Seite:Die Gartenlaube (1888) 752.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

das ich nun doch erfahren habe. Du ahnst nicht, wie weit der Edelmuth dieses Mannes geht – ich kenne ihn jetzt ganz!“

Der Präsident stand wortlos da; auf diese Lösung war er nicht gefaßt gewesen, denn es bedurfte ja keines besonderen Scharfblickes, um zu erkennen, daß Bennos Liebe erwidert wurde. Das leidenschaftliche Aufflammen des jungen Mädchens sprach deutlich genug und wenn Reinsfeld wußte, was geschehen war, und das ließ sich nicht mehr bezweifeln, so gab es in der That nur eine Erklärung für seine Zurückhaltung und sein Schweigen in einer Sache, die ihn doch zuerst anging. Es war ihm schon zuzutrauen, daß er den Vortheil, den jene Kenntniß ihm gab, unbenutzt ließ, nur um die Geliebte vor einer tödlichen Kränkung zu bewahren. Dann war aber überhaupt nichts von ihm zu fürchten, dann war der Vater des Mädchens, das er liebte, sicher vor seiner Rache und vielleicht ließ sich durch ihn auch Gronau zurückhalten.

"Das sind ja überraschende Neuigkeiten!“ sagte Nordheim, nach einer kurzen Pause, langsam und das Auge unverwandt auf seine Tochter gerichtet. „Und das erfahre ich jetzt erst? Du sprachest vorhin von einem Geständniß – was hattest Du mir zu sagen?“

Alice senkte den Blick und in ihr eben noch so bleiches Antlitz trat eine glühende Röthe.

„Daß ich Wolfgang nicht liebe, so wenig wie er mich,“ antwortete sie leise. „Ich habe das selbst nicht gewußt, erst vor wenig Tagen ist es mir klar geworden.“

Sie erwartete mit voller Bestimmtheit einen Zornausbruch ihres Vaters, aber nichts dergleichen erfolgte, im Gegentheil, seine Stimme klang in einem ganz veränderten, ungewöhnlich milden Tone:

„Warum hast Du kein Vertrauen zu mir, Alice? Ich werde meine einzige Tochter ja doch nicht zu einer Verbindung zwingen, von der ihr Herz sich abwendet; aber das will überlegt und erwogen sein. Für jetzt fordere ich nur, daß Du keine übereilten Entschlüsse fassest und es mir überläßt, irgend einen Ausweg zu finden. Vertraue Deinem Vater, mein Kind, Du sollst mit ihm zufrieden sein!“

Er beugte sich nieder, um väterlich ihre Stirn zu küssen, aber sie zuckte zusammen und wich mit dem unzweideutigsten Ausdrucke des Entsetzens zurück vor der Liebkosung.

„Was soll das?“ fragte Nordheim, mit gerunzelter Stirn. „Du fürchtest Dich vor mir? Glaubst Du mir etwa nicht?“

Sie hob das Auge zu ihm empor, es war wieder derselbe schwere, anklagende Blick wie vorhin und die sonst so weiche Stimme klang in herber, unerbittlicher Entschiedenheit, als sie antwortete:

„Nein, Papa, ich glaube nicht an Deine Liebe und Deine Güte. Ich glaube Dir überhaupt nicht – nie mehr!“

Nordheim preßte die Lippen zusammen und wandte sich ab, stumm winkte er ihr, sich zu entfernen, und stumm und scheu gehorchte Alice, sie verließ ohne ein Wort weiter das Zimmer.

Sie hatte vollkommen recht gesehen, der Präsident dachte auch nicht entfernt an die Möglichkeit einer Verbindung seiner Tochter mit dem jungen Arzte, aber er machte sich kein Gewissen daraus, eine solche Möglichkeit anzudeuten, um für den Augenblick die Gefahr zu beschwören, die ihm drohte. Hier aber hatte er sich doch verrechnet; das junge, unerfahrene Mädchen durchschaute ihn, und seltsam, er, der Mann mit der eisernen Stirn, ertrug das nicht. Er hatte der stolzen Empörung Wolfgangs, dem drohenden Auftreten Gronaus gegenüber seine Fassung bewahrt und neben dem Zorne höchstens noch Furcht empfunden. Jetzt zum ersten Male nahte ihm etwas, das er während seines ganzen Lebens nicht gekannt hatte – die Scham! Wenn die Gefahr auch wirklich abgewandt wurde, er fühlte es doch im tiefsten Innersten, daß er verurtheilt, gerichtet war von seinem einzigen Kinde.


Die Arbeiten an der Bahn wurden mit einer beinahe fieberhaften Thätigkeit gefördert. Es war in der That nicht leicht, Wort zu halten und die Bauten in der gegebenen kurzen Frist zu vollenden, aber Nordheim hatte recht, wenn er erklärte, daß der Chefingenieur weder sich noch seine Untergebenen schone. Elmhorst spornte die Arbeitskraft seiner Leute bis aufs äußerste an, griff überall selbst mit Befehlen und Anordnungen ein und gab seinen Ingenieuren das Beispiel einer Unermüdlichkeit, das sie gleichfalls anfeuerte. Unter seiner Leitung schien sich die Leistungsfähigkeit der sämmtlichen Arbeitskräfte zu verdoppeln, und er erreichte damit wirklich seinen Zweck. Die zahlreichen Bauten auf der ganzen Gebirgsstrecke waren größtentheils schon fertig und an die Wolkensteiner Brücke legte man soeben die letzte Hand.

Wolfgang war von der Fahrt zurückgekehrt, die er heute morgen unternommen hatte. In Oberstein hatte er den Wagen verlassen und fortgesandt, um die letzte Strecke zu Fuße zu besichtigen, und jetzt stand er auf einem Abhange, oberhalb der Wolkensteiner Schlucht, und sah den Arbeitern zu, die wie Ameisen geschäftig auf dem Schienengeleise und an dem Gitterwerk der Brücke wimmelten. Noch wenige Tage, dann war das Werk vollendet, das jetzt schon die allgemeine Bewunderung auf sich zog und im Laufe der nächsten Jahre von Tausenden angestaunt werden sollte; aber der, welcher es geschaffen, blickte so düster darauf hin, als sei ihm jede Freude an seiner Schöpfung genommen.

Er war für heute noch einer Unterredung mit dem Präsidenten ausgewichen und hatte nur durch sein Nichterscheinen bei dessen Ankunft gezeigt, daß er bei seinem Nein blieb; aber es mußte doch noch zu einer letzten Auseinandersetzung zwischen ihnen kommen. Daß der Bruch ein endgültiger war, wußten sie beide; auch Nordheim war schwerlich mehr geneigt, einen Mann, der ihm so offen und verächtlich Trotz geboten hatte, von dem er auch in Zukunft keine Unterstützung seiner Pläne mehr erwarten durfte, zum Schwiegersohn anzunehmen. Es kam nur darauf an, auf welche Art man sich trennte, und das beiderseitige Interesse erforderte, daß es in möglichst schonender Form geschah. Darüber allein hatten sie sich noch zu verständigen, und das sollte morgen geschehen.

Ein Hufschlag, der dicht hinter ihm ertönte, weckte Elmhorst aus seinen Gedanken, und sich umwendend, gewahrte er Erna von Thurgau auf einem der Bergpferde, welche man für den Gebirgsaufenthalt angeschafft hatte. Sie hielt sichtlich überrascht an, als sie den Chefingenieur erblickte.

„Sie sind schon zurück, Herr Elmhorst? Wir glaubten, Ihre Fahrt würde Sie den ganzen Tag in Anspruch nehmen.“

„Ich bin früher mit der Besichtigung fertig geworden, als ich glaubte,“ versetzte Wolfgang. „Aber Sie werden für den Augenblick Ihren Weg nicht fortsetzen können, gnädiges Fräulein, dort unten wird gesprengt, doch es kann nicht lange dauern, die Leute müssen in zehn Minuten fertig sein.“

Die junge Dame hatte das Hinderniß bereits bemerkt; der Weg, der den Abhang hinunter und in einiger Entfernung an der Brücke vorüberführte, war durch Wachen abgesperrt und eine Anzahl von Arbeitern war um einen riesigen Felsblock beschäftigt, der augenscheinlich gesprengt werden sollte.

„Ich habe keine Eile,“ erwiderte sie gleichgültig. „Ich wollte ohnehin auf meinen Verlobten warten, der mich bat, vorauszureiten, da er ganz unerwartet mit Herrn Gronau zusammentraf. Ich möchte aber doch keinen zu großen Vorsprung haben.“

Sie lockerte die Zügel und schien ihre Aufmerksamkeit gleichfalls den Arbeitern zuzuwenden. Die letzte Nacht hatte einen völligen Umschlag der Witterung gebracht; ein kalter Regensturm hatte all die sonnige, duftige Schönheit ausgelöscht. Jetzt lag der Himmel grau und schwer über der Erde, die Berge standen wolkenumhüllt und in den Wäldern brauste der Wind – es war über Nacht Herbst geworden.

„Wir werden Sie doch heute abend sehen, Herr Elmhorst?“ brach Erna endlich das Schweigen, das schon mehrere Minuten gedauert hatte.

„Ich bedaure sehr, daß es mir nicht möglich ist, zu kommen. Ich habe gerade heute abend noch Dringendes zu erledigen.“

Es war der alte Vorwand, der ihm schon so oft hatte dienen müssen, und er fand auch keinen Glauben mehr, denn Erna sagte mit merklicher Betonung:

„Sie wissen vermutlich nicht, daß mein Onkel heute vormittag angekommen ist?“

„Doch, ich weiß es und habe mich bereits bei ihm entschuldigen lassen; ich werde ihn morgen sprechen.“

„Aber Alice scheint nicht wohl zu sein. Sie leugnet das zwar und will durchaus nicht zugeben, daß nach dem Doktor

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 752. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_752.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)