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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

der Schläfengegend der einen Seite, vorwiegend auf der linken Körperhälfte. Von hier strahlt der Schmerz allmählich gegen die Augengegend aus und macht sich im Auge selbst geltend, während zugleich die Intensität der schmerzhaften Empfindung zunimmt und sich als tiefes Bohren, spannendes Drücken, quälendes Hämmern im Kopfe kundgiebt. Die Empfindlichkeit der Nerven für die Sinneseindrücke ist dabei so krankhaft gesteigert, daß jeder Lichtstrahl die Augen blendet, jedes leiseste Geräusch das Ohr peinlich berührt und jede Bewegung im Zimmer ein tiefes Wehe verursacht. Der von Migräne Befallene möchte sich deshalb am liebsten von der Außenwelt ganz abschließen, er sucht einen stillen Raum aus, den er sich verdunkelt, vergräbt seinen Kopf tief in die Bettkissen und will nichts als Ruhe, Ruhe. Zu den peinlichen Kopfschmerzen gesellen sich häufig während des Anfalles noch Uebelkeiten, Magenschmerz, gasiges Aufstoßen und Erbrechen einer wässerigen, galliggefärbten Flüssigkeit. Dieser qualvolle Zustand, welcher manche Aehnlichkeit mit der Empfindung der Seekrankheit hat, dauert bald längere, bald kürzere Zeit, meistens aber einige Stunden, zuweilen einen ganzen Tag, bis allmählich der Schmerz an Stärke einbüßt, die Druckgefühle nachlassen und ein wohlthätiger Schlaf den ermüdeten Körper umfängt. Aber noch am nächsten Tage verrathen oft das blasse Aussehen, die dunklen Ränder um die Augen, die schlaffen Gesichtszüge, die allgemeine Schwäche den Sturm, welchen der Migräneanfall von gestern hervorgerufen.

Ueber das eigentliche Wesen der Migräne herrscht in den ärztlichen Anschauungen noch nicht volle Klarheit; so es ist sogar noch streitig, wo der Sitz des Schmerzes bei Migräne eigentlich sei. Während die einen den sogenannten dreigetheilten Nerven und seine oberflächlichen Verzweigungen für die eigentliche Quelle des Schmerzes halten, nehmen andere an, daß der Schmerz innerhalb des Schädels selbst in den Nerven der Hirnhäute sitze. Zur Aufhellung der Vorgänge bei diesem Leiden haben Beobachtungen beigetragen, welche von mehreren Forschern bezüglich des Verhaltens der Blutgefäße der betroffenen Kopfhälfte angestellt wurden. Man hat nämlich in einigen Fällen eine Verengerung der Blutschlagadern auf der entsprechenden Kopfseite, auf welcher der Schmerz tobte, beobachtet und damit einhergehend eine auffällige Blässe dieser Gesichtshälfte, eine merkliche Kühle der betreffenden Partie und Erweiterung der Augenpupille. In anderen Fällen wiederum bemerkt man im Gegensatze zu der eben hervorgehobenen Erscheinung, daß eine Erweiterung der arteriellen Blutgefäße der betroffenen Kopfhälfte eintritt und hiermit in Verbindung eine starke Röthung und Schwellung dieser Gesichtsseite, vermehrte Schweiß- und Thränenabsonderung, Erhöhung der Temperatur, Verengerung der Augenpupille. Als Ursache der Zusammenziehung der Muskelfasern der Blutgefäße im ersten Falle betrachtet man eine Reizung der im Halssympathicus (der Halspartie des sogenannten sympathischen Nervensystems) verlaufenden gefäßverengenden Nervenfasern und die Erschlaffung der Gefäßmuskelfasern; im zweiten Falle sieht man als solche Ursache eine Lähmung der gefäßverengenden Nervenfasern an.

In vielen Fällen von Migräne scheint das Bauchgangliensystem der Ausgangspunkt der Reizung der Nervenfasern zu sein. Schon in alten Zeiten war es den Aerzten bekannt, daß Störungen der Magenverdauung, der Darmthätigkeit wie der Leberfunktion zu dem Auftreten von Migräneanfällen in einer gewissen Beziehung stehen. Diese Anschauung wurde später als nicht richtig wieder verlassen; aber in der jüngsten Zeit haben sich die Beobachtungen gehäuft, welche den Zusammenhang von Unterleibsstörungen mit der Erregung von Migräne darthun, gleichwie ein solches ursächliches Verhältniß zwischen Leiden der Verdauungsorgane und anderen Neurosen (Nervenleiden) nachgewiesen worden ist. Man müßte dann die Migräne als eine sogenannte reflektorische Nervenerregung betrachten, welche ihr veranlassendes Moment in den krankhaften Zuständen des Magens und Darmkanales, speciell in Darmträgheit hat, indem durch Veränderungen der nervösen Apparate im Darme krankhafte Erregungen dem centralen Nervensysteme auf dem Wege des sympathischen Nerven mitgetheilt werden, welche schmerzhafte Empfindungen (Migräne) auslösen und zugleich eine Reizung oder auch eine Lähmung der im Halssympathicus verlaufenden gesäßverengenden Nervenfasern bewirken.

In der That konnte ich in einer beträchtlichen Reihe von Fällen einen innigen Zusammenhang zwischen chronischer Darmträgheit und Migräne nachweisen und vermochte durch Behebung des ersteren Leidens eine Heilung der letzteren zu erzielen. Namentlich bei Männern und Frauen, welche infolge diätetischer Sünden, zu reichlicher üppiger Kost, sitzender Lebensweise, anstrengender geistiger Arbeiten oder übermäßiger Sinnenreizung die Erscheinungen der Unterleibsblutvölle boten und dabei an halbseitigen Kopfschmerzanfällen litten, welche durch lange Zeit den verschiedensten örtlichen und allgemeinen Behandlungsmethoden trotzten – gelang es, bei dem Gebrauche geeigneter abführender Mittel mit Durchführung zweckmäßiger diätetischer Maßregeln baldige Heilung zu erzielen. In einigen dieser Fälle deuteten auch Unbehaglichkeitsgefühle und schmerzhafte Empfindungen, welche in der Magengrube, in der Blinddarmgegend oder im ganzen Unterleibe dem Ausbruche des Migräneanfalles vorhergingen, auf den angegebenen Zusammenhang hin. Es sei hierbei hervorgehoben, daß sich die Anwendung jener die Unterleibsthätigkeit regelnden Mittel nutzlos erwies, den beginnenden Anfall zu unterdrücken, daß aber ihr methodischer längerer Gebrauch in der Weise, daß dann der Darm regelmäßig und ausreichend seine Schuldigkeit that, auch eine Wiederkehr der Migräneanfälle verhütete. In anderen Fällen ist der Grund der Migräneanfälle ein viel tieferer, in einer Veränderung der Blut- und Säftebestandtheile gelegen. So kann Blutarmuth und Bleichsucht, gleichwie sie den Boden liefern, auf welchem die verschiedensten Nervenleiden üppig gedeihen, auch die Ursache der Migräne bilden. Oder es kann – und ob dies der Fall ist, vermag nur die genaue ärztliche Untersuchung zu entscheiden – die gichtische und rheumatische Krankheitsanlage sich durch periodisch auftretende Kopfschmerzen bekunden, welche das Gepräge der Migräne tragen. Endlich ist die Migräne zuweilen, wenn auch selten, nicht ein selbständiges Nervenleiden, sondern das Symptom einer eigentlichen Erkrankung des Gehirnes.

Die Behandlung der Migräne wird nach dem eben Erörterten ganz besonders auf die Darmfunktion Rücksicht nehmen müssen und, wo sich eine Trägheit des Magens und des Darmes erweisen läßt, auch dahin anregend zu wirken bestrebt sein. Gegen die so außerordentlich häufige Darmträgheit muß man nicht sogleich mit dem schweren Geschütze der arzneilichen Rüstkammer anrücken; oft genug, ja man kann wohl sagen in der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle, kommt man mit einer gehörigen konsequenten Regelung der Lebensweise und richtiger Veränderung der Kost, ohne eigentliche Arzneimittel zum Ziele. Die Menge der Speisen bei jeder Mahlzeit muß, entsprechend den Verdauungskräften, geregelt und besonders jedes „zu viel“ vermieden werden. Betreffs der Art und Beschaffenheit der Nahrungsmittel müssen bei chronischer Darmträgheit alle jene Speisen sorgfältig vermieden werden, welche geeignet sind, die regelmäßige Darmentleerung zu beeinträchtigen. Alle groben, schwer verdaulichen, viel Rückstände hinterlassenden Speisen sind als verboten zu betrachten: so besonders Hülsenfrüchte – Erbsen, Linsen, Bohnen – grobe Mehlspeisen, harte, zähe Fleischarten, Kartoffeln, gewisse Fruchtarten, wie Mispeln, Kastanien. Wo auf eine geringe Absonderung der Darmsäfte als Ursache der Darmträgheit geschlossen werden muß, sind solche Nahrungsmittel zu wählen, die viel flüssige Bestandteile enthalten; daher ist Suppe mittags und abends zu genießen, Milch, weißer Kaffee, leicht verdauliche Gemüse, wie Spinat, gelbe Rüben, Blumenkohl, Obst, Kompotte sind empfehlenswert, weiches, junges, mürbes Fleisch mit reichlicher Zuthat von Sauce auszuwählen. Die betreffenden Personen sollen das Bedürfniß der Stuhlentleerung, wenn es sich geltend macht, niemals unterdrücken und müssen sich vielmehr an eine gewisse Regelmäßigkeit dieser Körperfunktion gewöhnen. So ist es sehr zweckdienlich, des Morgens gleich nach dem Erwachen einen Versuch zu unternehmen, den Darm an seine Pflichterfüllung zu mahnen. Thun es die Patienten, so wird ihnen die Freude zu theil, die langgewohnten Flaschen mit Arzneien und Schachteln mit Pillen bei Seite schieben zu können.

Nicht zu vernachlässigen ist dabei eine angemessene körperliche Bewegung, längeres Spazierengehen, Reiten, Turnen. In hartnäckigen Fällen habe ich von zweckmäßiger Massage in Verbindung mit Anwendung des elektrischen Stromes günstige Wirkungen gesehen. Brunnenkuren mit auflösenden Mineralwässern (Marienbad, Karlsbad, Kissingen, Homburg) haben, da sie aus die Darmthätigkeit mächtig fördernd einwirken und in angenehmster Weise eine günstige Veränderung ungeeigneter Lebensgewohnheiten gestatten, oft ausgezeichnete Heilerfolge bei gewissen Fällen von Migräne aufzuweisen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 523. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_523.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)