbarer und pietätvoller haben wir die köstlichen Gaben derer hinzunehmen, die uns in der langen Reihe von Fischart bis Raabe ihre Reichthümer in den Schoß geschüttet haben. Und wie unerschöpflich sind diese Reichthümer! So fruchtbar wie der Humorist ist ja naturgemäß kein anderer Schriftsteller, schon deshalb, weil nichts so klein und nichts so groß ist, daß es der Humorist nicht in sein Kaleidoskop einfügen dürfte. Vergangenheit und Gegenwart, Weisheit und Narrheit, Gemüth und Geist – wo ein Parallelismus, wo ein Kontrast vorhanden, der Humorist darf sich ohne Rücksicht auf erstarrte oder übliche poetische Formen ihrer bemächtigen; er ist der Nabob auf dem Parnaß. Soviel hat Wilhelm Raabe in dreißig Jahren geschrieben, daß es einen kleinen Katalog ausfüllen würde, wollten wir alle seine Schöpfungen verzeichnen. Und nicht leicht ist es ihm geworden, den Punkt zu erklimmen, von dem aus das deutsche Volk zum ersten Male ihn zu erblicken vermochte. In fünfter Auflage liegt die „Chronik der Sperlingsgasse“, sein Erstlingswerk, vor. Als sie vollendet war, wanderte sie von Verleger zu Verleger; keiner nahm sie an, bis der junge Poet sie für den Preis von fünfzig Thalern auf seine eigenen Kosten drucken ließ. Bücher haben eben ihre Schicksale. Freilich war damals die Nation nicht aufgelegt, dem Humoristen Gehör zu schenken; denn es war eine böse Zeit, die Zeit der Reaktion.

„Es ist eigentlich eine böse Zeit! Das Lachen ist theuer geworden in der Welt, Stirnrunzeln und Seufzen gar wohlfeil“ – mit diesen Worten beginnt Johannes Wachholder seine Erzählung. Aber zehn Jahre später klang es doch ganz anders, selbstbewußter und hoffnungsvoller von Raabes Lippen, als er dasselbige Büchlein in neuer Auflage mit dem Begleitscheine aussendete: “Es soll niemand sein Handwerksgeräth, die Waffen, mit welchen er das Leben bezwingt, in dumpfer Betäubung fallen lassen.“ Seitdem sind wiederum zwanzig Jahre dahingegangen; das deutsche Volk ist so mächtig, so gebietend, so glücklich geworden, daß es fast den Neid der Götter fürchten müßte, wenn es nicht bescheiden in aller Macht das Kleine wie das Große achtete und bei seinen Dichtern, bei seinen Humoristen vor allen andern, täglich lernte sich fern zu halten von dem Uebermuthe, der das Menschenherz verödet wie der Samum die Wüste.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 476. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_476.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)