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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Der Herr Oberstabsarzt.
Von H. v. Osten.

Hier, mein lieber Werner, hier haben Sie das gewünschte Zeugniß. Gerathen Sie an einen nur halbwegs trätablen Kollegen vom Militär, so denke ich, daß Sie daraufhin freikommen werden. Ich wünsche es Ihnen von Herzen!“

Mit diesen Worten überreichte mir unser alter Hausarzt mit einem freundlichen Blick über die goldene Brille hinweg das Attest, welches meine inneren und äußere Schäden in so scharfer Weise hervorhob, daß ich jeden andern wegen Verleumdung verklagt hätte – hier drückte ich nur dankbar und verständnißinnig die weiche, fette Hand.

Es lag mir viel daran, vom Militärdienst frei zu kommen. Hatte sich doch eben Gelegenheit gefunden, meinen schönsten Traum zu verwirklichen, das heißt eine Reise um die Welt zu machen, und zwar in einer Weise, die für meinen Beruf als Naturforscher die denkbar günstigste war. Schwerlich würde eine zweite derartig günstige Gelegenheit mir sobald werden, und ich hoffte, wenn ich dieselbe ergriff, in meiner Weise dem Vaterlande einst besser dienen zu können, als wenn ich ein Jahr in Kommißstiefeln einherstolperte. Zudem waren meine Augen durch nächtliche Studien wirklich angegriffen, und mit großer Befriedigung bemerkte ich bei meiner Ankunft in D., daß die staubige Eisenbahnfahrt das Ihrige beigetragen hatte, sie noch mehr zu entzünden.

Die gerötheten Ränder und der trübe Blick, die mir aus dem fleckigen Gasthofspiegel entgegensahen, erweckten die besten Hoffnungen auf Befreiung von meinen soldatischen Pflichten in mir, und in gehobener Stimmung begab ich mich zu einem Stelldichein mit einigen Freunden.

Wir plauderten lustig und gemüthlich und die Leutchen gaben mir die merkwürdigsten Aufträge für die fernen Welttheile mit, als Freund K. mich plötzlich fragte, welcher Arzt mich untersuchen würde.

„Oberstabsarzt Römer,“ antwortete ich.

„Hui,“ machte er mit einem langen, wehmüthig verhallenden Pfiff, „dann Ade die schönen Reisepläne! Packe Deine Koffer wieder aus, mein Junge, bleibe im Lande und folge dem Kalbfell. Der Herr Oberstabsarzt Römer ist ein Herr, der nicht mit sich spaßen läßt. Seiner Ansicht nach gehören zum Militärdienst nur ein Paar tüchtige Arme und Beine, und Deine sind so, Gott sei’s geklagt, in der besten Verfassung. Aber Scherz bei Seite, mach’ Dich auf alles bereit. - Dieser Herr ist so unbeugsam, als hieße er nicht nur Römer, sondern stamme unmittelbar von den alten Quiriten ab.“

Ich blickte fragend im Kreise umher. Die meisten bestätigten durch ein stummes Kopfnicken die Worte des Freundes, und S., der lustige Blondkopf, sprang auf und rief mit Pathos: „Ein volles Glas für den dem Tode Geweihten!“

Wir lachten alle, und hell erklangen die Gläser, aber mit meiner frohen Laune war es vorbei. Ein verteufelter Spaß wäre es doch, wenn K. recht behielte.

Um den üblen Eindruck meines angegriffenen Aeußeren so viel als möglich zu verstärken, beschlossen die opfermüthigen Freunde, die kurze Sommernacht mit mir zu durchjubeln, und die Augen meiner guten Mutter hätten gewiß mit Sorge auf mir geruht, als ich am nächsten Tage bleich und übernächtig in das große, abscheulich helle Zimmer des Doktor Römer trat.

Beim ersten Blick auf den kleinen, untersetzten Herrn mit dem grauen, kurz geschnittenen Haar, unter dem das Gesicht so frisch, beinahe jugendlich hervorsah, zog wieder Hoffnung in meine geängstigte Seele, und mit dem scharfen Blick des Naturforschers glaubte ich zu entdecken, daß die Brille dem alten Herrn nur ein Mittel sei, sich amtliche Strenge zu geben und seine freundlichen, wohlwollenden Augen möglichst zu verstecken.

Nein die Freunde hatten sich einen Spaß mit mir gemacht: dieser Mann war sicher kein militärischer Automat, er würde verstehen – begreifen – und überdies hatte er gewiß schon den Brief des Hausarztes, den ich ihm gestern gleich zuschickte, gelesen – richtig, da lag er so offen auf dem Schreibtische, ich erkannte die geschnörkelte Schrift des alten Herrn. Ich athmete auf.

Doktor Römer kam mir mit ernster Freundlichkeit entgegen, forderte mich auf, Platz zu nehmen und, nachdem er über den Brief des Arztes gesprochen und einige Fragen über meine Familie an mich gerichtet, ich ihm auch meine Pläne bezüglich der Weltreise mitgetheilt hatte, begann er eine lange, gründliche Untersuchung.

Ich fing eben an zu denken, daß der gute Mann seinen Hokuspokus etwas abkürzen könnte, als plötzlich in meine gemüthliche Sicherheit die niederschmetternden Worte fielen:

„Es thut mir leid, mein junger Freund, ich weiß, was für Hoffnungen und Wünsche ich Ihnen zerstören muß, aber ich vermag in Ihrer Konstitution nichts zu finden, was Sie vom Dienste befreien könnte. Trösten Sie sich, Sie sind noch so jung, es kommt schon wieder eine derartige Gelegenheit und Sie werden diese dann mit dem ruhigen Gefühl benutzen können, Ihrer Pflicht genügt zu haben. Das ist doch immer die Hauptsache für einen ehrlichen Menschen.“

Er sagte diese Worte so wohlwollend und sah mich, jetzt ohne Brille, aus hellen blauen Augen so freundlich an, daß ich dem Manne nicht einmal gram sein konnte, der mit einem Worte meine Karrière zerstörte – wie ich damals meinte.

Während ich mich ankleidete, murmelte ich noch einiges über meine durch Studien sehr geschwächten Augen, aber der kleine Oberstabsarzt schüttelte lächelnd den Kopf und meinte: „Nein, nein, damit kommen Sie bei mir nicht durch. Es giebt vielleicht Kollegen, bei denen Sie mit der augenblickliche Entzündung Ihr Glück hätten machen können, aber da das Schicksal Sie nun einmal zu dem alten Römer geführt hat, so müssen Sie auch die Konsequenzen tragen. Ich darf mir derartige kleine Liebenswürdigkeiten nicht erlauben, darf es nicht, wenn ich nicht die Ruhe meiner Nächte gefährde will.“

Ich muß den alten Herrn wohl mit ziemlich dummem Gesichte angesehen haben, denn er lächelte ernst und meinte: „Das scheint Ihnen seltsam, mein junger Freund. Wenn Sie für heute Nachmittag nichts Besseres vorhaben, so trinken Sie eine Tasse Kaffee in meinem Garten, dann erkläre ich Ihnen die Sache. Es liegt mir daran, gerade Ihnen gegenüber mich auszusprechen. Sie gleichen auffallend Ihrer Frau Mama, die ich einst gut kannte, und ich möchte nicht gerne, daß die freundlichen Züge derselben sich verfinsterten, wenn sie zum ersten Male wieder von dem alten Doktor Römer hört.“

Ueberrascht und gerührt von dem herzlichen Ausdruck, mit dem mein freundlicher „Henker“ mir seine Hand entgegenstreckte, ergriff ich dieselbe und sagte mein Kommen zu.

Um vier Uhr fand ich mich mit militärischer Pünktlichkeit ein, und nachdem mir der alte Herr seine Rosen gezeigt und ich seine Spaliere bewundert hatte, setzten wir uns in einer Weinlaube zu einer ausgezeichnete Tasse Mokka, die von einer ebenso guten Cigarre begleitet war.

In einen bequemen Gartenstuhl zurückgelehnt, blickte ich den duftenden Rauchwölkchen nach und war in der menschenfreundlichsten Stimmung, die Bekenntnisse einer Oberstabsarztseele entgegen zu nehmen, obgleich ich noch vor einer Stunde im Kreise der Freunde Rache geschworen hatte.

Doktor Römer ließ sich zuerst von den Meinigen erzählen und hörte aufmerksam zu.

Dann saß er eine Zeitlang schweigend, endlich begann er.

„Nun, man junger Freund, wenn also die Frau Mama Sie fragt, warum der alte Doktor Römer gar so unerbittlich sein müsse, so erzähle Sie ihr folgende kleine Geschichte.

Im Jahre 70 war es, bald nach der Kriegserklärung, ich hatte natürlich alle Hände voll zu thun, als an einem Sommertage wie der heutige ein eleganter älterer Herr mit seinem Sohn bei mir eintrat. An seiner Sprache merkte ich sofort, daß er Pole sei; in dem schönen, echt nationalen Gesichte war eine große Aufregung unverkennbar, so sehr er sich auch mühte, diese zu verbergen.

Der Sohn, ein hochgewachsener, schlanker Mensch, zeigte dieselbe schönen Züge. Seine dunkelblauen, von schwarzen Wimpern umrandeten Augen hatten einen Blick, der Damen wohl gefährlich werden konnte; übriges schien er, trotz seiner Jugend, das Leben schon genossen zu haben. Es lag etwas Welkes in dem schönen Gesicht.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 664. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_664.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)