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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Präsident Simson.

Am Geburtstage Luthers und Schillers, am 10. November, erblickte Eduard Simson in Königsberg im Jahre 1810 das Licht der Welt. Ueberaus früh reifte der Hochbegabte in behaglichen Verhältnissen, unter der Fürsorge und in der geselligen Häuslichkeit feingebildeter Eltern. Kaum sechzehn Jahre alt, schied er an der Spitze der Abiturienten vom Gymnasium mit einer vollendeten griechischen Ansprache an den großen feierlich geladenen Kreis der Hörer. Unter diesen befand sich der Mann, welcher den Studenten der Rechte Simson in den nächsten Jahren am meisten an sich fesseln sollte: Eduard Albrecht, damals selbst erst 25 Jahr alt, aber als Verfasser der heute noch als klassisch anerkannten Schrift „Die Gewere“ bereits ordentlicher Professor des deutschen Privat- und Staatsrechts an der Universität Königsberg und weithin berühmt. Was sich beide junge Männer damals, was sie sich 22 Jahre später als Mitglieder des Frankfurter Parlamentes gegenseitig wurden und verdankten, haben beide oft dem Verfasser dieser Zeilen später mit rührenden Worten ausgesprochen.[1]

Gerade an Albrechts scheinbar herber Sprödigkeit, seiner eigenthümlichen Gedankenschärfe und schneidenden Kritik fand des jungen Simson weiche Empfindung und feurige Begeisterung den geeignetsten Lehrmeister.

Drei Jahre lag Simson den Studien in seiner Vaterstadt ob. Mit achtzehn Jahren erwarb er hier den Doktorhut beider Rechte. Dann suchte er die berühmtesten Hochschullehrer des damaligen Preußens auf: Savigny in Berlin und Niebuhr in Bonn. Beide nahmen ihn freundlich auf, besonders Niebuhr, an den er gut empfohlen war.

Und ein seltsames Ereigniß brachte ihn dem gefeierten Gelehrten, dem Begründer der neuen deutschen Geschichtswissenschaft, besonders nahe.

Das Wintersemester 1829 auf 1830, das Simson in Bonn verlebte, war äußerst kalt. Der junge Doktor bekämpfte die Kälte und wohl auch die Schlaflust bei seinen nächtlichen Studien mit selbst eingekauftem und eigenhändig zubereitetem Kaffee, den er beim Einkauf in der inneren Brusttasche eines langen weichen Gewandes barg, in das er sich sowohl beim Ausgehen, als bei seinen nächtlichen Studien hüllte. In der äußeren Seitentasche steckte stets ein seidenes Taschentuch.

An einem sehr kalten Februarabend des Jahres 1830 hatte der junge Doktor eben wieder Kaffee eingekauft und seine Studirlampe angezündet, als Feuerlärm und der Ruf der Sturmglocke durch die stille Stadt hallte. In der Richtung von Niebuhrs Haus war der Nachthimmel blutig geröthet. Sofort eilte Simson an die Brandstätte − wirklich brannte Niebuhrs Haus. Eben führte man den alten Mann, der mit 37 Jahren noch die Freiheitskriege mit geschlagen und mit Ernst Moritz Arndt der hereinbrechenden Reaktion muthig getrotzt hatte, wie gebrochen die Treppe hinab. Verzweifelt und vor Kälte bebend, nur von einem dünnen Röckchen bekleidet, stammelte er nur: „Meine Manuskripte! Meine Manuskripte!“ Unerkannt in der allgemeinen Verwirrung, warf Simson dem verehrten Lehrer rasch den eigenen warmen Mantel über und verschwand dann, selbst vor Kälte schlotternd, aus dem Brandkreis, eben als das gastliche benachbarte Haus Bethmann-Hollwegs sich Niebuhr öffnete.

Wenige Tage später veröffentlichte die „Bonner Zeitung“ Niebuhrs rührenden Dank, in dem Simson zu seinem Schrecken den Worten begegnetet „… insbesondere danke ich auch dem wir völlig unbekannten edeln Manne, der mir in der Unglücksnacht den eigenen Mantel umwarf. Er möge mir bei Abholung des Mantels den persönlichen Dank ermöglichen und sich als Eigenthümer kennzeichnen durch Benennung der in den Taschen befindlichen Gegenstände.“

Wer sich „als Eigentümer“ nicht „kennzeichnete“, war Simson − das verrätherische Pfund Kaffee in der inneren Rocktasche fiel ihm jedoch mit Centnerlast auf die Seele. Monate blieb er unerkannt. Aber auf einem Frühlingsspaziergange des Jahres 1830 an der Seite des Sohnes Bethmann-Hollwegs wurde er von diesem doch plötzlich entlarvt, da aus Simsons Tasche ein Zwillingsbruder jenes seidenen, E. S. gezeichneten Taschentuches schaute, das in dem herrenlosen Mantel steckte, nach dessen Eigenthümer Niebuhrs Forscherauge seit Monaten vergeblich ausspähte. Sofort ward Simson dem Meister verrathen und dieser hielt ihn fortan wie den eigenen Sohn.

Nach Paris, wohin Simson noch der Julirevolution des Jahres 1830 zog, gab ihm Niebuhr die wichtigsten Empfehlungen an die Lehrer der Sorbonne mit und noch bedeutsamer waren für den jungen Liebling des Meisters Niebuhr fleißige Briefe.

Im Jahre 1831, 21 Jahre alt, kehrte Simson als Privatdocent der heimathlichen Hochschule nach Königsberg zurück. Zwei Jahre später finden wir ihn daselbst schon als außerordentlichen Professor. Mit 24 Jahren ist er bereits Mitglied des Tribunals der Provinz Preußen.

Wenn sein politisches Wirken seiner ursprünglichen Absicht, akademischer Lehrer zu werden. durch seine häufige Entfernung von der alma mater Albertina, hinderlich ward, so hat er doch dem Lehrstuhl der Hochschule erst dann entsagt, als er 1860 als Vicepräsident des Appellationsgerichts nach Frankfurt an der Oder versetzt wurde.

Von dem Präsidentenstuhl dieses Gerichtshofes ward er dann 1879 auf den höheren des deutschen Reichsgerichts berufen.

Wahrlich, eine glänzende, unvergleichliche Laufbahn!

Und dennoch ist fast noch glänzender und bedeutsamer die Rolle gewesen, die Eduard Simson in den öffentlichen Angelegenheiten seines Staates und Volkes gespielt hat. 1842 begann er diese öffentliche Thätigkeit bescheiden genug als Mitglied der Stadtverordnetenversammlung in Königsberg − aber das war in jenen Jahren immerhin schon ein Posten, auf den ganz Deutschland blickte, denn Königsberg war damals nächst Berlin und Breslau die geistig regsamste und politisch schneidigste preußische Stadt. Königsberg sendet Simson im Frühjahr 1848 ins Frankfurter Parlament. Hier wird der noch junge Mann sofort in das Bureau des Hauses gewählt, hier steigt er allmählich zum Präsidenten der Nationalversammlung empor, von allen Parteien bewundert wegen der unvergleichlichen Geschicklichkeit und Gerechtigkeit seiner Amtsführung. Die wichtigsten Sendungen nach der preußischen Hauptstadt werden ihm anvertraut. An der Spitze der Kaiserdeputation verkündet er Friedrich Wilhelm IV. von Preußen im Frühjahr die Wahl zum Deutschen Kaiser − bekanntlich vergeblich!

Unter schwerem körperlichen und seelischen Leid sah Simson durch die Ablehnung der deutschen Kaiserkrone seitens seines Königs das Frankfurter Verfassungswerk scheitern. Aber sein unerschütterliches Pflichtgefühl und sein hochgemuther Idealismus hielten ihn treu und fest bei der nationalen Fahne auch in Deutschlands trübsten Tagen. 1849 schon hatte er sich ins preußische Abgeordnetenhaus wählen lassen und ward hier Mitglied des Ausschusses, welcher die preußische Verfassung beriet. 1850 ließ er sich auch in das Erfurter Parlament senden, auf das die besten Männer Deutschlands die letzten Hoffnungen einer deutschen Verfassung setzten und auch dieses Parlament ernannte Simson zu seinem Präsidenten.

In dieser amtlichen Stellung traf er in höchst merkwürdiger Weise in scharfer persönlicher Begegnung zusammen mit dem Gewaltigsten unserer Tage − mit Bismarck.

Dieser war Schriftführer des Hauses und damals noch ganz befangen in seiner Jugendliebe zum alten Oesterreich, die ein Menschenalter später in dem deutschen Bündniß mit dem verjüngten Oesterreich eine so schöne reife Bestätigung des Sprichwortes erfahren hat: „Alte Liebe rostet nicht“. Der junge, damals fünfunddreißigjährige Bismarck, Deichhauptmann von Schönhausen,

  1. Eduard Albrecht, neben Dahlmann der Führer und das juristische Haupt und Gewissen der berühmten „Göttittger Sieben“, die dem verfassungsbrüchigen König Ernst August von Hannover Eid und Pflicht weigerten und deshalb von Göttingen 1837 vertrieben wurden, fand an der Universität Leipzig Anstellung, der er bis 1876 als eine der vornehmsten Zierden angehörte. Er hinterließ sein sehr bedeutendes Vermögen, da er kinderlos starb, der Universität Leipzig in feinsinnigster Stiftung. Der erste Entwurf einer deutschen Reichsverfassung floß im Frühjahr 1849 aus seiner Feder, das Urbild der heutigen Reichsverfassung noch mehr als der 1849 vom Frankfurter Parlament beschlossenen. Mir war der ehrwürdige Mann der bedeutendste Lehrer und ein wahrhaft väterlicher Freund!
    Der Verfasser.     
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 779. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_779.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)