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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

„Wir müssen hinunter!“ mahnte jetzt auch der ältere Führer mit vollem Nachdruck. „Wenn der Herr überhaupt zurückkommt, so findet er uns auch beim Schneekaar. Unser Bleiben nützt ihm nichts und wir riskiren das Leben mit jeder weiteren Viertelstunde.“

Gronau sah die Richtigkeit der Vorstellung ein, um einem Seufzer schob er das Glas zusammen.

* * *

Die gährenden Nebelmassen waren dichter und dunkler geworden, sie stiegen aus allen Thälern, guollen aus allen Schluchten und hüllten Wälder und Matten in ihren feuchten Mantel. Die Abhänge des Wolkenstein, der ganze riesige Felsabsturz der Hochwand verschwanden in diesem gährenden Dunst, nur die Eispyramide des Gipfels hob sich in vollster Klarheit daraus empor.

Und hoch oben auf diesem Gipfel stand einsam der Mann, der es nun doch erzwungen hatte, das scheinbar Unmögliche. Sein Anzug trug die Spuren der furchtbaren Wanderung, seine Hände bluteten von den scharfen Eiskanten, an denen er sich emporgeholfen hatte, aber er stand aufrecht auf dem Boden, den vor ihm noch keines Menschen Fuß betreten hatte. Er hatte es gewagt, den Wolkenthron der Alpenfee zu ersteigen, ihren Schleier zu heben und der Herrscherin dieses eisigen Reiches in das Antlitz zu schauen.

Und es war schön, dies Antlitz! Aber von einer unheimlichen, geisterhaften Schönheit, die keine Spur des Irdischen mehr trug und das Auge des kühnen Bergfahrers fast schmerzhaft blendete. Rings um ihn her und zu seinen Füßen nur Eis und Schnee, starre, weiße Gletschermassen, wild zerklüftet und zerrissen und doch leuchtend in seltsamer, märchenhafter Pracht. In den Eisklüften schimmerte es bald grünlich, bald tiefblau wie Meereswogen und von dem blendenden Weiß des Schneemantels, den all diese Zacken und Spitzen trugen, sprühte es in tausend Funken zurück. Und darüber wölbte sich der Himmel in so leuchtender Klarheit, in so strahlendem Blau, als wolle er all seine Lichtfülle ausgießen auf den alten Sagenthron des Gebirges, auf den krystallenen Eispalast der Alpenfee.

Ernst athmete tief, tief auf; zum ersten Male wich der schwere Druck, der so lange auf ihm gelastet hatte; die Welt mit all ihrem Lieben und Hassen, ihrem Stürmen und Ringen lag so fern da unten, sie verschwand in dem Nebelmeer, das die ganze Tiefe ausfüllte, wie die Erde mit all ihren Thälern, Wäldern und Menschenwohnungen darin verschwand. Nur die Bergspitzen schauten einsam daraus hervor, wie Inseln auf einem weiten Ocean, hier ein paar zackige dunkle Felshäupter, dort ein blendend weißer Schneegipfel, dort ein ferner Höhenzug. Aber das alles schien körperlos, schemenhaft zu schwimmen und zu schweben in dieser Fluth, die leise wallend und wogend immer höher stieg. Und dazu ringsum das Schweigen des Todes – hier im ewigen Eise regte sich kein Leben mehr.

Und doch schlug ein heißes, stürmisches Menschenherz in dieser Oede, das der Welt und ihrem Weh hatte entrinnen wollen, das Vergessenheit suchte hier oben, und das doch nur sein Weh mit sich heraufgetragen hatte. So lange die Gefahr noch alle Nerven anspannte, so lange das Ziel noch lockte und winkte, schwieg auch der quälende Schmerz im Innern. Der alte Zaubertrank, den Ernst so oft erprobt hatte, that auch jetzt seine Wirkung, Gefahr und Genuß unlösbar verbunden, die Gewalt einer mächtigen Naturscenerie und die schrankenlose Freiheit, der er nun zurückgegeben war. Er fühlte wieder die berauschende Macht dieses Trankes, und mitten in der Eiswüste ergriff ihn eine brennende Sehnsucht nach jenen Ländern der Sonne und des Lichtes, die von jeher seine eigentliche Heimath gewesen waren. Dort konnte er vergessen und genesen, dort konnte er wieder leben und glücklich sein.

Das Nebelmeer stieg und stieg, langsam, lautlos, aber unaufhaltsam, ein Gipfel nach dem andern versank, eine Spitze nach der anderen tauchte unter in dieser grauen geheimnißvollen Fluth, die wie eine Sintfluth alles verschlang, was der Erde angehörte. Nur die Eispyramide des Wolkenstein ragte noch einsam daraus hervor, aber ihre leuchtende Pracht war erloschen mit dem Sonnenlicht, das sie nicht mehr traf.

Der einsame Träumer schauerte plötzlich zusammen unter einem Hauch, der ihn schneidend und eiskalt berührte. Er fuhr auf; der blaue Himmel über ihm war verschwunden, dort wallte jetzt weißer Dunst und auch neben ihm und um ihn begann es sich zu verschleiern.

Ernst war durch die Führer hinreichend gewarnt, er kannte diese Anzeichen; aber mit der Gefahr kehrte auch seine Spannkraft zurück, es war die höchste Zeit zur Rückkehr. Er begann den Abstieg, langsam, vorsichtig, jeden Schritt prüfend, wie er es beim Aufstieg gethan; aber der Nebel verlegte ihm überall den Weg und durchschauerte ihn mit seiner Eiseskälte bis ins Mark hinein. Trotzdem ging es unaufhaltsam abwärts, die Spuren, die er vorhin im Schnee zurückgelassen, leiteten ihn, aber er mußte sie mühsam suchen, mehr als einmal irrte er ab davon, und jetzt begannen sich auch die Folgen der Ueberanstrengung geltend zu machen.

Waltenbergs Athem ging schwer und keuchend, der Schweiß trat ihm auf die Stirn und sein sonst so sicherer Blick begann sich zu trüben. Er fühlte das und raffte sich nur um so trotziger empor. Wie er auch die Gefahr herausgefordert hatte, hier und jetzt wollte er ihr nicht erliegen, das alte Ammenmärchen sollte nicht recht behalten, und seine aufs äußerste angespannte Willenskraft, seine stählernen Sehnen und Muskeln trugen auch wirklich den Sieg davon. Er bezwang den furchtbaren Weg zum zweiten Male, keuchend, halb erstarrt, zu Tode erschöpft, erreichte er endlich den Fuß der Pyramide, er stand auf dem Gletscherfelde der Hochwand.

Ein tiefer, erleichternder Athemzug entrang sich seiner Brust, jetzt war das Schwerste überstanden. Zwar galt es noch, den obersten, jähen Absturz der Hochwand zu überwinden, aber dort hatte man schon beim Emporklimmen Stufen in das Eis gehauen und an den schlimmsten Stellen Seile zurückgelassen, um den Abstieg zu erleichtern. Ernst wußte, daß er diese Hilfsmittel finden werde, sie mußten ihn trotz des Nebels zum Schneekaar führen, wo die Gefährten ihn erwarteten.

Da kam es aus dem Nebel herangezogen, weiß, feucht und schimmernd, gleich wehenden Schleiern, die sich ihm auf Stirn und Wangen legten, anfangs nur leicht und lind, wie kosend und schmeichelnd – das Schneetreiben begann. Und schon nach wenigen Minuten wurde dies Kosen und Schmeicheln zu einer beklemmenden, erstickenden Umarmung, der er vergebens zu entrinnen versuchte. Er strebte vorwärts, wandte sich zurück, aber überall waren diese eisigen Arme, die ihm den Athem raubten und das Blut in seinen Adern erstarren ließen. Noch ein kurzer, verzweifelter Kampf, dann hielten sie ihn unlösbar umklammert – er sank zu Boden.

Aber mit dem Kampfe endete auch die Qual. Es war so süß, dies Entschlummern, diese tödliche Mattigkeit, wo sich Traum und Wirklichkeit einten. Er stand wieder oben auf dem Gipfel im Sonnenglanz, er schaute den krystallenen Eispalast in seiner Märchenpracht und blickte der Alpenfee in das entschleierte Antlitz, dessen tödliche Schönheit kein Sterblicher ertrug. Aber fremd war es ihm nicht; er kannte diese Züge, diese Augen mit ihrem leuchtenden, tiefen Blau, und jetzt strahlten und lächelten sie ihm, wie sie ihm nie im Leben gelächelt. Das Bild des einzigen Wesens, das er so wild, so namenlos geliebt hatte, ließ ihn selbst jetzt an der Schwelle des Todes nicht los, es stahl sich in den letzten Schimmer seines Bewußtseins.

Aber dann wallte die Nebelfluth wieder heran und stieg und stieg, langsam, unaufhaltsam, bis alles darin versank. Nur das geliebte Antlitz dämmerte noch fern und traumhaft durch den grauen Schleier, endlich verschwand es auch und der Träumende ward fortgetragen von diesem Nebelmeer, das sich endlos, uferlos ausdehnte, er steuerte hinaus in unermeßliche Fernen, hinaus in die Ewigkeit! –

Ueber den Wolkenstein hin brauste der Schneesturm. Hoch auf flatterten die weißen Schleier und sanken dann nieder auf den Schläfer, der zu Füßen des erstiegenen, des bezwungenen Gipfels lag. Der Mann, dessen ganzes Wesen nur Gluth und Leidenschaft gewesen war, der nur hatte athmen können in den Ländern der Sonne und des Lichtes, ruhte jetzt in kalten starren Armen. Er hatte sie ertrotzt, diese Umarmung, aber das Leben des kühnen Sterblichen erlosch in dem Eiseskusse der Alpenfee!



Es war am Tage vor Sankt Johannis und heller, goldener Sonnenschein begünstigte das Fest, das heute das ganze Wolkensteiner Gebiet feierte, die Eröffnung der neuen Gebirgsbahn. All die kleinen Ortschaften, welche an der Bahnlinie lagen und nun zu dem Range von Stationen erhoben waren, prangten mit grünem Laubschmuck und flatternden Fahnen, und überall waren

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