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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Aber hoffe das Beste! Ich will mich nicht mehr übereilen; thue ich es noch einmal, so ist es das letzte Mal. Denn ich verachte entweder dann meine Seele oder die Erde, und trenne sie.“

Daraus klang auch schon Verzweiflung und Lebensüberdruß. Wilhelmine konnte nicht mehr froh in eine Zukunft blicken, die sie von diesem zerfahrenen Geist ihres Verlobten erwarten sollte. Bescheiden, wie ihr Sinn war, befaß sie doch eine ruhige Bestimmtheit des Charakters, welche einen besseren Halt im Leben verbürgte als Heinrichs schwankende und phantastische Natur. So fing sie jetzt an, deutlich den unheilbaren Zwiespalt ihrer beiderseitigen Naturen zu erkennen.

An alles, was er ihr noch vom Glück der Zukunft schrieb, glaubte sie nicht mehr. Er wollte sich ein Gütchen in der Schweiz kaufen, einen kleinen Bauernhof, wozu wohl noch der Rest seines Vermögens gereicht hätte; und da sollte sie mit ihm zusammen die Rousseausche Idylle vom glücklichsten Leben verwirklichen, mit ihm ländliche Arbeit treiben und, wenn der sonnige Tag darüber vergangen, abends vor dem Hüttchen im Mondschein sitzen, die kühle Luft genießen, vom Dichten und Denken der großen Geister mit ihm plaudern.

Der General, als er davon hörte, erklärte ihn rundweg für einen Narren, und alle im Hause ebenso wie in der Kleistschen Familie stimmten halb und halb damit überein und verdachten es Wilhelminen nicht, daß sie sich auf diese Abenteuerlichkeit nicht einlassen wollte. Sie schrieb es ihm, schonend, liebevoll; sie war es jetzt, die ihn auf den Weg zum Glück zu führen suchte, indem sie ihn zunächst von dem des Unglücks abmahnte. Das aber ertrug sein herrischer Sinn nicht. Beleidigt, im Innersten aber auch beschämt durch die Niederlage bei dem Mädchen, das er selbstherrlich gestrebt hatte, zu willenloser Gefolgschaft sich zu erziehen, schwieg er. Kein Brief mehr kam von ihm an sie; sie hörte nur von seiner Schwester, daß er wirklich in der Schweiz war und ins Vaterland nicht anders denn als gefeierter Dichter zurückkehren wolle. War sie noch seine Braut oder nicht? Hatte er mit ihr gebrochen oder grollte er nur?

Sie wußte es nicht. Ein Jahr war er schon fort und sie trug treu noch die Fessel, die er ihr angelegt. Ihre Liebe gehörte noch immer ihm. Nun starb ihr Bruder Karl, mit dem sie durch die innigste Liebe verbunden gewesen war. Da folgte sie dem Zug ihres Herzens und schrieb dem Geliebten, daß er sich jetzt mit dem wirklichen Leben befreunden und zurückkommen müsse, daß sie an ihm hänge nach wie vor und es mehr denn je bedürfe, von ihm getröstet zu werden.

Wohl erfolgte darauf eine Antwort. Er sandte ihr ihren Brief zurück mit einigen wenigen Zeilen, kalt, herzlos beinahe: daß er nicht zurückkehre, daß er arm sei und sich von der Schriftstellerei ernähren wolle, daß er ihr nichts mehr bieten könne.

Also für immer gebrochen! Ein schmerzvolles Ende ihres Mädchentraumes, in den er sie gelullt!

Vier Jahre nach diesem Vorgang, 1806, fügte es eine der wunderbaren Launen des Schicksals, daß sie in dem fernen Königsberg ihn wiedersehen sollte.

In einer größeren Gesellschaft daselbst befand sich ein ernster junger Mann von dreißig Jahren, der lange abseits des frohen Tanzkreises stand und zu überlegen schien, ob er gehen oder bleiben solle. Endlich entschloß er sich, auf eine Dame, die eben allein nach einem der Nebenzimmer sich begab, zuzugehen. Sie hielt bei seinem Anblick erschrocken inne; dann rief sie halb verlegen, halb zutraulich aus:

„Herr von Kleist! Heinrich!“

Er reichte ihr die Hand und bat sie, zum Tanz mit ihm in den Saal zurückzukehren. Sie that es gern und verstand im Augenblick, einen herzlichen Ton mit dem Jugendfreund zu finden. Es war Luise von Zenge, die jüngere Schwester Wilhelminens, für welche er stets eine große Zuneigung gehabt hatte.

Sie wußte es wohl, daß Heinrich von Kleist seit einiger Zeit in Königsberg war, wo er eine bescheidene Anstellung als preußischer Finanzbeamter erhalten hatte. Ihm seinerseits war es ebenso durch seine Stiefschwester Ulrike bekannt geworden, daß und warum Fräulein von Zenge in der nordischen Stadt lebte. Sie hatte Wilhelmine dahin begleitet, welche seit Jahresfrist etwa mit dem von Frankfurt an der Oder nach Königsberg an die Universität versetzten Professor der Philosophie Wilhelm Traugott Krug verheiratet war. Aber eines war dem anderen hier noch nicht begegnet, und Heinrich hatte ein solches für ihn peinliches Zusammentreffen zu vermeiden gesucht.

Jetzt ließ er dem Zufall sein Recht. Er öffnete der Freundin, die er früher nicht anders als die „goldene Schwester“ genannt, sein übervolles Herz, klagte über sich selbst, der noch den Irrfahrten des Lebens und nach ehrgeizigstem Ringen um dichterischen Erfolg und Ruhm an Geist und Körper gebrochen ins Vaterland zurückgekommen war und nun nach allen Stürmen und Kämpfen in dem Hafen eines kleinen Staatsamts Ruhe und Sammlung zu finden hoffte.

Er fragte Luise dann auch, ob ihn Wilhelmine wohl wiedersehen möchte. Sie war ebenfalls auf dem Ball; er hatte das blühende Weib schon gesehen, wie es sich graziös im Arm des Gatten im Tanzreigen bewegt. Luise führte ihn darauf zum Professor Krug, einem etwas älteren, lebensfreudigen, geselligen und liebenswürdigen Manne, und stellte ihn demselben vor. Krug, der in Frankfurt Wilhelmine kennen gelernt und um ihre Hand geworben hatte, als er den Ruf nach Königsberg bekam, kannte natürlich die früheren Beziehungen des Herrn von Kleist zu seiner Gattin. Aber dies hielt ihn bei seiner Theilnahme für den früheren unglücklichen Bräutigam Wilhelminens nicht einen Augenblick ab, ihn seiner jungen Frau zuzuführen und aufs freundlichste in sein Haus zu laden.

So sahen sie sich denn wieder, die einst sich für das Leben einander verlobt und deren Wege seitdem so sehr aus einander gegangen waren. Er fand sie als die glückliche Frau eines schon berühmten Gelehrten; sie ihn als einen Schiffbrüchigen, der sich in sein Geschick ohne Zufriedenheit zu ergeben suchte. Eine stumme Zwiesprache führten sie da, als sie sich nach nahezu fünf Jahren wieder gegenüberstanden; ihr Mitleid und sein Leiden tauschten wohl leise einen Seufzer aus.

Im Krugschen Hause fand er so herzliche Aufnahme, daß er bald ein häufiger Gast in demselben wurde. Hier konnte er sich aussprechen; hier boten edle Seelen dem Hadernden und Kleinmüthigen Trost. Die Braut von einst bezeigte sich ihm als eine Freundin; ihre Schwester war ihm wie die seinige. Sie beruhigten oft die wieder aufsteigenden Wogen seines Ehrgeizes. Er las ihnen die Uebersetzungen aus dem Französischen vor, mit denen er sich in seiner freien Zeit beschäftigte, erzählte ihnen von seinen dramatischen Dichtungen, die keinen Erfolg zu erringen vermochten, von den neuen, die er im Kopfe trug, von all den Ideen und Phantasien, mit denen sich sein Hirn erhitzte, und sie ehrten sein Vertrauen durch innige Anteilnahme, durch nachfühlendes Verständniß dieser echten, aber so verdüsterten und verbitterten Dichterseele.

Auf einmal litt es ihn in diesem Frieden nicht mehr. Die alte Ruhelosigkeit kam wieder über ihn. Er stieß das Amt widerwillig von sich, nahm Abschied von Wilhelmine, von Krug und wanderte trotz aller Franzosen im Lande, die nach Preußens Zertrümmerung in der Jenaer Schlacht auch schon die Nordprovinzen überflutheten, in bitterster Januarkälte zum Thore von Königsberg hinaus nach Berlin. –

Wilhelmine sah ihn nur noch einmal wieder, in Leipzig, wohin Professor Krug 1809 versetzt worden war. Sonst verlor sie sein Thun und Treiben auf seinen weiteren Irrfahrten fast aus dem Auge. Gelegentlich nur kam ihr etwas von seinen neuen Schriften zu Gesicht; von der Kleistschen Familie in Frankfurt aber erhielt sie die schlimme Nachricht, daß sie Heinrich als einen Menschen betrachtete, dem nicht mehr zu helfen sei und der elend an seiner Ueberspanntheit untergehen müsse.

Eines Tages, Ende November 1811, brachte Professor Krug seiner Gattin ein Zeitungsblatt. Ein Blick auf die von ihm bezeichnete Stelle, und sie erstarrte. Sie las, daß Heinrich von Kleist sich mit der gemüthskranken Gattin eines Berliner Beamten am Wannsee im Grunewald erschossen hatte. Als Leben in sie zurückgekehrt, flog sie an die Brust ihres Mannes und weinte da lange und heftig. Er verstand die Thränen, die sie einem Unglücklichen weihte, der doch ein echter Dichter gewesen war und mit seinen Masterwerken „Der Prinz von Homburg“, „Der zerbrochene Krug“, „Das Käthchen von Heilbronn“, „Penthesilea“ u. a. sich die Unsterblichkeit geschaffen hatte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 646. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_646.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)