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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

deutschen Reisebeschreibungen noch immer sich umtreibt. Ein jüngerer Mann, dessen etwas blasses Gesicht auf einen gelehrten Beruf schließen ließ, war in die Lektüre eines Buches vertieft. Er hatte eine Flasche Bier vor sich auf einem der zwei großen Tische stehen, welche die im übrigen ziemlich kahle Stube den Gästen darbot, und ließ sich durch das Lesen im Rauchen nicht stören. Ein Ehepaar, das, sichtlich im besten Alter, sich bester Gesundheit erfreute und vor Ausbruch des Regens offenbar von der Hitze sehr auszustehen gehabt hatte, deren Reflex noch auf ihren Stirnen und Wangen glühte, gab sich in beschaulicher Wehmuth einem frugalen Mahle hin, welches in der Hauptsache aus mitgebrachten Fleischschnitten bestand und dem eine Flasche des landesüblichen Hallauer die Würze gab. Ein anderes Paar von schlankerem Wuchse und aparterem Wesen stand schließlich neben dem Nähtisch einer zweiten jungen Alpnerin, die am Fenster neben der Thür mit einer der kunstvollen Weißstickereien beschäftigt war, wie sie die Appenzeller „Meidli“ mit ihren geschickten Händen alljährlich zu Tausenden in die großen Ausfuhrgeschäfte in St. Gallen, Appenzell, Gais und Bühler abliefern. Der blonde bärtige Herr hatte in der Rechten ein Skizzenbuch, in dem er offenbar vorher gezeichnet hatte, denn die andere Hand spielte mit einem Bleistift; die junge Frau hatte einen großen Strauß von Alpenblumen in der Linken und reichte aus demselben eben an schönes Exemplar von selbstgepflücktem Edelweiß der Stickerin hin.

Auch der neue Ankömmling, der zunächst mit prüfenden Blicken ein paarmal das Zimmer durchmessen hatte, in dessen Hintergrunde eine Falltreppe in ein oberes Stockwerk führte, fand sich angezogen von dem Bild der stickenden Gebirgstochter, deren feine Nadelstiche eben dabei waren, auf einem Streifen duftigen Mousselins das ziemlich naturgetreue Abbild einer Edelweißblüthe auszuführen.

„Das ist ja wahrhafte Künstlerarbeit,“ rief er unwillkürlich, nachdem er dem Mädchen eine Zeitlang zugesehen.

Dieses blickte befriedigt auf bei dem Lobspruch, sagte dann aber gelassen:

„’s ist nur Uebung, Herr. Mühsam aber ist’s schon, und wenn wir im Winter Tag für Tag über unseren Kissen sitzen, thun uns die Finger mitunter recht weh. Jetzt im Sommer giebt’s immer Abwechselung in der Arbeit; da macht einem das Sticken Freud’. Die letzten Tage, wo das Wetter so schön war und sehr viele Gäste bei uns einkehrten, bin ich gar nimmer dazu gekommen.“

„Bleiben Sie denn auch im Winter hier oben?“ fragte jetzt theilnehmend die Dame hinter ihr.

„O nein,“ sagte das Meidli; „da geht’s mit den Kühen und Geißen hinunter ins Schwender Thal.“

„Nun, da bringt so wohl auch der Winter Unterhaltung und Lustbarkeit?“

„Das schon auch, den Sennenball und den Schöttlerball in Appenzell und bei Hochzeiten oder Kindstaufen ein ‚tanziges Mahl‘. Aber die Hauptsach’ ist doch unsere Arbeit. Wenn die Meidli aus der Freundschaft nicht zusammenhalten thäten und zum Sticken zusammenkämen, könnt’s manchmal etwas gar zu einsam werden.“

„Da wird wohl wacker geplauscht, während die Nadeln sich fleißig rühren?“

„Wohl, wohl, aber auch ein G’sangl giebt’s oft, und wer’s kann, erzählt Geschichten, die alten heimischen, die jedes gern immer wieder hört, von der Jungfrau und dem Schatz in den Auen, vom blauen Schnee und der verschneiten Alp, vom Bötzler, vom besten Locker oder auch etwas neues.“

„Das ist recht,“ rief der alte Herr; „man sollt’ es nicht glauben, aber wahr ist es doch: die Leute auf dem Lande wissen oft besser für ihre Unterhaltung zu sorgen, als wir drin in den Städten mit unserem Ueberfluß an Bildungsmitteln und Scheinbildung.“

Der Blonde mit dem Künstlerkopf neben ihm nickte zustimmend und sagte:

„Sicher steckt in den alten Geschichten, wie sie sich hier von Mund zu Munde und von Geschlecht zu Geschlecht vererben, oft mehr Weisheit und Schönheit als in den Gesprächen, mit denen in unseren Salons vielfach über Kunst und Litteratur gesprochen wird, und vor allem – mehr Natur. Und die ist’s doch, die wir hier oben suchen.“

Die fleißige Stickerin hatte sich indessen erhoben: es sei zwar noch früh am Tage, aber sie müsse bei der wachsenden Dunkelheit doch jetzt die Lampen anzünden.

Während das flinke Mädchen die beiden einfachen Hängelampen über den Tischen anzündete, kam einige Bewegung in die Gesellschaft. Die Ammerei kam und brachte das einfache Eiergericht, das sich der letzte Ankömmling bestellt hatte. Der junge Gelehrte, der sich die Zeit mit Rauchen und Lesen vertrieben hatte, stand auf und trat an ein Fenster. Der Engländer wandte sich von dem seinen ab, und jener sagte mit Humor zu diesem:

„Ja, von der erhofften Aussicht ist hier ebenso wenig zu genießen wie oben auf dem Säntis, den Sie – wie Sie erzählten – so unbefriedigt verließen.“

„Indeed“, sagte mit langsamer und seine Abkunft verrathender Sprechweise der Engländer, „weil es heute mittag für meinen Geschmack zu – hell war. Hier bietet der Sturm – mir Ersatz für die fehlende Aussicht. Sehen Sie nur, wie er den Regen gegen die Scheiben schüttet.“

„O ja,“ meinte schmunzelnd der Deutsche, „auch das sieht, sozusagen, ganz nett aus. Aber bei schönem Wetter muß es hier doch wohl noch hübscher sein, wenn man da draußen statt Dunst und Nebel das großartige Panorama sieht, wie ich es eben da in dem Specialwerke über den Appenzeller Kanton gelesen habe.“

Mit komischem Pathos im Ton die Weise eines berufsmäßigen Fremdenführers kopirend und sich indirekt an alle Anwesenden wendend, fuhr er fort: „Um die weite Alp herum ragen aus den leuchtenden Schneefeldern der Säntis, die Gyrenspitze, die hintere Wagenluke, der Bötzler, der Fählerschafberg nach dem blauen Himmelsgewölbe hinauf; wilde Bergwasser schäumen tobend von den Schneefeldern in die Tiefe hinunter; Herdengeläute erklingt überall, Jodler schmettern durch die Luft … Ja, ja! All das kann man an besserem Tage hier genießen. Und hat man es recht gut getroffen, noch mehr. Wenn nämlich auf der grünen Alpe hier vor uns, welche der Nebel unseren Blicken entzieht, von den Sennen und Sennerinnen des weiten Seealpseethals ‚Alpstubeten‘ gehalten wird, da entfaltet sich hier ein festliches Treiben von ungemein malerischem Reiz. Da kommen die Appenzeller Meidli in ihrem schönsten, reich mit Silbergespänge und -Ketten verzierten Sonntagsstaat in Scharen herbeigezogen und mit ihnen die Sennen, gleichfalls in festlicher Tracht; ein Tanzplatz ist abgesteckt, die Fiedel und die Handharmonika spielen auf und unter Gottes blauem Himmel beginnt der Reigen. Bei einiger Phantasie, meine Herrschaften, kann man sich das alles ja schönstens vorstellen und das darf uns einigermaßen mit unserem Schicksal versöhnen.“

„Bravo!“ rief der Alte, der seine kleine Mahlzeit beendet hatte.

„Doch lange dürfte dieser Trost nicht vorhalten,“ sagte der robuste Herr, dessen Appetit jetzt befriedigt war und der nun begann, sein umständliches Reisenecessaire in Ordnung zu bringen. „Solch ein Wetter! Wenn wir wenigstens unten in Weißbad geblieben wären.“

„Und dabei ist wohl wenig Aussicht aus Besserung?“ warf der Alte fragend hin, als wolle er zum Widerspruch reizen.

„Es kann leicht noch schöner werden, wollte sagen–schlimmer,“ erwiderte der Engländer. „Sie müssen wissen, ich bin ein großer Enthusiast für die Natur, wenn sie – wild ist. Es ist das nur natürlich; denn dann ist sie doch am schönsten.“

„Dennoch dürfen Sie sich nicht wundern, wenn wir dem Sonnenschein und blauen Himmel den Vorzug geben und in unserem Falle recht sehr wünschen, der böse Regen möchte baldigst aufhören,“ sagte mit gutmüthigem Lächeln der Mann des materiellen Behagens, im Einklang mit seiner Frau, die sich begnügte, über den romantischen Standpunkt des Engländers lebhaft den Kopf zu schütteln.

„Und leider steht es mit den Aussichten schlecht genug,“ bemerkte nun der junge Gelehrte. „So ist es rathsam, sich wenigstens keinen Illusionen hinzugeben. Das macht erst recht ungeduldig.“

„Aber die Führer machten uns eben noch Hoffnung auf baldigen Wechsel des Wetters.“

„Ja, die Führer! Die sind immer Optimisten. Das bringt ihr Geschäft mit sich. Sie müssen sonst fürchten, aus halbem Wege entlohnt zu werden. Und davon will ihr gesunder Egoismus nichts wissen.“

„Aber was für Gründe haben denn Sie für Ihre pessimistische Auffassung?“

„Das ist der Kassandrafluch der meteorologischen Wissenschaft. Ich bin meines Zeichens Astronom und soweit sich nach den vorhandenen atmosphärischen Anzeichen ein Schluß ziehen läßt, handelt es sich heute nicht nur, wie es anfangs schien, um ein Gebirgsgewitter,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 526. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_526.jpg&oldid=- (Version vom 6.9.2019)