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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Ein wirklicher Alpinist wird im Gegensatz zu dem Leichtsinn und der Eitelkeit, die hier einen alpinen Unglücksfall bewirkten, alle Hilfs- und Schutzmittel in Anspruch nehmen, welche ihm die Kultur und die Technik zur Ueberwindung der Schwierigkeiten einer solchen Hochtour darbieten. Wir studiren das Maß unserer eigenen Kräfte und richten danach die Inanspruchnahme der Kräfte erprobter Führer sowohl als einer rationellen Ausrüstung. Der Eine läßt beim Ueberschreiten steilerer Gletscher sich anseilen und in das Eis Stufen hauen, der Andere verläßt sich, wenn es sich nicht um besonders gefährliche Entdeckungsfahrten handelt, auf seine eigenen, mit Steigeisen bewaffneten Füße und den Bergstock in seiner Hand. Ein richtiger Alpinist wird auch immer die nothwendigsten Hilfsmittel für Höhenmessung und Terrainbeobachtung mitnehmen und seine Entdeckungen und Erfahrungen der Wissenschaft zu gute kommen lassen. Wenigstens habe ich es immer so gehalten. Daß das Bewußtsein absoluter Schwindelfreiheit und oft erprobter Kraft auch solche Alpinisten bisweilen zu verwegenen Unternehmungen verleitet, bei welchen allein die Lust am gefährlichen Abenteuer und der ‚Reiz des Unbekannten‘ als Motive wirken, will ich ebenso wenig leugnen wie den Ehrgeiz, der im Wetteifer mit Gleichbegabten ins Spiel tritt.

Gerade das letztere war in besonderem Grade bei einer Reihe von Hochtouren der Fall, die ich vor einigen Jahren in dem bereits erwähnten Gebiete des Großglockners ausführte. Und die Persönlichkeit, welche meinen Ehrgeiz und Wetteifer so herausforderte, war – wie im Falle jenes Verunglückten – eine Dame. Kennen Sie Heiligenblut? Wenn man von Regenwetter festgehalten, dort um alle Aussicht betrogen wird und in dem kahlen Wirthszimmer des einzigen alten Gasthofs über seine Specialkarte des Großglocknergebiets gebückt darüber simulirt, welche Partien man machen könnte, wenn nur das Wetter besser wäre, ist’s ein armseliges Gebirgsdorf wie tausend andere. Wenn aber ein günstiger Wind die grauen Wolkenschleier emporweht, welche bisher die hermelingeschmückte Majestät des Großglockners dem Anblick entzogen, wenn über den dunklen Bergen des oberen Möllthals, über den schneebedeckten hohen Leiterköpfen und dem schimmernden Absturz des großen Pasterzengletschers in der Ferne sich die schlanke Firnnadel des Großglockners leuchtend aus der sie umgebenden Eiswelt ins Blau des Himmels hinaufschwingt, erscheint dies Dorf mit seiner gleichfalls schlank emporgestreckten Kirche dem Alpenfreund als die denkbar schönste Pforte zu einem Paradiese im Reiche des ewigen Schnees! Je länger ich vorher die Langeweile des Eingeregnetseins hatte ertragen müssen, um so entzückter wurde ich dann des fascinirenden Reizes dieser Scenerie inne, als endlich – endlich die Spitze des Glockners frei ward. Es waren noch mehrere Herren im Schoberwirthshaus, die gleich mir mit Sehnsucht diesem Ereigniß entgegengesehen hatten. Ein Professor aus München, Botaniker von Fach, ein Entomolog aus Wien, der auf den Almen unterhalb der Firnwelt auf Schmetterlingsjagd ausgehen wollte, und noch mehrere Touristen, welche nur die Wanderung an dem Glocknerhaus und der Pasterze vorüber über die Pfandlscharte ins Fuscherthal vorhatten. Wir saßen gerade in lebhaftem Gespräche bei Tisch, als zum Fenster einfallende Sonnenstrahlen uns die Aenderung des Wetters ankündigten und überdies der freudige Ruf eines Führers vor dem Hause: ‚Der Glockner wird frei!‘ unsere Ahnung bestätigte.

In diesem Augenblicke that sich die Thür auf und in derselben erschien – während wir gerade im Begriff waren, aufzustehen und ins Freie zu eilen, um Zeugen der Aufhellung des Himmels zu werden – eine touristisch gekleidete Dame, bei deren Erscheinen es auch wie Sonnenschein durch die niedrige Stube ging. Da ein blauer, von ihrem Florentiner Strohhut herabwallender Schleier ihr Gesicht zur Hälfte bedeckte, welches obenein zurück nach der Hausflur gewendet war, bestimmte der auffallend schöne Wuchs von seltener Kraft und Grazie den ersten Eindruck. Sie trug eine anliegende, leicht geschürzte Kleidung aus hellbraunem Lodenstoff, in der Rechten hielt sie einen Bergstock, ihre Schuhe waren aus dickem Leder und auch vorn mit Nägeln beschlagen. An der Seite der Wirthin, welche sie als alte Bekannte begrüßte, trat sie nunmehr ganz ein, indem sie zu dieser sagte:

‚Der Michel soll nur mein Gepäck gleich auf mein Zimmer tragen; ich aber will hier unten bleiben; der Weg von Dölsach hierher hat mir Appetit gemacht.‘

‚Das ist schön,‘ sagte die Wirthin, welche der Dame auf einem andern Tisch als dem unseren ein Gedeck zurechtlegte, ‚und schönes Wetter haben Sie auch mitgebracht, nachdem es vierzehn Tage lang bei uns geregnet hat. Das heiße ich Glück und gute Vorbedeutung.‘

Ueber das Antlitz der Dame glitt bei dieser Beglückwünschung ein herber Zug, der jedoch die eigenthümliche Schönheit des Gesichtes eher erhöhte als minderte. Dasselbe war von einer gleichmäßigen, nicht ungesunden Blässe, mit welcher das große grünlich blaue Auge, dessen Blick klar und bestimmt, beinahe streng war, sonderbar kontrastirte. Die feingeschwungenen Lippen waren fest geschlossen und ihr Ausdruck deutete wie die Kontour ihres Kinns auf besondere Energie. Sie hatte den Strohhut abgenommen, wodurch das schöne edle Profil ganz sichtbar geworden war, sowie ihr blondes welliges Haar, das vorn schlicht gescheitelt, hinten in einem einfachen Knoten aufgesteckt war, ähnlich dem, den wir an antiken Statuen der besten Zeit kennen. In diesem Haare spielte etwas wie ein goldener Schimmer, und ich konnte dem Professor neben mir nicht unrecht geben, der auf meine leise hingeworfene Bemerkung, welche auf die Aehnlichkeit dieses Gesichts mit einem bekannten Dianakopf hinwies, mir antwortete: ‚Nein, die Gletscherkönigin selber.‘

Dieser Nachbar, der ein Stammgast von Heiligenblut war, wußte mir dann auch, als wir draußen auf dem Wege zum Katzensteig dem Spiele der Wolken zuschauten, welche mehr und mehr den vollen Anblick des Glockners freigaben, näheres über den neuen Ankömmling zu sagen.

Ihr Vater war ein Kollege von ihm gewesen, der, zwar Deutscher von Geburt, als Professor an einer russischen Universität vor einigen Jahren gestorben war. Derselbe hat sich als Entdeckungsreisender dauernden Ruhm erworben. Ihre Mutter, eine geborene Russin, war ihm bald in den Tod gefolgt. An der Seite dieses Vaters hatte die Tochter schon in frühen Jahren viel von der Welt gesehen und auch die Gefahren des Hochgebirgs schon als Mädchen verachten gelernt. Die letzten Hochtouren, welche sie mit dem geliebten Vater gemacht, hatten einigen Spitzen des Glocknergebiets gegolten und daher stamme ihre Vorliebe für diese Gegend. Weiter erzählte mir der gesprächige alte Herr, daß die Dame trotz des jungfräulichen Ausdrucks ihres Wesens kein Mädchen mehr, sondern eine Frau sei, aber eine geschiedene. Warum die Scheidung nach einer übrigens nur kurzen Ehe erfolgt sei, darüber seien seiner Zeit die verschiedensten Meinungen laut geworden. Auf jeden Fall war dieselbe von ihrer Seite eingeleitet worden, und zwar unter Angabe keines andern Grundes als dem unüberwindlicher Abneigung. Es sei wahrscheinlich, daß diejenigen recht hätten, welche damals behauptet, der Mangel an Mannhaftigkeit und Muth, den ihr Mann in einem kritischen Augenblicke an den Tag gelegt, habe diese Abneigung ihr eingeflößt. Ja, er habe Anlaß, zu glauben, daß jenes Erlebniß einen allgemeinen Widerwillen gegen das männliche Geschlecht, oder wenigstens gegen die gebildeten Vertreter desselben in ihr zurückgelassen habe, denn sie meide seitdem geflissentlich, freilich auch ohne Ostentation, allen Umgang mit solchen; nur im Verkehr mit den wetterfestest, wortkargen, durch Muth und Entschlossenheit ausgezeichneten Führern dieser Gegend aus Kals, Fusch oder Heiligenblut habe er sie gesprächig und frei von jeder Zurückhaltung gesehen.

Alles dies war nur geeignet, mein Interesse für die Dame, das schon ihre Erscheinung geweckt hatte, wesentlich zu steigern, und mit Spannung sah ich einer Gelegenheit entgegen, mich ihr zu nähern und ihre Bekanntschaft zu machen. Bei der gleichen Vorliebe für die Alpenwelt und das Ersteigen ihrer Gipfel und Uebergänge konnte es ja an Anknüpfungspunkten nicht fehlen, und was ihre Antipathie betraf, so nahm ich es ja, wie ich meinte, in Bezug auf Muth und Entschlossenheit mit dem besten Bergführer im Glocknergebiet auf. Als ich aber erleben mußte, daß sie mir gerade wie jedem andern Touristen dieselbe Unnahbarkeit und Ablehnung zu theil werden ließ, entbrannte ich vor Begier, diesem selbstbewußten und selbstgenügsamen Weibe Respekt vor meiner Kraft abzugewinnen und sie die Ueberlegenheit eines Mannes, eines männlichen Willens fühlen zu lassen.

Es ist ein natürliches Bedürfnis nach einer glücklich zurückgelegten Hochtour, während welcher kein unnötiges Wort gesprochen wird, mit Gleichgestimmten die überstandenen Erlebnisse zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 607. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_607.jpg&oldid=- (Version vom 31.8.2018)