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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

jedenfalls aber trinkenden Menge, unter der sich so mancher befindet, welcher einst von einem besseren Teller gegessen und ein feineres Glas zum Mund geführt. In diesen Lokalen, wo der Droschkenkutscher in seinem weiten Radmantel neben dem Dienstmann und dem rußgeschwärzten Arbeiter sitzt, wird noch das echteste und unverfälschteste Berlinisch gesprochen und oft genug ein derber Spaß ausgesonnen, den der davon Betroffene selten übelnimmt. Allerdings, sind erst die Gemüther erregt und haben der Branntwein wie das Bier die Mienen der Zecher mit flammender Röthe bedeckt, dann sitzen auch häufig die Hände lose und der Spektakel einer tüchtigen Prügelei schallt bis auf die Straße hinaus und lockt schnell den Ruhestifter in Gestalt des Schutzmannes heran.

Unser Thema wäre nicht vollständig, wenn wir nicht noch der Volksküchen Erwähnung thäten, einer der segensreichsten und unentbehrlichsten Einrichtungen der Weltstadt, welche bisher unendlich viel Noth und Elend gestillt hat. Jeder Stadttheil hat mehrere dieser Küchen aufzuweisen, in denen von mittags zwölf Uhr an eine nahrhafte, sättigende Kost – die halbe Portion 15, die ganze 25 Pfennig – verabreicht wird. Dichtgedrängt sitzen sie dann an den Tischen, auf dessen das dampfende Mahl steht, all diejenigen, für welche nichts vom Reichthum und Glanz der Residenz abgefallen ist, welche glücklich sind, wenn der knurrende Magen befriedigt ist – Männer und Frauen und Kinder, alles bunt durcheinander, eine herbe, lebende Illustration zur Kehrseite der nach außen hin mit so vielem Prunk schillernde Weltstadt. Auf ein zwanzigjähriges Bestehen können die Volksküchen bereits zurückblicken, von Jahr zu Jahr wurde ihre Tätigkeit eine umfangreichere, so daß sie jetzt jährlich weit über zwei Millionen Mittags- und 80 000 Abendportionen austheilen, womit trotz der großen Zahlen doch noch nicht alle Darbenden gesättigt werden.

Von dem Bürgersinn und dem Bürgerwohlstand der Berliner Einwohnerschaft darf man erwarten, daß auch fernerhin alles geschieht, um das Elend möglichst zu lindern. In diesem Sinne sind auch neuerdings Volkskaffeehäuser eingerichtet worden, in denen zu billigsten Preisen Kaffee, Thee, Chokolade, Milch, auch Bier (aber kein Branntwein), sowie mancherlei Eßwaaren verabreicht werden. Die Räumlichkeiten sind im Winter behaglich erwärmt, neben verschiedenen, zur freien Benutzung stehenden Spielen liegen illustrirte Blätter und Tageszeitungen aus, und es steht wohl zu erwarten, daß diese neue Einrichtung sich in den Kreisen der Handwerker und Arbeiter rasch großer Beliebheit erfreuen wird.

Möchte Berlin auf der mit Erfolg betretenen Bahn auch unentwegt weiterschreiten und den anderen Hauptstädten das schöne Vorbild zeigen, daß in seinen Mauern nicht nur für den Reichen, sondern auch für den Armen gesorgt ist!





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Die Alpenfee.
Roman von E. Werner.
(Schluß.)

In der Nordheimschen Villa war es still und öde geworden. Man hatte die Leiche des Präsidenten nach dem Erdbegräbniß in der Residenz gebracht und Tochter und Nichte hatten sie begleitet. Die Dienerschaft war ihnen schon in den nächsten Tagen gefolgt und das Haus lag jetzt wie ausgestorben da.

Auch der Chefingenieur weilte augenblicklich in der Stadt, um mit der Gesellschaft, welche wenigstens theilweise Eigenthümerin der Bahn war, zu verhandeln und die Angelegenheiten des verstorbenen Präsidenten überhaupt zu ordnen. Er hatte dies unter den obwaltenden Verhältnissen sehr schwierige Amt übernommen und noch stand ihm die Autorität des Sohnes, des künftigen Gatten der Erbin zur Seite, denn noch wußte die Welt nichts von der Aufhebung jener Verbindung. Sie sollte es erst nach Ablauf der Trauerzeit erfahren, wenn Alice keines Vertreters mehr bedurfte. Man wollte gerade jetzt die inneren Angelegenheiten der Familie nicht der Neugier und Klatschsucht preisgeben, und die Katastrophe, welche mit dem Leben auch das Vermögen Nordheims getroffen hatte, forderte eine starke Hand, um noch das Möglichste zu retten.

Ernst Waltenberg befand sich noch in Heilborn. Er hatte seit dem Tage, an dem er sich von seiner Braut getrennt, das Wolkensteiner Gebiet allerdings nicht wieder betreten, aber irgend etwas schien ihn in der Nähe festzuhalten. Der Spätherbst war nun völlig und mit winterlicher Strenge in die Berge eingezogen und der große Kurort selbstverständlich ganz leer, nur der fremde Herr, mit seinem Sekretär und den beiden farbigen Dienern, weilte noch hier und machte auch noch keine Anstalt, abzureisen.

Im Salon der großen und behaglichen Wohnung, die Waltenberg innehatte, ging Veit Gronau mit unruhiger, besorgter Miene auf und nieder und warf von Zeit zu Zeit einen Blick auf die Thür zu dem Arbeitszimmer Ernsts, die fest geschlossen war.

„Wenn ich nur wüßte, was aus der Geschichte eigentlich werden soll!“ brummte er. „Da schließt er sich nun Tag für Tag ein und hat seit einer Woche keinen Fuß in das Freie gesetzt, er, der nicht leben konnte, wenn er nicht täglich ein paar Stunden im Sattel saß. Mit einem Arzte darf man ihm ja nicht kommen! Wenn wenigstens noch der Doktor Reinsfeld erreichbar wäre, aber der mit seiner unbequemen Gewissenhaftigkeit sitzt natürlich schon in Neuenfeld, obgleich er viel gescheiter thäte, bei seiner Braut zu bleiben; er hatte die Stellung einmal angenommen und nun hielt ihn nichts mehr, als der Termin da war. Hoffentlich sorgt er dort schleunigst für einen Nachfolger, denn so viel wird von den Nordheimschen Millionen wohl übrig bleiben, daß die ärztliche Praxis an den Nagel gehängt werden kann – Nun, da bist Du ja endlich, Said! Was hast Du ausgerichtet?“

„Der Herr läßt Master Hronau sagen, zu speisen allein,“ berichtete Said, der aus dem Zimmer Waltenbergs kam. „Er nicht hat Lust zu essen.“

„Schon wieder nicht!“ murmelte Gronau, „und schlafen thut er auch nicht mehr. Ich sage es so, er bringt die verwünschte Geschichte nicht aus dem Kopfe!“

„Der Herr gar nicht hat schlimme Laune,“ sagte der Neger wichtig. „Wir haben heut morgen fallen lassen die große Vase, welche serr viel Geld gekostet hat, er hat zugesehen und nur gezuckt die Achseln.“

„Ich wollte, er hätte den Stock genommen und Euch beide durchgeprügelt,“ erklärte Veit nachdrücklich.

„O – o!“ protestirte Said, mit entrüsteter Miene, aber Gronau fuhr unbeirrt fort:

„Nun, geschadet hätte es Euch nichts und ihm wäre die Bewegung sehr heilsam gewesen, aber ich glaube, man könnte vor seinen Augen jetzt alles kurz und klein schlagen, er rührte sich nicht. Das kann nicht so weiter gehen, ich muß versuchen, ihn zu sprechen.“

Er ging sehr entschieden auf das Arbeitszimmer zu, da öffnete sich die Thür desselben und Waltenberg selbst trat heraus.

„Sie sind noch hier, Gronau?“ fragte er mit einem leichten Stirnrunzeln, denn er hatte wohl geglaubt, den Salon leer zu finden. „Ich ließ Sie doch bitten, allein zu speisen.“

„Es geht mir wie Ihnen, Herr Waltenberg, ich habe keinen Appetit,“ versetzte Veit ruhig.

„So bestelle das Diner ab, Said – geh!“

Said gehorchte und verließ das Zimmer, während Gronau, der sehr gut merkte, daß seine Entfernung gleichfalls gewünscht wurde, nicht die geringste Notiz davon nahm, sondern hartnäckig seinen Platz behauptete.

Ernst war an das Fenster getreten, das einen vollen Ausblick auf die ferne Gebirgskette gewährte. In den acht Tagen, die seit der Hochwasserkatastrophe verflossen waren, hatte sich das Wetter nicht aufgehellt, es war trübe und stürmisch geblieben und die Berge trugen Tag für Tag ihre Wolkenschleier. Heut zum ersten Male zeigten sie sich wieder in voller Klarheit.

„Es hellt sich auf – endlich!“ sagte Waltenberg, mehr zu sich selber als zu seinem Gefährten, der zweifelnd den Kopf schüttelte.

„Das wird nicht lange dauern. Wenn die Linien der Berge sich so scharf abheben und die Gipfel so nahe erscheinen, hält das Wetter nicht.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 852. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_852.jpg&oldid=- (Version vom 6.5.2019)