Seite:Die Gartenlaube (1888) 478.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

allmählich, wie’s dunkler wird, den klaren Wiederschein im Wasser – und über mir taucht nach und nach ungezählter Sterne Flimmern aus der dunkelblauen Himmelstiefe auf; und auch die Sterne werfen zitternde Spiegelbilder in die kaum gewellte Fluth. Die Brandung spült mit lockendem Murmeln zwischen den Klippen. Nur von drüben her schallt ununterbrochen dumpfes Rauschen herüber: die Dünung, die auf den Strand läuft, und die nie, nie stille sein kann. Da klopft es bei mir an, ich fahre herum; Wiebke steht in der Thür und hält hoch in der Rechten die Lampe, daß der Schein voll auf ihr lächelndes Gesicht und auf ihre Schultern fällt, ein Bild zum malen. „Wünschen Sie Licht? Dann müssen Sie aber die Läden vorm Fenster schließen, daß kein zweites Licht neben oder unter dem Reflektor sichtbar ist! Oder möchten Sie zu uns auf ein Stündchen herunterkommen?“

„Nein, Wiebke, nehmen Sie Ihre Lampe nur wieder mit; die prächtige Nachtluft will ich nicht ausschließen, ich komme gleich hinunter. Hier, nehmen Sie meinen Schoppen auch mit; ich trinke nur aus ihm, und er darf keinem andern vorgesetzt werden.“

Wiebke faßt ihn mit der andern Hand und geht; ich trete noch einmal ans Fenster und lehne weit hinaus. Im Westen glüht noch ein schmaler, gelber Streif, tief unten über dem Meer; der hält sich lange. – Glänzt nicht so durch jedes Menschenleben noch eine Hoffnung, ob auch mit schwachem Schein, im Dunkel des einsamen Herzens? Die Hoffnung auf ein Glück, das einst hell über unserem Leben gestrahlt, und das unterging – aber um wieder aufzugehen in neuem, blendendem Glanz? Ob ich dich doch noch einmal treffe, finde, halte, du Glück? Ob mir deiner Augen Schein doch noch einmal leuchtet – Hildegard?

Ich hob das Haupt: „Es soll und muß jetzt anders werden. Kommt das Glück, dann das Herz auf mit all seinen Fenstern und Thüren; aber dies Hängen am Alten, das macht alt. Nordseeluft stärkt – nun laß Dir auch die Seele stärken!“ –

So ging ich tastend die schmale, dunkle, gewundene Treppe hinab. Auf den einen Absatz unter mir schien helles Licht durch eine Thürspalte – die Thür that sich auf, ich sah in Wiebkes Zimmer. Nett und mit einer gewissen Zierlichkeit war’s ausgestattet. „Wir sind Nachbarn,“ sagte sie; „ich bekam eben ordentlich einen Schreck, als ich Ihren tastenden Schritt hörte und dachte nicht an Sie. Unsere Leute gehen mit schweren und sicheren Füßen. Es ist ihnen gewohnter Weg in der Nacht. Gehen Sie voran, ich leuchte Ihnen!“

Sie steckte eine lange, gelöste Flechte auf und schloß den letzten Haken ihres enganliegenden Mieders oben an dem weißen Halse; – der Silberschmuck lag in einem offenen Kästchen aus geschnitztem Sandelholz unter dem Spiegel.

„Wenn Sie meinen Vater aus seiner Ruhe aufrütteln können, dann kann er Ihnen viel Wunderbares und Interessantes aus der Zeit seiner Seefahrten erzählen, das er zu Wasser und zu Land erlebt hat. Sonst ist’s recht still bei uns unten.“

Der Alte, ein biederer, schwerer Obersteuermann, reichte mir mit kurzem, wie ein Knurren klingendem Gruß die ungeheure Flosse. Wie kam sein Töchterlein doch zu so kleinen Händen?

Er ließ sich dann, aus der kurzen Shagpfeife rauchend, in seinem großen Lederlehnstuhl nieder. Die Fenster standen offen, und frische Seeluft strich durch den behaglichen Raum.

Auf einem Regal an der einen Wand stand eine Reihe buntbeklebter Flaschen.

„Wir haben das Recht, an Fremde und Badegäste, wenn sie herüberkommen, auszuschenken,“ erklärte Wiebke. Sie blickte fragend auf den Vater. Er nickte. Sie nahm eine der Portweinflaschen und zwei Gläser und schenkte den bernsteingelben Trank ein. Dann bot sie mir mit freundlichem Blick und Lächeln das eine, das andere dem Vater: „Zum Willkommen!“ sagte sie.

Der Alte hob sein Glas und hielt es ans Licht. „Prost!“ rief er mit tiefer Stimme.

Hell klangen die Gläser zusammen.

Das war lange Zeit das einzige Wort, das Brar Volkers sprach. Nachdenklich und behaglich rauchte er weiter. Wiebke trug mir einen Stuhl herbei, weit genug entfernt von dem Sitz ihres Vaters, daß mir die scharfduftenden Wolken seines Tabaks nicht unmittelbar ins Gesicht wehten, und dann stellte sie meinen Schoppen voll schäumenden Bieres vor mich auf den Tisch. Alles stand ihr so nett an; jede Bewegung war so flink und anmuthig, daß ich ihr mit wahrem Vergnügen folgte. „Nun, und Sie?“ fragte ich, als sie mir sogar eine brennende Kohle auf die Pfeife gelegt hatte.

„Ich spinne!“ sagte sie.

Und sie holte ihr Rad und setzte sich mir gegenüber inmitten des Zimmers. Ich schaute auf den zierlichen Fuß, wie er unter dem kurzen Ruck rastlos das Brettchen trat. Ab und zu hob sie die Augen und sah mit schnellem Blick zu mir hinüber, und derselbe Blick streifte den Vater. Was waren das für lebhafte, klare, feuchte Augensterne! Ein flüchtiges Lächeln spielte dann und wann um den weichen Mund.

Keines von uns sagte etwas. Nur das Rad schnurrte, und der Alte blies von Zeit zu Zeit hörbar Dampf ab. Ich hatte kein Bedürfniß, die schöne, behagliche Stille zu unterbrechen. Jetzt fing Wiebke an, ganz leise vor sich herzusummen, eine einfache Melodie ohne Worte.

„Wie heißt der Text?“ fragte ich.

„Et wassen twee Königskinner
De hadden eenanner so leef!
Se kunnen tosåmen nich kåmen,
Dat Water weer veel to deep!“

sang sie mit klarer Stimme. – Nun war das Eis gebrochen.

„Ja, Wiebke kann schön singen!“ dröhnte der Baß des Alten nach dem ersten Verse dazwischen. „Sing’ weiter!“ Und sie sang bis zum Schluß:

„Se nehm em in ehre Arme,
Dat Hart ded ehr so weh;
Un länger kunn se nich lewen,
Se sprung mit em in de See.“

„Huh, nein!“ rief sie, indem sie lachend aufsprang, „das Lied endet so traurig. Geben Sie mir Ihren Schoppen, er ist leer!“

„Trinken Sie ihn an, Wiebke!“ bat ich, als sie ihn wieder gefüllt hatte. Sie hob ihn und netzte die Lippen, über den Rand hin mich mit den muthwillig schillernden Augen anblickend. Wie stand ihr alles gut! Aber war sie ein Kind, das unbewußt alle Anmuth des blühenden Mädchens entfaltete in unwillkürlichem Thun – oder wußte sie, daß sie schön war, und wollte sie ihre Augen werben lassen und wollte sie gefallen? – In solchen Gedanken sah ich sie wieder an, ohne es zu beabsichtigen, meinen Blick tief in ihren tauchend; da überflog dunkle Gluth plötzlich das frische Gesicht, und sie setzte sich schnell an das Rad, den Krug vor mich niederstellend. Hatte ich ihr weh gethan mit dem Anstarren?

„Wie oft ist Verkehr mit dem Lande?“ wandte ich mich schnell an Brar Volkers.

„So oft Sie wollen, Sie können jeder Zeit das kleine Boot bekommen,“ lautete die Antwort. „Wiebke kann Sie immer hinüberpullen; können auch segeln, wenn Sie Lust haben. Auf die können Sie sich verlassen.“

Wiebke nickte munter.

„Ist drüben im Dorf etwas zu bekommen?“ fragte ich. „Ich muß noch allerlei haben!“

Er schüttelte den Kopf. „Nichts was Sie gebrauchen können. Aber wenn Sie morgen mit Wiebke nach Stagersand segeln wollen, da giebt’s alles!“

„Segeln Sie denn morgen hin?“ fragte ich erfreut.

„Muß einkaufen für unsern Haushalt!“ sagte sie wichtig.

„Schön,“ rief ich, „wann geht’s los?“

„Um acht Uhr; wollen Sie wirklich mit? Das ist herrlich; da will ich gleich sehen, wie Sie mit einem Segelboot umzugehen wissen!“

Draußen war das Brausen lauter und tiefer geworden, als wenn größere Wassermassen sich gegen das Gestein und den Fuß des Thurmes drängten.

„Die Fluth kommt!“ sagte Wiebke. „Die kennen Sie nicht aus Ihrer Heimath. Wenn sie mit Nord-West einsetzt, müssen wir oft die eisernen Laden schließen; sonst schlägt die See uns die Fenster ein!“

Ich stand auf. „Also auf morgen!“

Wiebke stellte ihr Spinnrad in den Winkel. „Ich leuchte Ihnen hinauf und gehe auch zu Bett! Gute Nacht, Vater!“

„Gute Nacht!“ sagte er bedächtig und klopfte das Pfeifchen an der Tischkante aus.

„Erschrecken Sie nur nicht, wenn’s über Ihnen ’mal laut wird; es geht nicht immer leise zu bei den Lichtern und wenn die Wache wechselt.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1888, Seite 478. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_478.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)