Seite:Die Gartenlaube (1888) 492.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Der Hypnotismus, sein Nutzen und seine Gefahren.
3. Der Hypnotismus in Pforzheim, ein Beitrag zur Geschichte des hypnotischen Unfugs in Deutschland.

Keine zweite Stadt in Deutschland mag wohl in Sachen des Hypnotismus so zahlreiche und so eigenartige Erfahrungen aufzuweisen haben als Pforzheim, die weltberühmte Stadt der Goldwaarenindustrie. Man muß diesen am Ausgangspunkt dreier reizender Thäler des nördlichen Schwarzwaldes gelegenen, ungefähr 28 000 Einwohner zählenden Ort mit seinem in mannigfacher Hinsicht originellen Getreibe kennen, um verschiedene Episoden zu verstehen, welche das hier zum Sport gewordene Hypnotisiren im Verlauf des Jahres 1886 zeitigte.

Schon dem flüchtig sich hier aufhaltenden Fremden fällt Verschiedenes auf. Pforzheim ist die erste Fabrikstadt Badens, und doch entbehrt sie fast ganz der rauchigen Schlote und des rußgeschwärzten kohligen Pflasters. Es bringt das der hier gepflegte Fabrikationszweig der Edelmetallwaaren mit sich, welcher die Stadt mit den unschönen Attributen anderer Fabrikorte verschonte. Von einem der umliegenden Höhenpunkte aus betrachtet, erscheint daher Pforzheim wie ein schmuckes, gutgepflegtes Landstädtchen mittleren Schlages. Wenn man dagegen an den Wochentagen den Marktplatz und einzelne Hauptstraßen während der mittäglichen Arbeitspause betritt, dann bringt einem das Gedränge des hier sich stauenden männlichen und weiblichen Arbeitervolkes, das der Hauptmasse nach unter der allgemeinen Gesammtbezeichnung „Bijoutiers“ und „Polisseusen“ begriffen wird, eine ungefähre Vorstellung bei von dem Arbeitsfleiß und der Betriebsamkeit Pforzheims und seiner Nachbarorte im zwei- bis dreimeiligen Umkreise. Alltäglich mit Ausnahme der Sonntage kommt früh mit dem Morgengrauen auf allen vom Lande hereinführenden Zufahrtsstraßen eine nach Hunderten zählende Schar von Arbeitern und Arbeiterinnen verschiedenen Alters der Stadt zugeschritten, von der Menge abgesehen, die in Pforzheim selbst wohnt oder mit verschiedenen Zügen von den Vororten hereinfährt. Diese Scharen sind es, die über Mittag auf Markt und Straßen unter lebhaftem Gedankenaustausch frische Luft schöpfen und abends wieder dem ländlichen Heim mit ebenso eiligen Schritten zupilgern, wie sie morgens ankamen.

Eine zweite Absonderlichkeit bietet Pforzheim in seinen „Tigern“. Kommt man morgens ziemlich früh an den größeren Gasthäusern vorbei, dann wundert man sich über die Schar hier wartender Herren, die als Zeichen ihres „Tigerthums“ einen zierlichen Musterkoffer bei sich führen. Diese Herren sind dazu bestimmt, den aus aller Welt eintreffenden Großhändlern von Schmuckwaren in den Gasthäusern, wo dieselben ihr Absteigequartier genommen haben, den verlockenden, blinkenden Inhalt der Musterkoffer vorzulegen und möglichst umfangreiche Bestellungen für die Herrn Prinzipale entgegenzunehmen. Dieses im Grunde genommen wenig blutdürstige Geschäft hat den aus dem Hinterhalt auf Bestellungen Jagd machenden, meist jüngeren Herren die geradezu offiziell gewordene Bezeichnung der „Tiger“ eingebracht. Nicht selten liest man wenigstens im Anzeigetheil hiesiger Blätter, daß von dieser oder jener Firma „ein gewandter Tiger“ gesucht werde. Mitunter „tigert“ übrigens der Herr Prinzipal selbst, namentlich, wenn er noch jung und Anfänger ist.

Doch ich wollte ja vom Hypnotismus erzählen und von den Wundern, die derselbe vorvergangenes Jahr hier gewirkt. Als Hansen im Anfang der achtziger Jahre Deutschland bereiste, kam er auch nach Pforzheim und gab hier eine Vorstellung, die zwar wie überall Aufsehen erregte, aber ohne weitere Folgen blieb. Da kam am 28. April 1886 ein neuer Apostel vom blinkenden Glasknopf, und diesem gelang es, halb Pforzheim auf den Kopf zu stellen. Es war ein Stuttgarter Friseur, ein Herr Georg Schmidt, der da bei irgend einer Gelegenheit die Erfahrung gemacht hatte, daß ihm die gleiche Fähigkeit innewohne wie weiland Herrn Hansen. Herr Schmidt, der auch in der That nicht ohne Gewandtheit und Eleganz experimentierte, reiste im Lande umher und gab außerordentlich besuchte Vorstellungen. Er kürzte nach berühmten Mustern[1] seinen Vornamen in „Geo“ ab, und als Geo Schmidt kam er auch nach Pforzheim, wo er in ziemlich schneller Folge 5 bis 6 öffentliche „magnetische Soireen“ abhielt. Es ging da alles wie bei Hansen zu, nur ließ Herr Schmidt seinen Versuchen einen von seinem Geschaftsführer verlesenen, ziemlich monotonen Vortrag vorausgehen, in welchem von dem „geheimnisvollen Fluidum“ die Rede war, das den Händen und Augen des Meisters entströme und so wunderbar auf empfängliche Personen einwirke. Mit einem Wort, Geo Schmidt vertrat den längst überwundenen Standpunkt des „thierischen Magnetismus“ und wirkte auf viele Köpfe nicht aufklärend, sondern verwirrend. Anfangs gab er auf eigene Faust sehr besuchte Vorstellungen bei ziemlich hohen Eintrittspreisen; später wurde er von verschiedenen Vereinen angeworben. Das Ganze bewegte sich nämlich damals noch in ziemlich harmlosen Bahnen und etwaige schädliche Folgen vermochte noch niemand vorauszusehen.

Jedenfalls erregten Schmidts Versuche allseitig das höchste Interesse. Wie erstaunte man aber, als gegen Ende Mai die Nachricht durch die hiesigen Blätter ging, daß ein jüngerer Pforzheimer Fabrikant, Herr W., jene Versuche mit zweifellosem Erfolge nachzuahmen versucht und schließlich Meister Geo vollständig übertroffen habe! Herr W. war in eigenthümlicher Weise zur Kenntniß seiner Kunstfertigkeit gelangt. An demselben Abend, da Geo Schmidt in einem geselligen Vereine Pforzheims eine Abendunterhaltung gab, befand sich Herr W. im Kreise verschiedener Bekannten im Wirthshause. Das Gespräch drehte sich ausschließlich um den Hypnotismus und die Frage, ob diese Versuche wohl auch von andern angestellt werden könnten. Man beschloß, das alsbald festzustellen, und begab sich zu dem Zweck in das Nebenzimmer, wo einige junge Arbeiter als Versuchspersonen dienen sollten.

Noch bevor es so weit kam, drängte sich die Kellnerin trotz wiederholter Abweisung heran und verlangte immer dringender, hypnotisirt zu werden, worauf schließlich Herr W. unmuthig die Zudringliche Platz nehmen hieß und einige Striche über deren Haupt mit den Händen beschrieb, wie er es bei Hansen und Schmidt gesehen hatte. Der Erfolg war ein ganz überraschender; denn das Medium verfiel alsbald in tiefsten Schlaf und theilweise kataleptische Starre, einen Zustand, den keiner der Anwesenden zu heben vermochte. Der um Hilfe ersuchte Geo Schmidt schickte zunächst seinen Geschäftsführer. Dieser verordnete, als die gewöhnlichen Belebungsmittel nicht anschlugen, Champagner, von welchem der Bewußtlosen eingeflößt wurde. Da sie aber wegen gänzlicher Starre unfähig war zu schlucken, so mußte man das prickelnde Naß einstweilen selbst trinken und auf den Meister warten. Als dieser endlich angekommen war, gelang es ihm nach längerer Zeit, das Medium zu erwecken, welches indeß nunmehr in sechsunddreißigstündigen, ununterbrochenen Schlaf verfiel, dem es sich im städtischen Krankenhause in aller Muße hingeben durfte. Nunmehr zu ihrem Brotherrn zurückgelangt, erblickte die Kellnerin Abends Herrn W. und verfiel ohne dessen Zuthun wieder alsbald in Hypnose, welche auch mit längerem Schlaf endete, ein Vorgang, der sich noch ein zweites Mal wiederholt haben soll, was die Dame veranlaßte, sich ein anderweitiges Feld für ihre bierspendende Thätigkeit auszusuchen. Herr W. aber, der nunmehr auch die Methoden des kunstgerechten Erweckens bei schwierigeren Fällen erlernt hatte, machte bald darauf alle Versuche des Meisters und noch zahlreiche andere, die sogar Geo in Erstaunen gesetzt haben würden. Da nun Herr W. seine schönen Versuche in Vereinen und Privatkreisen mit unerschöpflicher Bereitwilligkeit ohne Entgelt zum Besten gab, so wäre für Herrn Schmidt die schöne hiesige Einnahmequelle versiegt, selbst wenn ihm nicht ohnehin das Pforzheimer Bezirksamt in Rücksicht auf verschiedene Vorkommnisse die Genehmigung zu weiteren öffentlichen Vorstellungen verweigert hätte, ein sehr berechtigtes Einschreiten, dem sich bald ein Generalverbot ähnlicher Produktionen für ganz Baden anschloß. Es durfte von da ab nur noch in geschlossenen Gesellschaften hypnotisirt werden, von welcher Freiheit in Pforzheim in ungeahnt ausgiebiger Weise Gebrauch gemacht wurde. Sehr bald zeigte sich nämlich, daß Herr W. nicht der einzige Ausübende in dieser Kunst war, den Pforzheims Mauern bargen. Mindestens ein halb Dutzend verschiedener Herren arbeiteten, wenn auch mit weit weniger Glück

  1. Sein Hauptnebenbuhler war damals der Magnetiseur „Theo“ Böllert.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 492. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_492.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)