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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

„Du hast eine verwünschte Manier, Dir gerade die Worte zu merken, die Du nicht nachsprechen sollst!“ fuhr ihn Gronau an. „Wenn unsereins verrückte Streiche macht, so ist das eben Verrücktheit; wenn Herr Waltenberg sie aber macht, so ist das Genialität und man findet es ungeheuer poetisch. − Da kommen wir endlich wieder auf die Fahrstraße! Ihr könnt dort auf den Wagen warten, ich will inzwischen nur auf einen Augenblick bei dem Doktor Reinsfeld eintreten, mit dem ich ein paar Worte zu reden habe.“

Der Fußweg, den sie eingeschlagen hatten, führte gerade an dem Gärtchen des Doktorhauses vorüber; Gronau durchschritt dasselbe und öffnete die ihm wohlbekannte Hinterthür. Er war bei dem letzten Zusammensein mit Benno sehr heftig geworden, hatte ihm seine Zurückhaltung in den bittersten Worten vorgeworfen, und seine Gutmüthigkeit litt es nicht, daß ein solcher Mißklang bestehen blieb. Er kam jetzt, halb in der Absicht, sich zu entschuldigen, und halb in der Hoffnung, den Doktor noch nachträglich zu einer Theilnahme an seinem Vorhaben zu bestimmen. Da der Nordheimsche Wagen an der Vorderseite des Hauses hielt, so hatte er keine Ahnung von dem Damenbesuche, sonst hätte er wahrscheinlich davor die Flucht ergriffen.

Frau Doktor Gersdorf stand inzwischen aufopfernd auf ihrem Posten am Schlüsselloch, der ihr leider sehr wenig zu sehen und gar nichts zu hören erlaubte; freilich nahm das Gespräch da drinnen eine ganz andere Richtung, als sie voraussetzte.

Benno, der vergeblich darauf wartete, daß Alice sprechen sollte, nahm endlich selbst das Wort.

„Sie wollten zu mir, gnädiges Fräulein − wirklich?“

„Ja, Herr Doktor,“ war die leise, mit bebender Stimme gegebene Antwort.

Reinsfeld wußte sich das nicht zu deuten. Alice war ihm in der letzten Zeit stets so unbefangen und zutraulich genaht. Seit jenem Zusammensein im Walde war es freilich vorbei mit der Unbefangenheit; aber das erklärte doch nicht diese seltsame Veränderung, die mit ihr vorgegangen war. Sie stand bleich und zitternd da und schien eine förmliche Angst vor ihm zu hegen, denn sie wich zurück, als er ihr näher trat.

„Sie fürchten sich − vor mir?“ fragte Benno vorwurfsvoll.

Sie machte eine matt verneinende Bewegung.

„Nein, nicht vor Ihnen, aber vor dem, was ich Ihnen zu sagen habe − es ist so furchtbar!“

Reinsfeld sah sie noch immer verständnißlos an; aber plötzlich kam ihm wie ein Blitz die Erkenntniß der Wahrheit.

„Um Gotteswillen, Sie wissen doch nicht etwa −?“

Er vollendete nicht, denn Alice hob jetzt zum ersten Male das Auge zu ihm empor, so trostlos, so verzweifelt, daß es keiner anderen Antwort mehr bedurfte, der eine Blick sagte ihm alles. Er trat rasch zu ihr und faßte ihre Hand.

„Wie ist das möglich? Wer ist so grausam gewesen, Sie damit zu quälen?“

„Niemand!“ versetzte das junge Mädchen mit sichtbarer Anstrengung. „Ein Zufall − ich hörte eine Unterredung meines Vaters mit Gronau −“

„Und Sie glauben doch nicht, daß ich daran betheiligt bin?“ fiel Benno stürmisch ein. „Ich habe alles versucht, Gronau zurückzuhalten, habe jede Theilnahme meinerseits verweigert.“

„Ich weiß es − um meinetwillen!“

„Ja, um Ihretwillen, Alice! Und deshalb brauchen Sie auch nichts von mir zu fürchten. Es war nicht nöthig, daß Sie kamen, um mein Schweigen zu erbitten, ich hätte ohnehin geschwiegen.“

„Ich kam nicht deshalb,“ sagte Alice leise. „Ich wollte Sie um Verzeihung bitten, um Vergebung für −“

Ein lautes Aufschluchzen erstickte ihre Stimme; da fühlte sie sich plötzlich von Benno umfaßt. Sie war ja nicht mehr Wolfgangs Braut, er beging keinen Verrath mehr an dem Freunde, wenn er die Geliebte einmal wenigstens in die Arme schloß; aber er wagte es nicht, sie zu küssen, während sie im fassungslosen Weinen an seiner Brust lehnte.

Gerade in diesem Augenblick öffnete Veit Gronau die Seitenthür und blieb ganz entsetzt auf der Schwelle stehen. Er hätte eher des Himmels Einfall erwartet als einen solchen Anblick; aber er besaß leider nicht das diplomatische Talent der Frau Doktor Gersdorf, geräuschlos zu verschwinden und zu thun, als habe er nichts gesehen; die Ueberraschung entriß ihm im Gegentheil ein langgezogenes „Ah!“

Die beiden fahren erschrocken auf. Alice entwand sich in tödlicher Verlegenheit den Armen Bennos, der nicht viel mehr Geistesgegenwart zeigte, während der Störenfried noch immer groß und breit auf der Schwelle stand und in seiner Bestürzung gar keine Anstalt machte, sich zurückzuziehen. Endlich faßte sich das junge Mädchen so weit, um in das Nebenzimmer zu Wally zu flüchten, während der Doktor mit finster gerunzelter Stirn dem ungebetenen Gaste entgegentrat.

„Ich habe Sie wirklich nicht erwartet, Herr Gronau; das ist ja ein förmlicher Ueberfall!“

Seine Stimme klang in ungewohnter Schärfe; aber Gronau schien das durchaus nicht übelzunehmen. Er trat näher und sagte mit dem Ausdruck höchster Befriedigung:

„Das ist etwas anderes! Das ist etwas ganz anderes!“

„Was denn?“ rief Benno gereizt; aber Veit klopfte ihm statt einer Antwort freundschaftlich auf die Schulter.

„Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt? Jetzt begreife ich es, warum Sie durchaus nicht gegen Nordheim auftreten wollten, und jetzt finde ich das auch in der Ordnung, ganz in der Ordnung.“

„Ich werde auch nicht dulden, daß ein anderer es thut,“ erklärte Reinsfeld, dessen Gereiztheit durch diesen gemüthlichen Ton nur noch gesteigert wurde. „Ich gestehe keinem das Recht zu, sich hineinzumischen, auch Ihnen nicht, Herr Gronau.“

„Fällt mir auch gar nicht mehr ein!“ sagte Gronau ruhig. „Gut, daß ich bei Herrn Waltenberg noch keinen Lärm geschlagen habe, jetzt bleibt die Sache natürlich unter uns. Sie haben sie ja viel gescheiter angefangen als ich, Doktor, und da lassen Sie sich geduldig von mir ausschelten, ohne mir ein Wort zu sagen? Ich habe Ihnen diese Gescheitheit wahrhaftig nicht zugetraut.“

„Halten Sie mich etwa einer niedrigen Berechnung fähig?“ fuhr Benno auf. „Ich liebe Alice Nordheim.“

„Habe ich gesehen!“ bestätigte Veit. „Und sie läßt es sich gefallen − bravo! Jetzt gehen wir dem Herrn Präsidenten ganz anders zu Leibe, jetzt fordern wir nicht etwa das gestohlene Kapital, sondern seine sämmtlichen Millionen mit der Hand seiner Tochter. Wie gesagt, Benno, Sie sind unglaublich gescheit gewesen, eine glänzendere Genugthuung konnten Sie sich gar nicht schaffen und damit würde auch Ihr Vater im Grabe zufrieden sein.“

„Ja, so sehen Sie die Sache an,“ sagte Reinsfeld mit schmerzlicher Bitterkeit. „Alice und ich fassen sie ganz anders auf. Was Sie gesehen haben, war nur ein Abschied, eine Trennung für ewig.“

Veit machte bei dieser Erklärung ein Gesicht, als habe man ihm unversehens eine Ohrfeige versetzt.

„Trennung? Abschied? Doktor, ich glaube, Sie sind nicht recht bei Verstande!“

Der junge Arzt war sonst die Höflichkeit und Geduld selbst, bei dieser derben Einmischung aber in die zartesten Angelegenheiten seines Herzens verlor er die Geduld so vollständig, daß er sogar einen Versuch machte, grob zu werden.

„Ich wiederhole Ihnen, Herr Gronau, daß ich mir Ihre Einmischung verbitte!“ rief er heftig. „Glauben Sie etwa, daß ich den Mann, der meinem Vater das angethan hat, selbst Vater nennen könnte? Freilich, Sie kennen und verstehen nicht solche ideale Gründe.“

„Nein, von dem Idealen verstehe ich gar nichts,“ gestand Veit; „aber desto mehr vom Praktischen und hier ist die Sache so klar und einfach wie nur möglich. Sie haben das Mittel, Nordheim zur Einwilligung zu zwingen, also wird er gezwungen; Sie lieben seine Tochter, also wird sie geheirathet. Alles Uebrige ist Unsinn − Punktum!“

„Ganz meine Meinung!“ sagte eine Stimme von der Thür her, und Frau Doktor Gersdorf, die die letzten Worte gehört hatte, trat ein und bemächtigte sich mit gewohnter Entschiedenheit des Gespräches.

„Herr Gronau hat recht, die Sache ist so klar und einfach wie nur möglich,“ wiederholte sie. „Sie werden Alice unter allen Umständen heirathen, Benno − Punktum!“

Der arme Reinsfeld, der sich jetzt von zwei Seiten angegriffen sah, mochte wohl fühlen, daß er hier mit seinen idealen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 783. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_783.jpg&oldid=- (Version vom 6.6.2018)