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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Hoch über den Wäldern, die den Fuß des Wolkenstein umsäumten, da wo die weit vorspringenden Abhänge des mächtigen Berges begannen, lag eine freie grüne Alpenwiese, auf der sich eine kleine Sennhütte befand. Es war für gewöhnlich sehr einsam da oben, Fremde kamen nur selten herauf, da der Wolkenstein für unersteiglich galt, heute aber herrschte hier ein ungewohntes Leben und Treiben. Auf der weiten Matte war ein mächtiger Holzstoß errichtet, dem die alten Tannen und Fichten ihren Tribut hatten zollen müssen. Riesige Holzscheite, trockene Aeste, ausgerodete Baumwurzeln thürmten sich übereinander. Das Sonnwendfeuer auf dem Wolkenstein war stets eins der mächtigsten und leuchtete weit in das Land hinaus, es flammte ja auch an dem alten Sagenthron des Gebirges, zu den Füßen der Alpenfee.

Um den Holzstoß war ein Kreis von Gebirgsleuten versammelt, meist Hirten und Holzknechte, und dazwischen Mädchen von den benachbarten Almen, alles kraftvolle, braune Gestalten, die in Sturm und Sonnenschein hier oben auf den Höhen hausten und erst im Herbste wieder zu Thal stiegen. Es ging derb und lustig zu zwischen ihnen, es war ein Lachen und Juchzen ohne Ende; die Leute, die hart arbeiteten Tag für Tag und deren einförmiges Leben ihnen nur selten eine Abwechslung bot, machten sich die alte Volkssitte zum frohen Feste.

Sie waren aber heute nicht ganz unter sich allein; es hatte sich eine kleine Gruppe von Zuschauern eingefunden und seitwärts auf einer hügelartigen Erhebung des Bodens Platz genommen Das war den Aelplern ungewohnt und wäre ihnen unter andern Umständen auch wohl unwillkommen gewesen, denn sie fühlten sich bei solchen Gelegenheiten als unumschränkte Herren auf ihrem Grund und Boden. Aber die junge Dame, die dort auf dem moosigen Steine saß, war ihnen nicht fremd, so wenig wie der große, löwenartige Hund, der ihr zu Füßen lag. Die beiden hatten ja jahrelang mitten unter ihnen gelebt in dem alten Wolkensteiner Hofe, von dem längst kein Stein mehr stand. Freilich, das wilde übermüthige Kind von damals war ein gnädiges Fräulein geworden und lebte in der vornehmen Nordheimschen Villa, die den einfachen Gebirgsleuten wie ein Zauberschloß erschien, aber das Fräulein war doch zu ihnen heraufgestiegen wie sonst und plauderte mit ihnen im Dialekt, wie in früheren Zeiten, es fiel keinem ein, sie als eine Fremde zu betrachten.

Ueberdies war der Sepp mitgekommen, der zehn Jahre lang in den Diensten des Baron Thurgau gewesen war und der kleinen Landwirthschaft des Gütchens vorgestanden hatte, und die beiden Fremden, die das Fräulein begleiteten, sahen mit ihren tiefbraunen, sonnenverbrannten Gesichtern auch nicht aus wie Stadtleute. Der eine, der eine Art Untergebener zu sein schien, hatte sich von Sepp sofort in den Kreis der Gebirgsleute einführen lassen und war schon nach zehn Minuten heimisch unter ihnen. Er verstand den Dialekt vollkommen und blieb auf derbe Fragen und Scherze keine Antwort schuldig. Der andere, augenscheinlich ein vornehmer Herr, mit schwarzen Haaren und schwarzen, buschigen Brauen, hielt sich ausschließlich an der Seite der jungen Dame und beugte sich jetzt eben zu ihr nieder mit der etwas besorgten Frage:

„Sind Sie müde, gnädiges Fräulein? Wir haben nicht ein einziges Mal ausgeruht auf dem ganzen Wege.“

Erna schüttelte lächelnd den Kopf.

„O nein, so habe ich das Steigen denn doch nicht verlernt, daß mich schon der Weg zur Alm müde macht. Ich bin in früheren Jahren wohl höher hinaufgekommen, zum großen Mißvergnügen Greifs, der regelmäßig hier zurückbleiben mußte, wenn ich die Felsen erkletterte, er kennt den Ort noch ganz genau.“

„Ja, ich habe es bewundert, wie leicht und sicher Sie aufwärts stiegen,“ sagte Waltenberg. „Ich glaube, Sie würden spielend die Mühen und Beschwerde der größten Reise überwinden, die man anderen Damen nicht zumuthen darf. Jedenfalls bin ich sehr stolz darauf, Ihren Kavalier machen zu dürfen bei diesem Ausflug zum Sonnwendfeuer.“

„Sonst wäre er mir auch schwerlich erlaubt worden! Frau von Lasberg entsetzte sich schon bei dem Gedanken an diese in die Nacht hineindauernde Bergpartie, und Alice darf sich solche Anstrengungen überhaupt nicht zumuthen. Sepp hatte sich zwar längst erboten, mich zu begleiten, aber er galt nicht für hinreichend vertrauenswerth, obgleich er zehn Jahre lang in unserem Hause gelebt hat.“

Die Worte hatten einen Anflug von Bitterkeit, der dem Zuhörer nicht entging.

„Man hat es Ihnen nicht erlauben wollen?“ fragte er befremdet. „Lassen Sie sich in solchen Dingen wirklich noch bevormunden, gnädiges Fräulein?“

Erna schwieg, sie wußte am besten, welche Scene es gegeben hatte, als sie ihren Wunsch aussprach. Frau von Lasberg war außer sich gewesen über diese excentrische und unschickliche Idee, sich zur späten Abendstunde mitten unter die Bauern zu begeben und ihrem rohen Vergnügen zuzuschauen. Zufällig war Ernst Waltenberg mit seinem Sekretär um Nachmittage von Heilborn eingetroffen. Er hatte sich zum Begleiter und Beschützer der jungen Dame erboten, und ihm, der im Nordheimschen Hause bereits als der künftige Gemahl Ernas galt, war der Vertrauensposten auch ohne weiteres zugestanden worden, den man dem alten Sepp versagte. Er war eben im Begriff, noch eine weitere Frage zu thun, als ein Fremder herantrat und halb schüchtern, halb zutraulich sagte:

„Grüß Gott, gnädiges Fräulein! Willkommen in der Heimath!“

„Doktor Reinsfeld!“ rief Erna froh überrascht und bot ihm die Hand mit derselben unbefangenen Vertraulichkeit wie damals, als sie, ein halbes Kind noch, ihm entgegenlief, wenn er sich im väterlichen Hause zeigte. Er schien im ersten Augenblick fast bestürzt darüber, dann aber flog ein heller Freudenschein über sein Gesicht, und er ergriff und drückte die dargebotene Hand mit der gleichen Herzlichkeit. Aber jetzt drängte sich noch etwas anderes an ihn heran; Greif hatte den ehemaligen Freund nicht vergessen, er erkannte ihn auf der Stelle wieder und begrüßte ihn mit ungestümer Freude.

„Ich habe Sie gestern nicht einmal gesehen, als Sie in unserem Hause waren,“ sagte Erna. „Ich erfuhr es erst, als Sie bereits wieder fort waren.“

„Und ich wagte nicht, nach Ihnen zu fragen,“ gestand Benno. „Ich wußte ja nicht, ob es Ihnen recht war, wenn ich die alte Bekanntschaft geltend machte.“

„Haben Sie wirklich daran gezweifelt?“

Der Ton klang vorwurfsvoll, aber Reinsfeld schien sehr glücklich zu sein über diesen Vorwurf und blickte mit leuchtenden Augen auf die junge Dame. Er sah es freilich, daß sie so viel schöner, so viel ernster geworden war, aber fremd war sie ihm nicht geworden und ihr gegenüber empfand er auch nichts von der Scheu und Verlegenheit, die ihn gestern so blöde und stumm gemacht hatte.

„Ich habe so sehr gefürchtet, Sie als große Dame wiederzusehen,“ sagte er treuherzig. „Sie sind es nicht geworden – Gott sei Dank!“

Die etwas ungeschickte Aeußerung kam aus vollem Herzen, das hörte man, und Erna lachte laut auf dabei, es war wieder das alte frohe Kinderlachen, welches jahrelang verstummt gewesen war.

Waltenberg hatte anfangs mit sichtlichem Befremden die vertrauliche Begrüßung der beiden gesehen, und es war ein finsterer, argwöhnischer Blick, mit dem er Reinsfeld musterte, aber die Musterung mußte wohl befriedigend ausfallen. Dieser Herr Doktor, in Joppe und Filzhut, mit seinem treuherzig ungeschickten Wesen, war kein gefährlicher Mann und gerade in der Unbefangenheit seines Verkehrs mit Erna lag die beste Gewähr dafür, daß es sich hier in der That um nichts anderes handelte, als um eine harmlose Jugendfreundschaft. Ernst Waltenberg war Menschenkenner genug, das sofort einzusehen, und deshalb nahm er die Vorstellung Reinsfelds sehr liebenswürdig entgegen.

„Wir sind soeben erst gekommen,“ sagte dieser nach der üblichen Begrüßung, „und wir gewahrten Sie anfangs gar nicht in dem lustigen Treiben hier auf der Alm. Aber wo ist denn Wolfgang geblieben? Ich habe Ihren nunmehrigen Verwandten mitgebracht, gnädiges Fräulein. Wolf, wo steckst Du denn?“

Der Ruf war überflüssig, denn Elmhorst stand etwa fünfzig Schritte entfernt, den Blick unverwandt auf die Gruppe gerichtet. Er hatte sich offenbar nicht nähern wollen; jetzt erst trat er langsam heran, und Benno konnte nicht umhin, sich zu wundern, daß die Begegnung der „Verwandten“ so ungemein fremd ausfiel.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 567. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_567.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)