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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

einmal gesehen, in Erinnerung behielt. Die Stirn, in welche die krausen, natürlichen Löckchen graziös hereinfielen, war von vollendeter Schönheit und üppig schwarzes Haar quoll in schweren Flechten unter dem Reisehütchen hervor.

„Eigentlich, liebe Helene,“ wendete sich die größere der Damen an ihre Begleiterin, „beneide ich Dich nicht um Deine heutige Reise; Du wirst bei dieser Hitze in dem vollgepfropften Damencoupé Qualen ausstehen und mit Wehmuth an unser schattiges Gärtchen und seine kühle Veranda zurückdenken.“

„Alles zu seiner Zeit, liebste Emma,“ erwiderte Helene lebhaft, „das lange Schattensitzen weckt einem die Lust, auch einmal in der Hitze spazieren zu fahren; ich fürchte mich gar nicht davor und bin sicher, frisch und vollkommen lebendig in Leipzig einzutreffen.“

„Diese Auffassung scheinen andere Leute auch zu theilen, es wimmelt ja von Menschen auf dem Bahnhofe; allein ich bleibe dabei, daß die tolle Idee zu dieser Reise eben nur in Deinem Kopfe entspringen konnte; Du denkst Dir besonders gern solche extravagante Geschichten aus.“

„Emma, Emma, Dir geht es wie dem Fuchs mit den Trauben; könntest Du mit mir reisen, dann wäre alles gut; toll ist meine Idee gar nicht, wohl aber halte ich dieselbe für äußerst gelungen. Es ist doch prachtvoll, daß ich heute abend bei Hansens so ganz unvorbereitet eintreffe. Bei ihrem jedenfalls brillanten Gartenfeste mit den gewünschten Verkleidungen tauche ich plötzlich als Zigeunerin auf und lasse nicht ab, zu intriguiren und die Leute zu mystifiziren. Niemand kann sich denken, wer es ist, der ihnen solche Wahrheiten sagt, ihnen die Vergangenheit aufdeckt und kühn die Zukunft prophezeit. Ehe man zu entdecken vermag, daß ich es bin, der alljährlich wiederkehrende Zugvogel, verschwinde ich und morgen abend kehre ich hierher zurück. Auch das finde ich herrlich, daß niemand außer Dir und zufällig Deinem Onkel etwas von meiner Reise weiß, daß Dein Papa gerade abwesend ist und ich so auf eigene Faust, ohne Wissen meiner Eltern diesen Ausflug unternehme, um einmal für zwei Tage völlig verloren zu gehen. Es liegt darin wenigstens der Schein eines Abenteuers und Du weißt, was ich darum gäbe, einmal, nur ein einziges Mal ein solches zu erleben.“

„Nun, Du kleine Phantastin,“ meinte Emma lachend, „an Abenteuern wird es ja bei diesem Gartenfeste nicht fehlen, Herzen kannst Du auch erobern, denn Dein südlicher Teint und Deine feurigen Augen müssen ja im Zigeunerkostüm doppelt wirken … Aber ich glaube wahrhaftig, der Zug wird nächstens abgehen, komm, wir wollen ein Coupé suchen.“

Rascher weitergehend, spähten die beiden Freundinnen aufmerksam in die Wagen hinein und blieben einen Augenblick vor dem fast vollständig besetzten Damencoupé stehen.

„Wie ist es, Helene,“ frug Emma lächelnd, „willst Du nicht diese Schönheitsgalerie vollzählig machen?“

„Um Gotteswillen!“ fuhr Helene voll Entsetzen auf, „nur nicht da hinein, es wäre das reinste Dampfbad, dann könntest Du schließlich mit Deinen bösen Prophezeiungen recht behalten; nein, lasse uns lieber auf ein Coupé für Nichtraucher fahnden, es müssen doch ein paar im Zuge sein.“

„Jenes dort,“ entgegnete Emma, „ist ebenfalls schon ziemlich besetzt, allein etwas weiter vorn sah ich vorhin noch eines, siehst Du, eben steigt ein Herr hinein.“

Helene eilte der offenen Thür zu, wandte sich jedoch schnell um und zu ihrer Gefährtin zurück. „Aber Emma,“ flüsterte sie, „es sitzt nur dieser eine Herr darin, und mit diesem kann ich doch nicht mutterseelenallein davonfahren!“

„Ah, also so sieht es mit Deiner Lust nach Abenteuern?“ spottete Emma. „Sobald sich nur eines von ferne zeigt, ergreifst Du das Hasenpanier. Uebrigens,“ fuhr sie nach einem weiteren Blick in den Wagen fort, „sieht dieser Herr sehr anständig und zuverlässig aus; ich glaube, Du kannst ruhig einsteigen und das fürchterliche Unternehmen wagen.“

„Ja, Du hast gut spotten, allein gerade weil ich diese Reise so auf eigene Faust ausführe, möchte ich nichts thun, was mir Unannehmlichkeiten bereiten könnte.“

„Halt, setzt hab’ ich’s,“ rief Emma triumphirend aus, „steige nur ruhig ein, mir ist ein köstlicher Einfall gekommen, der Dich schützen und Dir vielleicht noch einen besonderen Spaß bereiten wird, nur rasch ins Coupé, es ist keine Zeit mehr zu verlieren.“

„Einsteigen! einsteigen!“ ertönten die Stimmen der Schaffner, und nun entstand der letzte gewöhnliche Trubel, das eilige Hin- und Herrennen, die zu wechselnden Küsse, Umarmungen und Händedrücke; die Coupéthüren wurden zugeschlagen, aus den Fenstern ertönten noch Abschiedsrufe und Mahnungen zu den Zurückbleibenden heraus.

Auch Helene lehnte sich erwartungsvoll aus dem Fenster, den versprochenen guten Einfall ihrer Freundin zu vernehmen; von dem fremden Herrn, welcher sich bei ihrem Einsteigen höflich verneigte, hatte sie keine Notiz genommen und nicht bemerkt, daß er aufgestanden war und über ihre zierliche Gestalt hinweg auf den Perron schaute. Emma dagegen sah ihn; flüchtig streiften ihre Blicke das ausdrucksvolle Männerantlitz, dann rief sie, heiter lachend, ihrer Freundin zu:

„Adieu, liebe Helene, grüße Deinen Gatten, den gestrengen Herrn Major, vielmals von mir und er soll Dich bald wieder zu uns schicken; adieu Schatz, leb’ wohl und glückliche Reise!“

Ein schriller Pfiff ertönte, langsam setzte sich der Zug in Bewegung, lebhaft winkte Helene mit dem Taschentuche zum Fenster hinaus, und erst als sie die Freundin nicht mehr zu erblicken vermochte, ließ sie sich, mit aller Anstrengung das laute Lachen zurückhaltend, auf ihren Sitz nieder. Welch ein toller Einfall von Emma − wie kann man nur auf einen solchen Unsinn gerathen! Aber köstlich war es doch und vor allen Dingen sehr praktisch, denn die unverhoffte neue Würde mußte sie vor jeder unberufenen Annäherung schützen; ja selbst wenn der fremde Herr eine Unterhaltung beginnen sollte, konnte sie getrost darauf eingehen, galt sie doch in seinen Augen für eine verheiratete Frau.

Helene mußte wieder krampfhaft das Lachen verbeißen; sie sah schnell zum Fenster hinaus und ahnte nicht, daß ihr Reisegefährte sie lächelnd betrachtete und sich im Stillen frug, was wohl die außerordentliche Heiterkeit der jungen Dame veranlaßt haben könnte.

Endlich schaute Helene sich um, und als sie den forschenden Blicken des Fremden begegnete, sprang sie verlegen auf und versuchte das andere, noch geschlossene Fenster zu öffnen, was ihr, trotz aller Bemühungen, nicht gelingen wollte.

„Darf ich mir erlauben, gnädige Frau?“ ertönte hinter ihr eine tiefe, angenehme Stimme.

Wirklich: „gnädige Frau“ hatte er sie genannt, die List war also geglückt. Einen Augenblick noch zögerte Helene, dann drehte sie sich würdig und ernsthaft, wie es der Gattin eines Majors zukommt, nach ihm um; allein das Vergnügen, nun endlich ein ordentliches, kleines Abenteuer zu erleben, strahlte unverkennbar aus ihren Augen, als sie die gemessenen Worte sprach:

„Wenn Sie so gut sein wollen, mein Herr, es ist erstickend heiß hier drinnen.“

Der Fremde, eine kräftige, hohe Männergestalt, trug einen üppigen Vollbart; dieser und ein phänomenaler Haarwuchs, der jeder Dressur zu spotten schien, umgaben ein Gesicht, dessen Züge auf besondere Schönheit keinen Anspruch machen konnten. Aber die feste Stirn, der Ausdruck der durchdringenden, dunkelblauen Augen verriethen eine lebhafte Intelligenz, man hatte diesem Manne gegenüber den Eindruck einer sicheren und bedeutenden Persönlichkeit.

Im Bahncoupé kommt es nur auf die Einleitung zum Gespräch an. Das geöffnete Fenster und der Dank dafür wurden zum Ausgangspunkt einer Unterhaltung, die sehr bald Helenens lebhaftestes Interesse erregte. Sie hatte sich über die „tropische Hitze“ beklagt; der Fremde gab ihr zum Trost eine kleine Schilderung der Leiden einer afrikanischen Mittagsstunde mit ihrer vernichtenden Gluth, ja selbst schon des indischen Hochsommers, der die Europäer in die waldkühlen Himalayaschluchten treibt, wenn sie nicht in der Hitze halb oder ganz zu Grunde gehen wollen. Alles, was dieser Mann sagte, klang so anschaulich, als spreche er aus eigener Erfahrung; Helene lauschte gespannt, versäumte dabei aber nicht, die weibliche Kunst der geschickten Fragen zu üben, und lockte ihn so weiter und weiter. Er ließ vor ihren Augen die Städte des Ostens erstehen, Delhi und Singapore, das vielsprachige Shanghai, das kaiserliche Peking, die endlosen gelben Sumpfniederungen des Flachlandes, die chinesischen Bergketten mit den unaussprechlichen Namen, zuletzt sprach er von der zauberhaften Schönheit einer Morgenfrühe auf dem weiten Indischen Ocean.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 842. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_842.jpg&oldid=- (Version vom 6.5.2019)