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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

unvorsichtige Bewegung meines Begleiters stutzte der Hirsch, und da schlug er auch schon um wie der Wind und verschwand im schützenden Dickicht, ohne daß es mir gelang, einen Schuß anzubringen.

Mit großen Augen schaute mein Freund mich an und meinte mit kleinlauter, schwankender Stimme: „Du, mir scheint, Du hast mich aufsitzen lassen – mit Deinem Gemecker!“

„Ja, scheint mir auch,“ brummte ich ärgerlich, „aber derjenige, der am meisten dabei aufgesessen ist, bin ich. Hätt’ ich Dich richtig vorbereitet, so wärst Du ruhig an meiner Seite geblieben, wärst nicht erschrocken aufgesprungen und hättest Dich nicht als wackelnde Kugelwehr mitten zwischen den Hirsch und meine Büchse gestellt. So geht’s mit der Bosheit – ich habe den Schaden davon und Du den Schrecken.“

„Schrecken? Das heißt …“

„Laß nur gut sein, Du brauchst Dich nicht zu schämen, denn vor dem ,Hirschfieber‘ ist der älteste Jäger nicht sicher.“

„In der That, so ein schwarzer Bursche hat etwas an sich, was einem das Herz klopfen macht. Wenn den die Lust angewandelt hätte, mit seinem Geweih ein klein wenig nach uns zu stochern …“

„So gefährlich ist die Sache nun doch nicht. Die Berghirsche sind scheu, auch in der Brunftzeit, und ich wüßte mich keines Falles zu erinnern, daß ein gesunder Berghirsch, wie es von brunftigen Parkhirschen häufig erzählt wird, einen Menschen ‚angenommen‘ hätte. Etwas anderes ist es mit einem angeschossenen oder mit einem bei der Treibjagd in die Enge getriebenen Hirsche. Von solch einem verzweifelten oder vor Schmerz rasenden Thiere ist manch ein Treiber und Jäger schon übel zugerichtet oder gar zu Tod ,geforkelt‘ worden.“

„Und das soll an Vergnügen sein? Ich danke für solche Jagd.“

Ich lachte. „Spür es nur einmal selbst, wie Dir in unnennbarer Freude das Herz schlägt, wenn der geweihte Recke im Feuer stürzt und wenn Du mitten im Zauber der Natur als Herr und Meister stehst – dann wirst Du anders reden!“

Wir hatten die Jagdhütte erreicht und streckten uns nach einem bescheidenen Abendbrot und einer behaglich verplauderten Stunde aufs duftende Heu zur Ruhe – allerdings zu einer recht zweifelhaften Ruhe. Meinen Freund ließ das ungewohnte Lager und die herbstliche Kälte der Nacht nicht schlafen; mich aber hielten die Hirsche wach, die es toll trieben die ganze Nacht und bald das träge „Grohnen“ und „Trenzen“, bald den vollen, gedehnten Orgelton, bald wieder den kurzen, rauh tönenden Kampfschrei vernehmen ließen. Immer wieder erhob ich mich, lauschte und spähte hinaus in das Dunkel, und wenn ich einen Hirsch ganz in der Nähe der Hütte schreien hörte oder im matten Sternenschein einen Schatten huschen sah, dachte ich mit stillem Neide jener Glückspilze, die schon manch einen schreienden Hirsch bei hellem Mondschein von Hüttenfenster aus geschossen. Daneben quälte mich die Sorge, daß sich die Hirsche, da sie fast die ganze Nacht hindurch munter waren, am Morgen desto schlechter „melden“ würden.

Diese Ahnung bestätigte sich leider; als wir um die fünfte Morgenstunde aus der Hütte traten, war weit und breit nicht der leiseste Grohner zu vernehmen. Verwundert schüttelte der Jäger den Kopf: „Was sagst jetzt da dazu. Heut’ Nacht wie narrisch – und jetzt net an einzigen Röhren! Wann die Teufeln mit ei’m solchenen Morgen nimmer z’frieden sind, nachher weiß ich bald nimmer was!“

Das war auch wirklich ein Brunftmorgen, wie ihn die Hirsche (und auch die Jäger) sich schöner nicht hätten wünschen können. Kein Wölklein am Himmel, an welchem die Sterne noch glänzten mit falbem Schein, indessen die östliche Ferne sich schon zu lichten begann; auf Gras und Büschen der weiße Reif; eine Kälte, daß der Athem gerann, und dazu ein Wind, welcher schnurgerad’ von den mattschimmernden Felswänden niederzog über den Wald. Und dennoch kein Laut in der weiten Runde. So alt und erfahren die Jägerei auch ist, so hat sie aber manche Dinge doch nur ein Fragezeichen zu machen.

Zahllose Hypothesen sind schon über die fraglichen Ursachen aufgestellt worden, welche eine mehr oder minder lebhafte Brunft veranlassen; aber jede dieser Hypothesen paßt nur immer für gewisse Verhältnisse, keine klappt für alle Fälle. Natürlich ist es, daß die Brunft um so lebhafter sein wird, je größer der Stand an Hirschen ist; da giebt ihnen schon die Eifersucht eine fleißige Kehle. Auch trifft es allgemein zu, daß die Brunft sich besonders lustig und energisch in jenen Gegenden gestaltet, in denen die Hirsche die stärkeren Geweihe tragen, in denen ein milder Winter und ein schönes Frühjahr mit reichlicher Aesung eine kräftige Entwicklung des Wildes begünstigte. Weshalb aber bei gleichem Wildstand und gleichen klimatischen Voraussetzungen der eine Herbst eine frische Brunft, der andere eine träge bringt, weshalb die Hirsche oft durch mehrere Tage unermüdlich orgeln, um dann jählings zu verstummen, weshalb sie das einemal lieber bei Nacht, das anderemal lieber am hellen Tage, das einemal lieber bei lauer Witterung, das anderemal lieber bei scharfem Frost und frühem Schneefall schreien, darüber sind die Gelehrten unter den Jägern noch immer nicht einig. Die Liebe bleibt eben unter allen Umständen eine eigene Sache, und auch das Herz der Thiere ist ein kapriziöses Ding.

Das alles plauderte ich mit leisen Worten meinem Freunde vor, während wir achtsamen Schrittes dem thalwärts führenden Steige folgten. Gleich vor der Jagdhütte hatte der Jäger sich von uns getrennt, um bergwärts zu steigen und den Einzug des Wildbrets auf einer großen, steilen Almlichtung zu beobachten, mich aber reizte der Versuch, ob es mir nicht gelingen möchte, noch einmal mit jenem schwarzen Herrn aus dem Dickicht aneinander zu gerathen. In weitem Bogen umgingen wir den Schlag, und ungefähr an jener Stelle, an welcher das Sechserhirschlein im tieferen Gehölze verschwunden war, kamen wir aus dem Walde. Ueber dem Schlage lag das schwache Grauen des nahenden Morgens, und schon auf den ersten Blick gewahrte ich inmitten der Rodung den Hirsch, freilich nur als schwarzen Schatten mit trüben Umrissen. Er hatte drei Stück Wildbret bei sich, die er langsam umkreiste und immer mehr gegen die Dickung emportrieb. Er schien die Gefahr zu ahnen, die ihm mit dem steigenden Lichte drohte, und suchte vor Einbruch desselben seinen kleinen Harem und sich selbst in Sicherheit zu bringen. Ich schaute mir fast die Augen aus dem Kopfe, aber bei der herrschenden Dämmerung war es unmöglich, richtig und sicher zu visiren – ich mußte zu meinem Aerger den Hirsch ziehen lassen ohne Schuß.

Zwischen moosigen Steinblöcken richteten wir uns häuslich ein. Das Verschwinden des Hirsches nahm mir noch immer nicht alle Hoffnung. Trotz ihres zottigen Winterkleides spüren auch die Hirsche die Kälte der Nacht, und da ziehen sie nicht ungerne ein zweites Mal aus, wenn die warme Morgensonne den Reif von den Kräutern schmilzt. Es konnte ja auch sonst der Zufall einen „suchenden“ Hirsch des Weges führen. Auch der König der Bergwälder folgt nach Schillerschem Rezepte „ihren Spuren“, wenn auch nicht „erröthend“. Von Beginn der Brunftzeit ist das

„Ein ewiges Suchen und Wandern …“

bei allen schwächeren Hirschen, besonders bei jenen, die der tyrannische „Platzhirsch“ vom Rudel abgekämpft hat. Dieses Wandern der Hirsche beginnt in den Bergen gegen Ende September. „Um Aegidi“ (1. Sept.), sagt wohl ein alter Jägerspruch, „tritt der edle Hirsch in die Brunft“, und die sittsam erzogenen Parkhirsche mögen auch halbwegs diesem Spruche folgen; der freie Berghirsch hört aber nun einmal mehr auf die Stimme der Natur als auf die Mahnung des alten Jägerkalenders. Dann aber sind sie unermüdlich, die verliebten Herren, dann wandern sie bergaus und bergein, am gleichen Tag oft zwei und drei aneinander stoßende Reviere kreuzend, bis sie finden, „was ihr Herz begehrt.“

Geduldig saßen wir, es kam der Morgen mit seinem fahlen Himmel und seinen aus dem schmelzenden Reif erdampfenden Nebeln, welche sich langsam aufwärts kräuselten in die Luft und wieder in nichts zerrannen. Es stieg das leuchtende Gestirn empor über die Berge und goß sein lautres Gold über Wald und Rodung. Die wenigen Vögel, welche mit dem Herbste in dieser Höhe noch ausgeharrt hatten, wurden munter, flatterten pfeifend über die kalten Steine und sträubten das Gefieder. Ich hatte fleißig zu thun mit Augen und Ohren, und der Jagdeifer hielt mich warm, mein Freund aber, der meiner Prophezeiung gemäß die Sache längst schon „ungemüthlich“ fand, klapperte in dem frostigen Schatten, darin wir saßen, zu seiner einzigen Unterhaltung leise mit den Zähnen. Stunde um Stunde verrann, keiner der ersehnten Wanderer ließ sich blicken, und auch der „schwarze Bursche“ erschien nicht wieder, der hatte sich irgendwo im Dickicht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 660. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_660.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)