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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

wie er es von dem Weibe, das ihm dereinst Lebensgefährtin sein sollte, verlangte; ihre feine, sinnige Natur hoffte er nach seiner Art für sein ideales Liebesbedürfniß erziehen und bilden zu können. So erkor er die Gespielin der Kindheit und die Schülerin seiner Studentenprofessur zu seiner Geliebten, und was in ihrer Seele längst für ihn erglüht, verhehlte sie ihm nicht länger. Der General von Zenge nahm die Werbung des Sohnes seines verstorbenen Kriegskameraden, der von jeher von ihm wie ein Kind im Hause angesehen worden, zwar nicht ohne einige Besorgniß, aber doch mit Wohlwollen auf, und in seiner, wie in der altbefreundeten Kleistschen Familie begrüßte man das Brautpaar mit herzlicher Freude. In weiteren Kreisen wurde die Verlobung freilich vorläufig noch nicht bekannt.

Wie oft war nun der Garten, bald hüben, bald drüben, der Schauplatz des ersten reinen Liebesglücks der Verlobten! Heinrich verjüngte sich gleichsam. Seine etwas gedrungene Gestalt verlor die angewöhnte Steifheit und gewann elastischere Bewegung; sein sonst schon so ernstes, mißmuthiges Antlitz nahm wieder freundlichere Züge und den kindlichen Ausdruck an, der ihm eigen war und auch in dem ruhigen Blicke der schönen, tiefgründigen Augen lag. Arm in Arm erging er sich mit der hold verklärten Braut unter dem Schatten der Linden draußen vor dem Thore, am Bach entlang, und malte ihr das Glück der Zukunft aus, wie er es sich an ihrer Seite träumte. In der Laube des Zengeschen Gartens saß er mit ihr und las Vossens „Luise“ oder Goethesche Dichtungen vor. Und an mondhellen Abenden wurde aus dem Vorleser wohl auch ein philosophirender Weiser, dessen Grundsätzen über des Lebens rechten Inhalt sie mit Andacht lauschte.

Aber materielle Sorgen begannen sich nun einzufinden. Mußte er doch jetzt, nachdem er Wilhelmine an sein Geschick geknüpft, darauf bedacht sein, zu einträglicher Berufsstellung zu gelangen! Zu unbedeutend war sein Vermögen, um darauf allein, gar mit einem Hausstand, seinen Lebensplan gründen zu können. Und je mehr ihn diese Sorge erfüllte, desto geheimnißvoller that er über das, was er eigentlich beabsichtige; desto rätselhafter wurde er seiner Familie und auch dem General. Das Studium, nachdem er es nun ein Jahr getrieben, gab er plötzlich mit ebenso großem Widerwillen auf, als er es früher mit Begeisterung begonnen hatte. Von einer Professur, zu der er hatte hinstreben wollen, sollte keine Rede mehr sein.

Etwas anderes schwebte ihm jetzt vor. Aber was? Niemand erfuhr es, denn niemand mochte er anvertrauen, daß er damals mit seinen ersten dichterischen Versuchen sich abrang und wie seine Seele zwischen Hoffnung und Muthlosigkeit hin und her schwankte. Nur zu Wilhelmine sprach er schon damals von seiner unüberwindlichen Abneigung gegen jeden festen Beruf und bat sie, als er planlos nach Berlin reiste, ihm trotzdem zu vertrauen.

Willig und aus Liebe zu dem trefflichen, wenn auch nur zu seltsamen Manne that sie, was er gewünscht. Er nahm es ja so ernsthaft, sie als sein Weib geistig zu erheben und sie dadurch, wie auch sich selbst, in hohem Sinne glücklich zu machen! Auch in Berlin dachte er immer nur, wie er für sie und sich den Hausstand gründen könne. Allerhand Aussichten auf Anstellung eröffneten sich ihm; es schien nur an ihm zu liegen, sie zu verwirklichen.

„Als ich,“ las sie in seinem ersten Briefe von dort, „hineinfuhr in das Thor im Halbdunkel des Abends und nun endlich in der stolzen Königsstadt war und meine Seele sich erweiterte, um so viele zuströmende Erscheinungen zu erfassen, da dachte ich: wo mag wohl das liebe Dach liegen, das einst mich und mein Liebchen schützen wird? Hier in der stolzen Kolonnade? Dort in jenem versteckten Winkel? Oder hier an der offenen Spree?“ In süßen Hoffnungen wiegte sich ihr Herz bei solchen Worten.

Und so steigerte er, befangen in glücklichen Hoffnungen, das Vertrauen ihrer Liebe immer von neuem: „Denke, Du wärest in das Schiff meines Glückes gestiegen mit allen Deinen Hoffnungen, Wünschen und Aussichten. Du bist schwach, mit Stürmen und Wellen kannst Du nicht kämpfen; darum vertraue Dich mir an, mir, der mit Weisheit die Bahn der Fahrt entworfen hat, der die Gestirne des Himmels zu seinen Führern zu wählen und das Steuer des Schiffes mit starkem Arm zu lenken weiß! So lange der Steuermann noch lebt, sei ruhig! Beide gehen unter in den Wellen, oder beide laufen glücklich in den Hafen; kann sich die Liebe, die echte Liebe, ein freundlicheres Schicksal wünschen?“

Aber er kam keinen Schritt weiter, der Geliebten ein Heim zu bereiten, denn von einem Grauen vor der trostlosen Oede des Bureaudienstes erfaßt, verwarf er jeden Gedanken daran, brach alle Verbindungen, die ihm zur Erlangung einer Anstellung förderlich sein sollten, ab, verließ Berlin und machte Reisen nach den verschiedensten deutschen Städten, ja floh in einer phantastischen Aufregung bis nach Paris, wo er Freiheit, weitere Bildung und wohl auch, obgleich er dies gegen niemand aussprach, die endliche Gestaltung seiner inneren Gefühle zu einem bedeutenden Dichtwerk erhoffte. Es war ihm, als müsse dort sein Geschick sich wunderbar entscheiden.

„Mädchen!“ schrieb er unterwegs an die Verlobte. „Wie glücklich wirst Du sein! Und ich! Wie wirst Du an meinem Halse weinen, heiße, innige Freudenthränen! Der Würfel liegt, und wenn ich recht sehe, wenn nicht alles mich täuscht, so stehen die Augen gut. Küsse mich, Mädchen, denn ich verdiene es.“

Weiter sagte er nichts von seinen Plänen; sie erfuhr aus allen seinen Briefen aus Paris nur immer wieder, wie er sich mit den Gedanken an sie, an ihre Idealisirung, möchte man sagen, und ihr künftiges Eheglück trug. „Dich, mein geliebtes Mädchen, ausbilden, ist das nicht etwas Vortreffliches? Und dann mich selbst auf eine Stufe näher der Gottheit stellen – das Ziel ist gewiß hoch genug und erhaben.“

Der alte General von Zenge faßte allmählich immer schwerere Bedenken über den zukünftigen Schwiegersohn. Er schüttelte seinen grauen Kopf bei der Wahrnehmung, wie der junge Mann an seiner Braut fort und fort schulmeisterte, allerhand Illusionen in ihr erregte, als solle sie, statt auf der Welt, in einem erträumten Wolkenkuckucksheim ihre Bestimmung erwarten, und er daneben jeder Gelegenheit für einen einträglichen Lebensberuf mit Gleichgültigkeit aus dem Wege ging. Eine Idee verdrängte in seiner rastlosen Phantasie die andere, und jede dieser Ideen konnte den Vater über das Schicksal seiner verlobten Tochter nur besorgter machen. Da fühlte der Bräutigam auf einmal den Beruf eines Dichters in sich; dann, nachdem er in Paris Monate lang sein Geld ausgegeben, wandelte ihn wieder die Leidenschaft fürs Reisen an. Ja, wohin sollte dies denn führen?

Wilhelmine schwieg bei solchen Scheltreden ihres Vaters auf den Geliebten. Ihr Glaube an ihn wankte nicht, entfuhr ihr im stillen Kämmerlein auch schon mancher Seufzer, fiel auch manche heiße Thräne auf die Briefe, die er sandte und die seiner inneren Qual erschütternden Ausdruck gaben.

„Liebe Wilhelmine, laß mich reisen!“ hieß es in einem derselben. „Ist es eine Verirrung, so läßt sie sich vergüten und schützt mich vor einer anderen, die vielleicht unwiderruflich wäre. Sobald ich einen Gedanken ersonnen habe, nach dem ich wieder streben kann, kehre ich um, ich schwöre es Dir … Es muß etwas Gutes aus diesem inneren Kampfe hervorgehen.“

Dieser ewige innere Kampf in ihm – mußte sie darin nicht mehr und mehr das Verhängniß ihres und seines Lebens erkennen? Sah sie diesen Steuermann, in dessen Glücksschiff sie sich gesetzt, nicht planlos auf den Wellen treiben? „Warte zehn Jahre und Du wirst mich nicht ohne Stolz umarmen!“ Kann solcher Zuruf eine Braut erheben?

Er schickte ihr Rousseaus Schriften, um sie zu studiren, sich weiter daran zu bilden. Offenbar ein netter Einfall von ihm, sich und sie mit einem erträumten Leben nach Rousseauschen Ideen glücklich zu machen.

„Das kleine einsame Hüttchen unter dem schützenden Felsen,“ malte er ihr auch schon aus, „der Strom, der Kühlung und Nahrung zugleich herbeiführt, Freuden, die keine Idylle malen kann, Wünsche, die nicht über den Gipfel der umschließenden Berge fließen – ach, liebe Wilhelmine, ist Dir das nicht auch so rührend und reizend wie mir? Wer erfüllt getreuer seine Bestimmung nach dem Willen der Natur, als der Hausvater, der Landmann?“

Es war das unselige Mißtrauen in die eigene Kraft, seine Verzweiflung daran, jemals etwas Hohes und Schönes leisten zu können, was ihn zu solch völliger Resignation trieb. Eine Erklärung über verschiedene begonnene und wieder aufgegebene Arbeiten wollte und konnte er nicht geben; er fühlte es selbst, wie er Wilhelmine quälte, und konnte sich doch nicht entschließen, sie in sein Innerstes blicken zu lassen.

„Erlaß es mir,“ schrieb er, „mich deutlicher zu erklären. Ich bist noch nicht bestimmt, und ein geschriebenes Wort ist ewig.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 645. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_645.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)