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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

zur Ruhe gethan und ließ nur ab und zu an schläfriges Trenzen hören, bis er endlich ganz verstummte. Gegen elf Uhr – sechs Stunden hatten wir ausgehalten – erlöste ich meinen Freund aus seinem Klappern und Frösteln, um ihn der geheizten Jagdstube und der warmen Suppe zuzuführen. Bei der Ankunft in der Jagdhütte erhielt ich für meine schöne Geduldsprobe einen bitteren Lohn, denn der Jäger empfing mich mit den Worten: „Aber na, g’rad heut’ müssen S’ da ’nunter tappen! Bei mir wann S’ gewesen wären, Sie, da hätten S’ an Prügelhirsch derschossen! Am hellen Morgen is er noch draußen g’standen mitten auf der Almlichten – und a Zwölferg’weih hat er droben g’habt – a Staat und a Pracht! Aber warten S’ nur, der rumpelt uns schon an heut’ abends!“

So sehr ich mich nun über meinen Eigensinn ärgerte, so gaben mir die Worte des Jägers doch wieder gute Hoffnung für die Abendbirsche.

Um drei Uhr machten wir uns auf den Weg, da wir gut anderthalb Stunden zu steigen hatten, um die entlegene Alm zu erreichen. Die hohen, von gelbem Sonnenlicht umflammten Felsenhäupter warfen bereits ihre Schatten über den Bergwald und es frischte schon in der Luft, so daß ein kalter Wind zu erwarten stand. Auf einem kleinen Wiesenflecke stand ein Schmalreh sorglos und vertraut, wie wenn es wüßte, daß es von uns keine Gefahr zu fürchten hatte. Durch das braune Heidelbeerfeld, an welchem wir vorüberkamen, glitt unsichtbar eine Auerhenne mit näselndem „gnäk, gnäk“, und hoch über den Almen, auf einem leicht beschneiten Grate, rodelte und grupelte ein Spielhahn so lustig, als wäre Mai und Falzzeit in den Bergen.

Und jetzt – dieser Ton, der für einen Augenblick die Hände zittern und das Blut in den Adern sieden machte! Das war der Hirsch. Wir hörten ihn schon und waren noch über eine halbe Stunde von der Alm entfernt. Der Kerl hatte eine „Lauten“ (Stimme), so dumpf und grollend, als käme sie aus einem Kanonenrohr. Vom linksseitigen Berghang antwortete ihm ein zweiter Hirsch mit schwächerer Stimme, der aber schon nach wenigen Schreien wieder verstummte. Nach einem beschleunigten Marsche, während dessen das Kanonenrohr dort oben immer fleißig weiterbrummte, erreichten wir den unteren Saum der großen Almlichtung. Mitten in dem steilen Grasgehänge stand auf einem kleinen vorspringenden Plateau die schon seit Wochen verlassene Sennhütte, welche uns einen guten Stand geboten hätte, da von ihr aus so ziemlich das ganze „Almbrett“ zu beschießen war. Doch war es nicht mehr räthlich, über den ungedeckten Hang zur Hütte emporzusteigen, da der Hirsch in dem schütteren Lärchenwalde schrie, der die Höhe des Almfeldes begrenzte. Auch war der Wind noch nicht besonders gut; er zog wohl schon im Schatten abwärts, schlug aber doch manchmal noch in rechts und links ausweichenden Halbwind um. So setzten wir uns, um nur so nichts zu verderben, am unteren Waldsaum einer breitästigen Tanne zu Füßen und deckten uns mit vorgesteckten Zweigen.

Der tiefe Baß, der über uns so fleißig übte, hatte auch meinen Freund in Aufregung gebracht, und nach seiner Meinung hätte ich stracks die Büchse spannen und kerzengerade dem orgelnden Herrn entgegenstehen müssen. Er wollte gar nicht glauben, daß der Hirsch so unliebenswürdig wäre, nicht so lange Stand zu halten, bis ich ihm aus aller Nähe die Kugel aufs Blatt gebrannt. Es mag wohl häufig und ohne besondere Mühe gelingen, einen schreienden Hirsch, der des Morgens einsam zu Holze zieht, bei gutem Winde auf Schußweite anzubirschen. Hat aber der Hirsch nur ein paar Stücklein Wildbret in seinem Gefolge, so ist er sicher vor dem Nahen des Jägers. Die braunen Damen sind zu aller Zeit gar fleißig mit „Aeugen“ und „Winden“, besonders aber während der Brunft, da steigert sich ihre Wachsamkeit auf das doppelte Maß und sie scheinen genau zu wissen, daß nun in ihrer Hut das Heil und Leben ihres Herrn und Gatten steht, den die Leidenschaft der Liebe und Eifersucht trunken und sorglos macht, blind und taub für alle Gefahr. Sie haben schon recht, wenn sie in den Bergen singen:

„Bei die Buben, bei die Deandeln,
Bei die Thierlein im Wald –
die Lieb’, die hat allweil
Den nämlichen G’walt.“

Eine Stunde verfloß; die Strahlenkronen, welche die sinkende Sonne um die Gipfel der Berge spann, erloschen allmählich, ein grauer, kalter Schatten deckte alles Gehänge, immer schärfer und frostiger wurde der Wind, und aus den feuchten Schluchten stiegen dünne Nebel, die sich in langen Streifen schlangenartig durch die Wipfel der Bäume wanden. Ueberall herrschte lautlose Stille, welche nur manchmal durch den unbehaglich grellen Ruf des Baumläufers unterbrochen wurde.

Gegen sechs Uhr hatte der Hirsch sein Schreien eingestellt. Mein Freund hatte dazu ein langes Gesicht geschnitten; ich und der Jäger aber, wir hatten uns schmunzelnd angeblickt; wir kannten dies Verstummen als ein Zeichen, daß nun das Wildbret schon im Auszug begriffen wäre. Es dauerte auch kaum eine Viertelstunde, bis in der Höhe zwischen den Lärchenboschen der emsig sichernde Kopf eines Thieres erschien. Zwei Kälberstücke mit ihren Sprößlingen traten aus dem Holze, und während die beiden Mütter sich vor einander hinpflanzten, als hätten sie geheimen Klatsch zu halten, tollten die Kälber mit lustigen Sprüngen auf und nieder über den steilen Hang und rings um die Sennhütte, ein paar gesunden Kindern vergleichbar, die den ganzen Tag in der Stube gefangen waren und nun am Abend für ein Erholungsstündlein ausgelassen wurden. Zwei Schmalthiere folgten, zu denen sich ein harmloser Spießer gesellte. Wieder kam eine kleine Familie, dann machten ein paar einzelne Stücke den Schluß. Langsam äsend zerstreute sich das Rudel über den Almenhang. Es zählte genau zwölf Köpfe – ein gutes Omen! Da mußte der Hirsch als Dreizehnter erscheinen – und Jäger sind ja immer ein wenig abergläubisch. Mit gespannten Blicken sahen wir unverwandt der Höhe zu; ruhig schlossen sich meine Hände um die Büchse, an den Schläfen aber hämmerte mir das Blut.

Und da kam er nun – durch einen tiefen Grohner meldete er sich an, kreischend schwirrte ein Tannenhäher aus den Lärchenwipfeln, Aeste knackten – jetzt sahen wir ihn zwischen den untersten Bäumen stehen, vom dunklen Abendschatten des Waldes überschleiert – eine kurze Weile zögerte er noch, dann zog er majestätischen Ganges einem vorspringenden Grashügel zu. In scharfen Umrissen hob sich hier sein wuchtiger Körper mit dem herrlichen Kronengeweih vom fahlgelben Himmel ab. Langsam streckte er den Grind, daß der zottige Hals sich blähte, und während ihm der heiße Athem vom Aeser rauchte, hallte sein dumpfer, langgezogener Orgelton in die Lüfte.

War das ein Echo? Nein – uns zur Linken, tief im Walde, meldet sich jener Hirsch, dessen Stimme wir schon einmal vernommen. Stutzend hebt der Platzhirsch den Grind, antwortet mit zornigem Schrei, und zwischen ihm und jenem andern entwickelt sich nun Ruf und Antwort ohne Ende. Dabei umkreist der Platzhirsch unablässig sein Rudel, immer enger treibt er es auf einen Knäul zusammen, und wenn ein Stücklein ausbricht, holt er es mit wilden Sprüngen ein. Bei all dieser Unruhe aber, bei all diesem Hin und Her bleibt er zu meinem Kummer immer weit außer Schußbereich.

„Halten S’ Ihnen nur stad,“ tröstet mich der Jäger, „bald der ander’ Hirsch auf d’ Almlichten ’reinschreit, nachher macht der Zwölfer schon amal an Rumpler gegen uns.“

In heißer Erregung lausche ich nun dem Walde zu, und immer höher schlägt mir das Herz, je näher der Brunftschrei des ziehenden Hirsches tönt. Jetzt sehen wir ihn aus dem Walde treten, etwa dreihundert Schritte von uns entfernt; es ist ein starker Achterhirsch, und er scheint ein muthiger Bursche zu sein; heiß mag die Liebessehnsucht in seinem Blute brennen, denn Schritt um Schritt steigt er der Höhe zu, und Schrei um Schrei schickt er in die sinkende Dämmerung. Eines der Schmalthiere zieht ihm neugierig entgegen. Die Flatterhaftigkeit dieser jungen Schönen scheint den Platzhirsch in wilden Grimm zu bringen; er läßt einen kurzen, heiser brüllenden Schrei vernehmen, dann senkt er den Grind, bohrt die Enden seines Geweihes in die Erde, reißt den Rasen auf und schleudert ihn in Stücken aus einander. Ein doppelter Schrei, und zornmuthig stürzen die beiden Kämpen einander entgegen. Regungslos steht ihnen das Rudel zur Seite; Stücke und Kälber halten die Lauscher erhoben und die Lichter unverwandt nach den Kämpfern gerichtet, deren Geweihe im Streite klirren wie helle Schwertschläge.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 662. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_662.jpg&oldid=- (Version vom 17.7.2018)