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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Zeit doch nicht verloren, denn während des Lastentragens beim Laden und Löschen der Seeschiffe wurde ich mir bewußt, wie viel natürliche Begabung für das Erfassen der Struktur jeder Art von Maschinenwerk in mir schlummere und nach Bethätigung ringe. Dies veranlaßte mich dann, eine Stelle als Werftarbeiter zu suchen, die ich endlich fand. Der Direktor des Bauplatzes wurde auf mich aufmerksam und engagirte mich für sein Bureau, wo ich allmählich Einblick in die Pläne und Berechnungen gewann, auf denen der Schiffsbau beruht, und mir theoretische Kenntnisse auf dem Gebiete der Statik und Mechanik erwarb, die ich dann abends in der kleinen Mansardenstube, die ich bewohnte, eifrig vervollständigte.

Dann aber regte sich aufs neue der Reisetrieb mächtig in mir. Ich machte das Steuermannsexamen und wurde nach einigem Suchen Steuermann auf einem Kauffahrer, der zwischen Kalifornien und New-York regelmäßig verkehrte. Jetzt hatte ich oft Gelegenheit, mich nach einem Kapitän Richard Kurz, der auf dem Mississippi fahren solle, zu erkundigen; doch niemand wußte von ihm. Auch als ich selbst an das Steuer eines sein Stromgebiet befahrenden Dampfers kam, konnte ich lange Zeit nichts von ihm erfahren, bis ich eines Tages in New-Orleans einen älteren Kapitän im Bureau einer Dampfschifffahrts-Gesellschaft traf, der den Onkel gar wohl gekannt hatte und mir mittheilte, daß derselbe schon vor mehr als zehn Jahren den Dienst quittirt habe und aus der Gegend geschieden sei. Das war ein schwerer Tag für mich damals. Den Onkel zu finden, war im Laufe der Jahre das feste Ziel meines Strebens und Hoffens geworden; auf einmal fühlte ich mich im Meere des Lebens plan- und ziellos, und was ist ein Steuermann ohne Reiseziel!

Ein Zufall war es, der mich schließlich dem Manne meiner Sehnsucht zuführte. An der Maschine unseres Dampfers waren einige Reparaturen nöthig geworden, und einige Besonderheiten in der Konstruktion veranlaßten mich, an die Schiffsbauerfirma zu schreiben, auf deren Werft die ,Minerva ‘ entstanden war. Die Antwort, die ich erhielt, trug unter dem Namen der Brooklyner Firma John Cowley u. Co. denjenigen, der mir so oft auf den Lippen schwebte: ‚Richard Kurz‘ stand in fester Handschrift darunter. Ich schrieb nun sofort einen persönlich an diesen Richard Kurz sich wendenden Brief, um die Identität mit dem gesuchten Onkel festzustellen, und richtig, er war es. Meine briefliche Darstellung, wie er in meiner Knabenzeit schon mich beeinflußt, wie der Gedanke an ihn mich nach Amerika begleitet und wie ich ihn dann so unverdrossen gesucht habe, rührten den alten wackeren Herrn, wie er mir schrieb, aufs tiefste: er lud mich ein, zu ihm zu kommen, und sobald ich meinen Steuermannsposten verlassen konnte, eilte ich nach Brooklyn. Mit Freuden stellte er fest, daß meine Eltern in der That ganz recht gehabt, als sie schon bei meinen Knabenstreichen geklagt hätten, daß ich dem schlimmen Onkel Richard nachschlüge, und daß dies nicht nur in Bezug aus den abenteuerlichen Trieb in die Ferne, sondern auch auf das Talent, das ihn nach langer Irrfahrt schließlich zum Betriebsdirektor einer der größten Schiffswerften am New-Yorker Hafen hatte werden lassen, der Fall sei. Unter Freudenthränen lachend, küßte und umarmte mich der auf den ersten Blick rauh erscheinende gute Mann; er bot mir zunächst eine Stelle als sein Privatsekretär an, damit unser Verhältniß auch Ordnung und einen Namen habe, und verschaffte mir bald einen schönen Posten im Bureau des gewaltigen Instituts, dem er als am Gewinn betheiligter Chef vorstand.

Nur in einem fand ich mich in meinen Erwartungen getäuscht, wenn auch nur auf angenehme Art. Ich hatte erwartet, den Onkel voller Antipathien gegen die Heimath und unsere Familie zu finden, die ihm ohne genügenden Grund schlimm mitgespielt hatte. Das Gegentheil war aber der Fall: meinem Vater hatte er in der Stille des Herzens das Unrecht, das ihm dieser gethan, längst verziehen. Und daß er sich so völlig entwurzelt vom Heimathboden wisse, bezeichnete er als Ursache eines tiefen Kummers, der an ihm zehre.

‚Ja, ja, mein Junge,‘ sagte er gleich am ersten Abend unseres Beisammenseins zu mir, ‚verlassen soll man das warme und bequeme Bett, das einem die Heimath bietet, bei Zeiten, in der Jugend und hinausgehen in die Welt, um die Kräfte zu stählen und mit eigener Hand sich sein Glück zu schmieden; aber man soll sie doch nur verlassen, um wieder zurückzukehren. Wenn ich nur ein wenig besser zu unserer Familie passen würde, ich wäre schon längst einmal wieder hinüber und hätte mich nach einem hübschen Platze umgeschaut an unserem Ostseestrand, am Rande der alten Buchenwälder, die so schön doch nirgends wieder zu finden sind, um mir für die Tage des Alters ein gemüthliches Nest da zu bauen. Du bist erstaunt, daß Dein see- und landfahrender Onkel so spricht? Es ist aber doch mein voller Ernst. Ganz sich loslösen von seiner Heimath kann und darf niemand, wenn er nicht an den teuersten Besitzthümern des Herzens Verlust erleiden soll. Ich bin auch hier in Amerika ein Deutscher geblieben, und wenn meine Gedanken gelegentlich nach Stettin ziehen und Einkehr im alten Vaterhaus halten, so geht auch unser guter alter plattdeutscher Spruch durch meine Seele:

‚Nord, Ost, Süd, West –
To Hus is’ best.‘

Und darum müsse er es bedauern, wenn sein Beispiel dazu beigetragen, mich auf die Dauer der Heimath zu entfremden. Daß ich fortgelaufen und auf meine Manier ein tüchtiger Mann der Arbeit geworden sei, darüber wolle er nicht mit mir rechten; daß ich aber auch wieder zurückkehre und mit den Meinen noch rechtzeitig meinen Frieden mache als vernünftiger Sohn, wie es sich gehöre, das erwarte er von mir, und es mir zu erleichtern, solle seine Sorge sein. Ich erwiderte zwar, daß ich nicht eher zurückkehren könne, als bis ich fest auf eigenen Füßen stehen werde, drückte aber dem braven Onkel, der so viel Herz sich hinter der wetterharten Brust bewahrt hatte, gerührt die Hand.

In der That fühlte sich das meine auch keineswegs von der Heimath losgelöst. In den Zeitungen verfolgte ich die politischen Wandlungen im großen deutschen Vaterlande wie irgend ein anderer stimmberechtigter Bürger. Mit Genugthuung nahm ich den Prozeß wahr des allmählichen Erstarkens und der Rückwirkung desselben auf das Ausland, das dem deutschen Namen mit wachsendem Respekt zu begegnen begann. Dann bestand aber auch noch eine direkte Beziehung zwischen mir und der Heimat. Um meinen Fluchtplan hatte ein einziges Wesen gewußt, dem ich auch den Abschiedsbrief an die Eltern anvertraut hatte, welcher erst drei Tage nach meinem Aufbruch der Post übergeben werden sollte. Dieses Wesen war ein Mädchen, das gleich mir damals in dem grünen Alter von sechzehn Jahren gestanden hatte und durch die zwischen uns in aller Stille erblühte Neigung in mehr als einen schweren Konflikt gerathen war. Denn dies treue Lining, so hieß sie und heißt sie – nicht wahr, Alte? – war die älteste Tochter des gestrengen Scholarchen, dessen allzu drückender Schulzucht ich mich so freventlich entzog. Auch sie fühlte sich nicht glücklich in einer Umgebung, die, bei aller gegenseitigen Liebe zwischen den Eltern und ihr, nicht geeignet war, frohe Stunden und heitere Eindrücke, wie sie einem jungen Mädchenherzen Bedürfniß sind, ihr zu bereiten. Der klösterliche Ton im Knabeninstitut beherrschte auch das Familienleben, andererseits war der Vater vom Stundengeben und anderen pädagogischen Geschäften und die Mutter von der Führung des großen Haushalts viel zu sehr in Anspruch genommen, als daß die Erziehung der Tochter eine gleichmäßige hätte sein können. Lina hatte schon überall mit anzugreifen, namentlich die Gartenarbeiten lagen ihr ob, und in einer von rothblühenden Bohnenranken umsponnenen Laube hatten wir uns unsere junge Liebe gestanden. Ohne die Billigung meines Fluchtplans von ihrer Seite würde ich schwerlich aufgebrochen sein. Das Vertrauen in meinen Charakter war aber in dem braven, frühreifen und über die Jahre ernsten Kinde stark genug, um mir nach längerer Ueberlegung, wenn auch unter Thränen, ihren Reisesegen zu geben. Ihr hatte ich die Sorge um den Brief an meine Eltern übergeben und sie übernahm freiwillig, an meine Mutter zu meinen Gunsten oder wenigstens zur Aufklärung über die Motive meines Handelns bald nach meiner Abreise zu schreiben.

Unsere beiden Mütter waren nämlich Freundinnen von der Schule her, und bei einem Besuche der meinen im Heidelberger Institutshaus hatte dieselbe eine warme Sympathie für das junge Mädchen bezeigt und sie eingeladen, später, wenn ich Student sei, einmal während der Ferienzeit auf unser Gut am Ostseestrand zu längerem Besuche zu kommen. Meine gute Mutter, die, wie sie in Bezug auf meine Herzenswahl denselben Geschmack mit mir theilte, auch sonst weit mehr Verständniß für meine Eigenart und den Kern

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 623. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_623.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)