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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

dem Tod Entgegensehende herantreibt, mich ihr entgegen, indem ich dem Führer hinter mir zurufe, das Seil fest anzuziehen, das mich und ihn verband. Mit dem Unterkörper tief in den Schnee gesunken, mit dem rechten Arm die vom Schreck Erstarrte um die Hüfte fassend, während die Linke fest das Seil umklammert hält, gelingt es mir, für einen Moment die Bewegung zu hemmen. Der treue Führer hat Stand hinter einem Eisvorsprung genommen und hält unverrückbar den gewaltigen Ruck aus, der das Seil um seine Brust furchtbar anzieht, so daß ihm, dem Starken, fast der Athem vergeht, der aber auch uns beide aus der Todesgefahr hinauf auf festen Boden bringt. Auch der nachstürzende Führer hatte von dem Stillstand der Bewegung profitirt. Ihm war es gelungen, sich mit Hilfe seines Bergstocks ans Ufer der Rinne zu schnellen. Es war eine Rettung aus höchster Todesgefahr.

Schon aus diesem Grunde steht dieser verhängnißvolle Tag als der Bringer meines schönsten Reiseerlebnisses mir im Gedächtniß. Es giebt kein beseligenderes Gefühl, als einem anderen das Leben zu retten, indem man das seine preisgiebt. Die That als solche war kaum etwas Besonderes; der Antheil des Führers an derselben war gleich stark wie der meine, und jeder Bergführer der Alpen ist jeden Tag bereit, ähnliches zu tun, und thut es ohne Aufhebens. Mir aber war zudem in jenem Momente klar geworden, welch ein Verlust gerade der Tod dieser Frau für mich sein würde. Sie verkörperte das Ideal einer Lebensgenossin für mich, so schön, so bewundernswerth, wie ich es bis dahin für unmöglich gehalten hatte, es im Leben finden zu können. Und nun lag sie vor mir, doppelt schön in ihrer Todesblässe, lebend, weil ich sie gerettet! Sie war nicht die unnahbare, unbesiegbare Gletscherkönigin mehr, sondern ein gebrochenes Weib, das der furchtbaren Gewalt des Königs, der im ewigen Eise regiert, in Schwachheit erlegen war. Sie war ein Weib wie ein anderes auch, das einer Stütze bedurfte – diese Stütze wollte ich ihr sein.

Und ich war ihr, der Ohnmächtigen, zunächst auch die nöthige Stütze. Ich ließ es mir, nachdem wir ihr Wein eingeflößt und den Blutumlauf durch Reiben gefördert hatten, nicht nehmen, sie selbst herniederzutragen auf dem Wege, welchen die inzwischen vereinigten Führer für uns über das Gletschereis gehauen. Und mir wurde das Glück zu theil, daß die aus ihrer Ohnmacht Erwachende sich in meinen Armen fand ohne Zeichen des Mißmuths oder des Mißbehagens, vielmehr den sanften Druck meiner Arme dankbar erwidernd.

Unten über die Pasterze trugen wir die wieder Entschlummerte zu viert und in der Hofmanns-Hütte zimmerten wir eine Bahre, auf der wir sie wohlgebettet ins Glocknerhaus brachten. Leider verfiel die geliebte Frau in ein schweres Fieber. So lange bis eine ihr besonders befreundete, von mir telegraphisch herbeigerufene Cousine herbeikam, ließ ich mir, im Bunde mit der Wirthin in Heiligenblut und unter Hinzuziehung des Dölsacher Arztes, ihre Pflege angelegen sein. Dann mußte ich dringender Geschäfte halber fort. Auf mein Landgut in Surrey ließ ich mir Nachrichten über ihren Zustand nachsenden. Als ich vernahm, daß sie wieder genesen sei, hielt ich brieflich um ihre Hand an. Nach einigen Tagen empfing ich die Antwort. Sie war ablehnend, aber die Ablehnung hat mich nicht gedemüthigt.

Sie schrieb mir, daß sie meine Neigung bis zu einem gewissen Grade herzlich erwidere. Und zwar nicht bloß von dem tiefen Dankgefühl getrieben, das sie mir als Retter aus Todesgefahr schulde. Sie verehre in mir den muthigsten und unerschrockensten Mann, der ihr im Leben begegnet sei, aber der Mann, dem sie ihr Leben ganz anvertrauen möchte, müsse ihr auch das Vertrauen einflößen, daß er das seine wie das ihre nie verwegen aufs Spiel setze. Das hätte ich gethan, als ich sie zu einer Art Wettkampf im Reiche des ewigen Eises herausgefordert. Durch mein Beispiel sei sie damals sich selber untreu geworden und ihre Buße solle sein, daß sie hinfort nur sich, sich ganz allein treu sein wolle.

So bin ich ledig geblieben und sie auch. Aber eine treue Freundschaft verbindet uns. Es ist wahr, ein Alpinist, wie ich, taugt nicht zur Ehe. Aber wenn ich zur Winterszeit in meinem Arbeitszimmer daheim zwischen den hohen Regalen mit meinen alpinen Sammlungen das Bild, das sie mir damals schenkte, heruntergrüßen sehe, – ich muß gestehen, daß ich dann recht melancholisch werden kann.“

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Der „Gartenlaube-Kalender“ 1889. Seit dem Erscheinen des ältesten gedruckten deutschen Kalenders, der 1439 von Hans v. Schwäbisch-Gmünd herausgegeben wurde, hat sich mit Hilfe der Buchdruckerkunst eine ganze Kalenderlitteratur herausgebildet.

Solch ein Kalender damals war freilich nur in Folioausgabe zu haben und bestand aus zwei einfachen Holztafeln, auf welchen die Schriftzeichen eingravirt waren. Heutzutage haben unsere Kalender schon ein anderes Aussehen bekommen; nehmen wir nur den „Gartenlaube-Kalender“ mit seinem reichverzierten Prachteinbande in die Hand, um das zu erkennen.

Wenn wir die „Inhaltsübersicht“ ansehen, so sind es Namen vorzüglichen Klanges, die uns genannt werden; gehen wir aber an den Inhalt selbst heran, so bietet sich uns eine schier unversiegbare Quelle der Belehrung und Unterhaltung dar, daß wir das schöne und billige Büchlein als ein wahres Schatzkästlein für Hans und Familie bezeichnen möchten.

Gleich vorn, wenn wir die Buchschale aufgeschlagen haben, können wir leicht an der Hand einer übersichtlichen Tabelle die Zinsen unseres, eines jeden Kapitals berechnen; wir blättern um, und das sinnige Auge eines reizenden Mädchenkopfes von Defregger ruht auf uns. Das Kalendarium, dessen einzelne Blätter mit hübschen Kopfleisten geziert sind, ist gleich nutzbar für Protestanten wie Katholiken Deutschlands und Oesterreich-Ungarns, Russen wie Juden; es läßt auch nicht im Zweifel über die genauen Daten der fürstlichen Geburtstage, Bußtage etc., versorgt uns mit hauswirthschaftlichen, astronomischen und anderen Notizen, sowie einer Reihe von Denk- und Sinnsprüchen.

Nun folgen eine Genealogie der Regentenhäuser, dann statistische Notizen für das Deutsche Reich in großer Mannigfaltigkeit, und eine Tafel, welche die Zeitunterschiede zwischen Berlin und anderen Orten angiebt. Auch die vergleichende Zusammenstellung der Thermometergrade nach Celsius, Réaumur und Fahrenheit fehlt nicht, der sich eine Münzvergleichungstabelle, Stempeltabelle für Aktien, Obligationen etc. und ein Wechselstempel-Tarif anreiht. Ferner ist der Fürsorge für blinde, taubstumme und andere unglückliche Kinder ein Kapitel von weitestgehender Bedeutung gewidmet, das ein genaues Verzeichniß der bestehenden Heil- und Pflegeanstalten veröffentlicht. Vergessen wollen wir in unserer Aufzählung auch nicht der tabellarischen Uebersicht betreffs Verjährung der Klagen und Forderungen im Deutschen Reiche, und einer recht praktischen Fleckenreinigungstabelle von Hermann Krätzer. Jetzt können wir uns in ein Jahrmarktsverzeichniß mit Einwohnerzahl der Städte, Servisklassen-Eintheilung und Angabe der Garnisonen vertiefen und weiterhin uns mit den Post- und Telegraphenbestimmungen nebst Tarifen bekannt machen.

Ein reizendes Bildchen, „Die Waisen“ von G. Hahn, taucht da plötzlich vor uns auf und eröffnet den Reigen der nun in reicher Zahl durch das Ganze verflochtenen Illustrationen. Viktor Blüthgen tritt uns mit einem launigen Gedichte entgegen, das mit gefälligen Zeichnungen von A. Lewin versehen ist. Die beliebte „Gartenlaube“-Erzählerin W. Heimburg fügt dem im vorjährigen Kalender begonnenen Novellencyklus unter dem Titel „Onkel Leos Verlobungsring“ eine zweite, der ersten an fesselndem Reiz nicht nachstehende, von E. Zopf hübsch illustrirte Geschichte hinzu. Durch eine interessante musikhistorische, mit Bildchen von der Hand Fritz Bergens geschmückte Novelle erfreut uns ferner Moritz Lilie, und von dem Vorhergehenden nur durch einige sinnreiche „Orientalische Sprüche“ getrennt, ist es eine hübsche, von Oskar Justinus verfaßte Obstfabel, die uns überaus angenehm unterhält. Wer noch nicht am Rhein selber war, der hat doch schon seine Weine getrunken, und einem jeden wird es willkommen sein, „eine Rhein- und Weinfahrt“, wenn auch nur im Geiste, anzutreten, zu der uns in führerkundiger Gemeinschaft Emil Peschkau und R. Püttner in weindurchduftetem Bild und Wort hier einladen. Ein ergreifendes Gedicht von M. Eichler bringt Abwechslung in die lange Reihe der Darbietungen, aus der wir einen lehrreichen Aufsatz, „Geibels Jugendliebe“, von Dietrich Theden noch besonders hervorheben möchten. Aber dem Ernste darf sich auch der Scherz beigesellen, und da ist es denn eine Humoreske, „Doktor Puppke“ von B. Renz, die im Verein mit den charakteristischen Illustrationen O. Gerlachs die Heiterkeit des Lesenden erregen muß. „Blätter und Blüthen“! Welche Fülle an Interessantem und Unterhaltendem diese spenden, das allerdings auszuplaudern ist uns nicht gestattet, soll doch dem Leser auch eine kleine Ueberraschung aufgespart bleiben; nur verschweigen wollen wir nicht, daß auch diese Rubrik des Kalenders mit trefflichen Bildern von F. Wahle und O. Gerlach bedacht worden ist. Doch wir sind noch immer nicht fertig. Ein kleines Kunstblatt ist es, welches uns da wieder in die Augen sticht; „Musikunterricht“ von A. Müller-Lingke lautet die Unterschrift des Holzschnitts. Dr. M. Taube, eine medicinische Autorität, giebt uns in dem lebendig geschriebenen Artikel „Die erste Hilfe gegen Masern, Diphtherie und Scharlach“ wohlbewährte Rathschläge, und Hermann Pilz bespricht in leichtfaßlicher Weise die Reichsgesetzgebung der Neuzeit. Ein wohlgetroffenes Porträt des Kaisers Wilhelm I. leitet gleichsam die letzte Abtheilung des Kalenders ein, die in einem von Schmidt-Weißenfels geschriebenen „Rückblick auf die merkenswerten Ereignisse vom Juli 1887 bis Juli 1888“ besteht, dem wieder viele Illustrationen von E. Thiel, H. Lüders und anderen beigegeben sind.

Den Schluß des überaus zeitgemäß zusammengestellten, allen Gartenlaube-Lesern bestens empfohlenen Werkchens bildet ein Bericht „vom Büchermarkt“ von Rudolf von Gottschall und eine ebenfalls illustrirte polytechnische Umschau.

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Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 611. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_611.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)