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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Ernst antwortete nicht, er blickte unverwandt hinüber nach der blauen Alpenkette, aber nach Verlauf von einigen Minuten wandte er sich plötzlich um.

„Ich fahre morgen nach Oberstein, lassen Sie den Wagen bestellen.“

Gronau sah ihn betroffen an.

„Nach Oberstein? Haben Sie eine Bergpartie vor?“

„Ja – ich will auf den Wolkenstein.“

„Auf – das heißt doch nur bis zur Hochwand?“

„Nein, auf den Gipfel!“

„Jetzt? In dieser Jahreszeit? Das ist unmöglich, Herr Waltenberg. Sie wissen ja, daß der Gipfel überhaupt für unersteiglich gilt.“

„Eben deshalb reizt er mich! Ich bin eigens deswegen in Heilborn geblieben, aber bei dem fortwährenden Nebelwetter war ja nichts zu unternehmen. Sorgen Sie für an paar tüchtige Führer –“

„Die werden wir nicht bekommen, für diese Partie nicht!“ unterbrach ihn Gronau ernst.

„Weshalb nicht? Etwa wegen des alten Kindermärchens? Man wird den Leuten eine größere Summe bieten, das ist ein unfehlbares Mittel gegen den Aberglauben.“

„Möglich, aber hier könnte es doch versagen, denn das alte Kindermärchen hat einen sehr realen Hintergrund, das haben wir gesehen. Die Lawinenkatastrophe steht bei den Leuten noch in zu frischem Andenken; was hat sie nicht alles vernichtet!“

„Ja, sie hat viel vernichtet – sehr viel!“ sagte Ernst langsam und träumerisch, ohne das Auge von den Bergen abzuwenden.

„Und deshalb lassen Sie den Wolkenstein für diesmal in Ruhe,“ ergänzte Veit. „Die Schneeverhältnisse sind grade jetzt sehr ungünstig und das Wetter hält sich nicht, darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Jetzt können wir das Wagniß nicht unternehmen.“

Ernst zuckte nur die Achseln bei diesen Vorstellungen.

„Ich habe Sie ja noch nicht aufgefordert, es mit mir zu theilen. Bleiben Sie zurück, wenn Sie sich fürchten, Gronau.“

Ueber Veits braunes Gesicht flog ein Ausdruck des Unwillens, aber er bezwang sich.

„Ich dächte, wir hätten schon so manche Gefahr zusammen bestanden, Herr Waltenberg, daß Sie über meine Furchtsamkeit beruhigt sein könnten. Ich gehe mit bis an die Grenze des Möglichen, aber ich fürchte, Sie gehen darüber hinaus und – Ihre Stimmung ist wirklich nicht danach, der Gefahr kaltblütig entgegenzutreten.“

„Da irren Sie sich, meine Stimmung ist vortrefflich und ich will nun einmal hinaus! Mit oder ohne Führer, im Nothfall gehe ich allein!“

Gronau kannte diesen Ton und wußte aus Erfahrung, daß dagegen nicht aufzukommen war, trotzdem machte er noch einen letzten Versuch. Er wußte, es würde einen Sturm geben, wenn er diesen Punkt berührte, aber er beschloß, es daraufhin zu wagen.

„Denken Sie an Ihr Versprechen!“ mahnte er halblaut. „Sie gaben Baroneß Thurgau Ihr Wort, den Wolkenstein zu meiden.“

Ernst zuckte zusammen, sein Erbleichen, sein jähes, drohendes Auffahren verrieth, wie die Wunde noch blutete bei der Berührung; aber das dauerte nur einen Moment, dann hüllte er sich wieder in die eisige, unzugängliche Ruhe, die jede fernere Bitte und Mahnung ausschloß.

„Die Verhältnisse, unter denen ich jenes Wort gab, existiren nicht mehr, das wissen Sie ja, Gronau,“ sagte er kalt. „Uebrigens wünsche ich nicht, daß jene Beziehungen in meiner Gegenwart wieder berührt werden – ich bitte ein für alle Mal darum.“

Er wandte sich um und ging nach seinem Zimmer, blieb aber aus der Schwelle noch einmal stehen.

„Also morgen früh um acht Uhr den Wagen nach Oberstein, es bleibt dabei!“

* * *

Auf einem Schneefeld, oberhalb der Hochwand des Wolkenstein, lagerte die kleine Gruppe der kühnen Bergfahrer, die nun in der That das Wagniß unternommen und es zum größten Theil auch ausgeführt hatte, die beiden Führer, kraftvolle, wetterfeste Gestalten und Veit Gronau. Sie waren mit Seilen, Eishacken und allen Hilfsmitteln einer Alpenfahrt ausgerüstet und hielten hier offenbar eine längere Rast.

Man war gestern von Oberstein aufgebrochen und bis zum Ausgang des Felsenmeeres gestiegen, wo sich eine nothdürftige Unterkunft für die Nacht fand, und hatte dann mit dem ersten Grauen des Morgens den Weg auf die für unersteiglich gehaltene Hochwand angetreten. Jetzt war sie erstiegen, mit unendlicher Mühe, mit unsäglicher Anstrengung und rücksichtsloser Verachtung der Gefahr, die bei jedem Schritte drohte, aber zum ersten Male erstiegen!

Dies Bewußtsein war freilich der einzige Lohn des kühnen Unternehmens, denn das Wetter, das gestern und heute morgen noch ziemlich klar gewesen war, hatte sich in den letzten Stunden geändert. Jetzt lagerte dichter Nebel in den Thälern, der jeden Ausblick hemmte, und von den umliegenden Bergen waren nur die Spitzen sichtbar. Auch der eigentliche Gipfel des Wolkenstein, eine mächtige Eispyramide, die unmittelbar über der Hochwand emporstieg, begann sich allmählich zu umschleiern. Von der Tiefe aus gesehen schien sie eins zu sein mit der Hochwand, während in Wirklichkeit ein breites Gletscherfeld dazwischen lagerte.

Es war immerhin ein großer, schwer errungener Erfolg, die unzugängliche Hochwand besiegt zu haben, aber die freudige Genugthuung darüber schien den drei Männern zu fehlen. Gronau hielt sein Fernglas unverwandt auf die Eispyramide gerichtet und die beiden anderen tauschten nur kurze, einsilbige Bemerkungen aus, während ihre ernsten Mienen eine unverkennbare Besorgniß verriethen.

„Ich sehe nichts mehr!“ sagte Veit, indem er das Glas sinken ließ. „Die Nebel ziehen jetzt auch um die Spitze, es ist unmöglich, noch etwas zu unterscheiden.“

„Und es ist Schnee, was dort heranzieht!“ ergänzte einer der Führer, ein älterer Mann mit grauen Haaren. „Ich habe es dem Herrn vorhergesagt, aber er wollte ja nicht hören.“

„Ja, es war ein Wahnsinn, unter diesen Umständen noch die Spitze erzwingen zu wollen!“ murmelte Gronau. „Ich dächte, wir hätten schon genug geleistet mit dem Ersteigen dieser Hochwand. Das war eine Kletterei auf Leben und Tod, die macht uns so leicht keiner nach und vor uns hat sie auch keiner gemacht.“

Der andere, jüngere Führer hatte inzwischen nach allen Seiten hin scharfen Ausblick gehalten; jetzt trat er heran und sagte:

„Es geht nicht länger an mit dem Warten – wir müssen zurück, Herr!“

„Ohne Herrn Waltenberg? Auf keinen Fall!“ fuhr Gronau auf.

Der Mann zuckte die Achseln.

„Nur bis zum Schneekaar, da haben wir Schutz an den Felsen, wenn es zum Aergsten kommt. Hier oben halten wir kein Schneetreiben aus, und wir müssen den schlimmsten Theil der Hochwand noch vorher passiren, sonst kommt keiner lebendig davon. Es ist ja auch ausgemacht, daß wir beim Schneekaar auf den Herrn warten.“

Das war allerdings verabredet worden, als Waltenberg sich von seinen Begleitern trennte. Die Führer, die man durch das Dreifache des gewöhnlichen Lohnes endlich zum Mitgehen bewog, hatten die beiden Fremden auch glücklich bis auf die Hochwand gebracht. Da aber weigerten sie sich entschieden, weiter zu gehen, nicht weil es ihnen an Muth fehlte – der Gipfel, der unmittelbar vor ihnen lag, bot verhältnißmäßig weniger Gefahr als die fast senkrecht steile Hochwand – aber die kundigen Männer wußten, was dies weißgraue Gewölk bedeutete, das sich, anfangs noch so leicht wie schwebender Dunst, zu sammeln begann. Sie mahnten zu schleuniger Rückkehr, und Gronau unterstützte ihre Bitten und Warnungen aufs nachdrücklichste, aber vergebens.

Ernst sah den so heiß ersehnten Gipfel in unmittelbarer Nähe vor sich aufsteigen und nun hielt ihn keine Warnung mehr zurück. Mit dem ganzen Starrsinn seines Charakters, der das eigene Leben so wenig wie das fremde achtete, bestand er auf der Vollendung des Wagnisses. Jede Vorstellung glitt ab an diesem Starrsinn, das drohende Wetter kümmerte ihn nicht und die Weigerung der Führer entflammte seinen Trotz nur noch mehr. Mit einem herben Spott über die „Vorsichtigen“, die im Angesicht des Zieles umkehrten, war er gegangen und man mußte ihn gewähren lassen.

Gronau hatte Wort gehalten, er war mitgegangen bis an die Grenze des Möglichen; als diese Grenze aber erreicht war, als das Wagniß zum Wahnsinn wurde, zu einer trotzigen Herausforderung des Aeußersten, da war auch er zurückgeblieben, und doch drückte ihn das wie ein Vorwurf. Der Aufsteigende war noch eine Weile auf der Firnkante sichtbar geblieben, bis unmittelbar unter die Spitze hatte man seiner Spur mit dem Fernglase folgen können, dann zogen auch hier die Nebel heran und hinderten jede fernere Beobachtung.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 854. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_854.jpg&oldid=- (Version vom 6.5.2019)