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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

geschoben, auf dem oft geflickte Fischernetze zum Trocknen ausgebreitet lagen.

In den verwahrlosten Gassen des kleinen, nur von einigen verarmten Fischern und Winzern bewohnten Oertchens brütete die Sonne – man meinte das Gras wachsen zu hören zwischen den zerbröckelnden Fugen des klaffenden Steinpflasters. Eine wahre Dornröschenstimmung überkam uns, die noch wuchs, als wir vergeblich an den Thüren des alten Domes, dessen graue Mauern sich düster und kolossal über niedriges Häusergewirr erhoben, rüttelten – die meisten italienischen Kirchen pflegen in den Mittagsstunden geschlossen zu sein – und uns ebenso vergeblich nach einem menschlichen Wesen umschauten, dem das Amt der Schlüsselbewahrung etwa anvertraut sein mochte. Nachdem wir in verschiedene leere und finstere Haushaltungen geblickt, fuhren wir aus der folgenden entsetzt zurück vor einer zahnlosen, hexenartigen Alten, die im unsagbarsten Negligé hinter dem Dunkel eines Kochherdes auftauchte und ob des ungewohnten Anblicks fremder Eindringlinge sprachlos einen Rührlöffel von unglaublichen Dimensionen sinken ließ.

Wir machten uns schon darauf gefaßt, wie Faust und Mephisto bei ihrem Besuche in der Hexenküche bekomplimentirt zu werden, hatten uns jedoch glücklicherweise getäuscht. Die Unholdin begnügte sich, uns mürrisch und mißtrauisch nach unserem Begehr zu fragen. Nachdem wir ihr dieses klar gemacht, drehte sie sich mit merkwürdiger Elasticität auf dem malerisch durchlöcherten Absatz eines anscheinend noch aus den Zeiten des Langobardeneinfalls stammenden Pantoffels um und rief mit schriller Stimme zur Hausthür heraus: „Giuseppina!“ Es dauerte auch nicht lange, so trat uns aus einer der Nachbarhütten die Gestalt einer kaum erblühte Jungfrau entgegen, die uns mittelst Schwingung eines mächtigen Schlüssels zu folgen winkte. So betraten wir denn die ehrwürdige Kathedrale, eine dreischiffige, flachgedeckte Basilika, die in ihren Grundzügen bis zum siebenten Jahrhundert, also in die ersten Kindheitstage Torcellos zurückreicht.

Aber so sehr uns auch ihre vielen Sehenswürdigkeiten, ihre herrlichen Marmorsäulen und köstlichen Mosaiken, ihre alten steinernen Fensterläden und namentlich ihr hochmerkwürdiges Presbyterium – im Halbrund stufenweis ansteigende Priesterbänke mit der hochragenden bischöflichen Kathedra in der Mitte – fesseln mochten, noch mehr beinahe beschäftigte uns unsere jugendliche Führerin. Es war ein schlankes, blasses, scheues Mädchen von höchstes 15 Jahren, mit liebliche Gesichtszügen und schwermüthigen schwarzen Augen, in welche es wie eine Ahnung kommenden Unheils lag. Unsere Fragen beantwortete sie ernst und zurückhaltend; wir erfuhren nur, daß sie eine verwaiste Verwandte des Küsters und bereits mit einem jungen Torcellaner verlobt sei, der sich des reichlicheren Verdienstes wegen nach Venedig als Gondoliere verdungen habe. Mittheilsamer erwies sich die Kleine, wenn es galt, unsere Fragen betreffs der Alterthümer zu beantworten. Aus der Kathedrale führte sie uns in das benachbarte achteckige Baptisterium und schließlich durch malerische Kreuzgänge zur uralten Kirche Santa Fosca, einem seltsamen, byzantinische Einflüsse klar darlegenden Centralbau. Alle diese zu einer Baugruppe verbundenen Heiligthümer zeigen namentlich im Innern eine seltene, von der ewig ändernden Zeit fast unberührt gebliebene Ursprünglichkeit, alle sind sie erfüllt mit düsterem Schweigen und durchweht von den Schauern der Vergangenheit.

Unwillkürlich richtet sich der Blick rückwärts auf die Geschicke der alten, einst so reichen und mächtige Inselstadt. Schon im siebenten Jahrhundert von den katholischen Bewohnern des Festlandes gegründet, welche sich vor dem vordringenden Schwert der glaubensfanatischen, arianischen Langobarden auf diese damals noch unbebaute Laguneninsel flüchteten, wuchs sie bald zu einem wichtigen Hafenplatze heran, dessen Name in byzantinischen Chroniken des zehnten Jahrhunderts mehrfach vorkommt.

Aber die Tage ihres Glanzes waren gezählt. Welche Stadt konnte sich damals an den Küsten der Adria neben dem immer stolzer emporstrebenden Venedig, der goldstrotzenden Königin der Meere, behaupten? Auch Torcello mußte seinen Reichthum in die unersättlichen Speicher der Nebenbuhlerin fließen lassen, sein Diadem demüthig am Saum ihres Purpurmantels niederlegen. Seitdem ist es verarmt, verfallen, vergessen, der üppigen Nachbarstadt schon seit Jahrhunderten ein warnendes Beispiel von der Vergänglichkeit irdischer Herrlichkeit vor Augen haltend. Die Weltgeschichte aber übt gerechte Vergeltung. Auch die übermütige Siegerin mußte sich seitdem manches ihrer schimmernden Prachtgewande entkleiden – möge ihr der zerfetzte Bettlermantel des von allem entblößten Torcello ewig erspart bleiben! –

Ein Gefühl tiefster Wehmuth beschleicht den Wanderer, wenn er sich auf dem alten Forum der Stadt, dem grasbewachsenen, nun ganz in Ruinen liegenden Marktplatze umschaut. Noch zeigt derselbe größtenteils die ursprüngliche Anlage, Reste einer Bogenhalle, in welcher die öffentlichen Angelegenheiten verhandelt, die Gesetze verkündigt wurden, den städtischen Glockenthurm, den alten Bischofsstuhl, vom Volk für den Sessel des Attila gehalten, und die Spuren des frühgothischen Rathspalastes. Vor letzterem erblickt man unter einem regellosen Chaos von Steintrümmern das früher in die Façade eingelassen gewesene Reliefbild des geflügelten Markuslöwen, des Symbols der venetianischen Machtfülle, welches auch die unterjochte Stadt annehmen mußte. Es war eine weihevolle Stunde, die wir bei dem altersgrauen Steinbilde verlebten, welches, einstmals auf blühendes, städtisches Handelstreiben herabblickend, heute entthront, verwittert und von Blumen und Schlingkraut überwuchert, nur noch gewaltige Erinnerungen heraufbeschwört. Während ich zeichnete, saß Stieglitz träumerisch und wortlos da, die Augen anscheinend ins Leere gerichtet. Als ich vollendet, bat er sich mein Skizzenbuch aus und schrieb auf eines der leeren Blätter das folgende – soviel mir bekannt, hier zum ersten Male zum Abdruck gebrachte – stimmungsvolle Sonett.

„Wo vor dem Drang anstürmender Barbaren,
Verheerender, in blut’gen Schreckensstunden
Des Festlands Söhne ein Asyl gefunden,
Das Ruhmeswiege ward den Enkelscharen,

In jenem Eiland, das vor grauen Jahren
Vorleuchtend mit Venedig war verbunden,
Schau – wie die Säulen Schlingkraut jetzt umwunden,
Die einst glorreicher Banner Träger waren.

Sieh auf des Marktes schuttbedecktem Hügel
Hervor aus bunten Wiesenblumen ragen
Des Markuslöwen Marmorhaupt und Flügel –

Wer hat so lind zu Grabe dich getragen,
Gewalt’ger Wirklichkeit phantastisch Siegel,
Leichnam und Grabstein aus verscholl’nen Tagen?“

Dann machten wir uns auf, um in der dürftigen Trattoria des Ortes unser einfaches Mahl zu genießen. Es sollte einen gar traurigen Abschluß erhalten.

Die Zeit des Vesperläutens war gekommen und noch saßen wir beim vino da Conegliano und den ersten süßen Früchte des Sommers behaglich plaudernd vor der weinlaubüberschatteten Thür unserer Locanda, als vom nahen Campanile der erste Glockenschlag – seltsam dumpf, wie uns schien – ertönte. Allein kein zweiter folgte, alles blieb grabesstumm. Beunruhigt eilten wir sofort über den Platz nach der offen stehenden Thür des Glockenthurmes und schaute in das dämmerige Innere desselben. Welch ein Anblick! Am Boden lag ein junges Mädchen, leblos, aber anscheinend unversehrt, nur auf ihrem blassen, krankhaft geschlossenen Munde stand ein einziger dicker Blutstropfen. Es war Giuseppina, die Küstersnichte, die Verlobte des venetianischen Gondoliers, unsere Führerin durch die Heiligtümer.

Sie war todt. Indem sie ihr tägliches Amt des Vesperläutens verrichten wollte, hatte sie diesmal – flogen wohl ihre Gedanken durch die offenen Luken des Thurmes weit übers blaue Meer nach den Marmorstufen der Piazzetta? – die nötige Vorsicht außer Acht gelassen und war vom Seile der Glocke, die sie läuten sollte, über das schmale, einen nur unsicheren Standpunkt gewährende Podium hinausgerissen worden. Einen Augenblick hatte sie sich am Seile gehalten – der dadurch an die Glocke schlagende Klöppel hatte jenen einzigen, erschreckend dumpfen Ton hervorgebracht – und war dann, als ihre schwachen Kräfte sie verlassen, in die Tiefe des im Innern ganz hohle Thurmes – die steinernen Stufen zur Höhe winden sich äußerst schmal an

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 700. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_700.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)