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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Der unweit einer kleinen Station stattgehabte Eisenbahnunfall hatte glücklicherweise keine große Ausdehnung angenommen; es war kein Menschenleben zu beklagen; jedoch hatten mehrere der Passagiere Verletzungen davongetragen. Die beiden Aerzte des Städtchens waren gleich zur Stelle und während der jüngere, unverheirathete derselben sich in dem unmittelbar am Bahnhof gelegenen Gasthofe den meist leichter Verwundeten widmete, ließ der ältere, Doktor Belden, Helene, die bewußtlos dalag und ernstlich verletzt schien, in seine Wohnung schaffen.

In einem kleinen Kabinett, unmittelbar an den Raum anstoßend, in den man Helene gebracht hatte, ging Professor Roditz in der heftigsten Erregung auf und nieder. Er achtete nicht der eigenen Schmerzen, der geschundenen Glieder, der Kontusionen, die er davongetragen, er sah nur das leichenblasse Frauenantlitz vor sich, die leblose Gestalt, wie sie nach der Katastrophe, ehe die Hilfe kam, in seinen Armen geruht hatte.

Was würde die nächste Stunde bringen? Hatte Helene – er war bereits so weit, sie nur noch Helene zu nennen – eine ernste Verletzung davongetragen, oder würde sie gerettet werden gerettet für Wen? Für einen rohen, widerwärtigen Menschen ohne Zweifel der das süße Geschöpf mit Eifersucht oder sonstwie quälte – der Professor versank immer tiefer in die unerfreulichsten Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten, so daß er nicht beachtete, wie sich die Thür öffnete. Erst als eine Hand auf seinen Arm gelegt wurde, fuhr er auf.

„Ah, Sie sind es, Herr Doktor; wie steht es mit unserer Kranken?“ Es lag eine so angstvolle Spannung in seinem Gesicht, daß der Doktor voll Theilnahme ihm die Hand drückte und ermunternd sagte:

„Nur Muth, mein Herr; es ist nicht nur von keiner Gefahr die Rede, sondern auch nicht einmal eine bedenkliche Verletzung zu finden. Die tiefe Ohnmacht rührte offenbar von dem plötzlichen Schrecken und der Blutung her. Die junge Dame erwachte unter meinen Bemühungen, allein ich ließ sie nicht sprechen, sondern flößte ihr sofort einen beruhigenden Trank ein, dessen Wirkung sich in einem wohltätigen Schlafe zeigt, aus welchem sie kaum vor ein bis zwei Stunden erwachen wird. Die Wunde am Kopfe ist mit einem nassen Umschlage versehen, den meine Frau von Zeit zu Zeit vorsichtig erneuern wird, und so bin ich überzeuge daß Ihr Schützling schon morgen die Weiterreise unternehmen kann.“

„Gott sei Dank, Dank aus tiefster Seele für diesen Ausspruch, Herr Doktor,“ rief Professor Roditz lebhaft aus, und eine solch überwältigende Freude verklärte sein Gesicht, daß der Doktor überrascht erwiderte:

„Ah, also so steht es, Herr Professor? Das junge Mädchen ist wohl Ihre Braut? Na, gratulire, gratulire von Herzen, haben sich eine allerliebste Zukünftige erwählt.“

„Sie irren sich, Herr Doktor, ich stehe zu dieser Dame in keinerlei Beziehungen, ich sah dieselbe heute zum ersten Male, lernte sie erst im Coupé kennen; allerdings erschien sie mir besonders liebenswürdig und anmuthig, dies ist aber auch alles. Sie ist verheirathet, hat Kinder und während ihres Transportes hierher telegraphirte ich nach Leipzig an ihren Mann, einen Major von Schnitzel, den wir mit dem nächsten Zuge, etwa in zwei Stunden, erwarten können“

„Schnitzel, ein drolliger Name,“ lachte der Doktor; „hätte übrigens nicht geglaubt, daß ein so alter Praktikus wie ich sich so irren könnte; ich hätte darauf geschworen, ein junges Mädchen vor mir zu haben. Bis zur Ankunft des Herrn Majors bin ich wieder zurück, jetzt muß ich nach meinem Kollegen und den anderen Verwundeten sehen.“

„Herr Doktor, noch eins: Sie sagten, die gnädige Frau schlafe fest; hätten Sie ein Bedenken dagegen, mir für wenige Augenblicke den Eintritt zu gestatten? Ich möchte nach dieser schweren Stunde sie nur einen Moment sehen mit der Ueberzeugung, sie dem Leben erhalten zu wissen.“

„Treten Sie ruhig ein, aber verhalten Sie sich still und bleiben Sie nur kurze Zeit drinnen, aufwachen darf sie nicht. Adieu!“

Der Doktor nahm seinen Hut und brummte im Fortgehen vor sich hin. „Keinerlei Beziehungen – ausgezeichnet! Am Ende erleben wir noch die schönste Eifersuchtscene mit dem Herrn Gemahle das kann nett werden! Denn daß dieser da gehörig verliebt in das schöne Frauchen ist, das sieht doch ein Blinder!“

Professor Roditz aber trat leise in das neben dem kleinen Kabinett befindliche Zimmer ein, wo Helene auf einem Sofa sorgfältig hingebettet lag. Mit andächtiger Scheu richteten sich seine Augen auf die Schlummernde, deren feines blasses Profil sich von dem dunklen Hintergrund der Sofalehne abhob; leise ging der Athem über die bereits wieder rothen Lippen aus und ein, das reiche dunkle Haar floß gelöst über die Kissen herab, sie schien tief und süß zu schlafen. Ueber der Stirn lag eine nasse Kompresse gebreitet und deckte die Augen.

Roditz stand lange in den Anblick versunken; er sägte sich innerlich wieder und wieder, daß sie das Weib eines andern sei, daß er nicht an sie denken dürfe. Und eine innere Stimme antwortete: Mit dieser würdest Du glücklich werden!

Endlich that er einen Schritt vorwärts, drückte einen leisen Kuß auf ihre Hand und riß sich gewaltsam los, um die Zeit bis zur Ankunft des Leipziger Zugs mit einem Gang ins Freie auszufüllen.

Als er nach zwei Standen zurückkehrte, ließ eben Doktor Belden einen Offizier voraus in das Zimmer eintreten, und sofort wußte er, dies müsse der Major sein. Jetzt galt es, sich zusammen zu nehmen und scharf zu beobachten. Sich frostig verbeugend, ging der Professor auf den Fremden zu: „Ich habe wohl die Ehre, Herrn Major von Schnitzel vor mir zu sehen?“

Seinerseits betrachtete der Major sich den Mann, welcher ihn hierher gesprengt hatte, mit keinen freundlicheren Gefühlen. Ein ironisches Lächeln umspielte seinen Mund, als er leichthin erwidertet „Ganz richtig, und in Ihnen lerne ich wohl Herrn Professor Roditz kennen, der mir telegraphirte?“

„Ja, ich erlaubte mir dies, da ich nicht wissen konnte, wie der Ausspruch des Arztes lauten würde; Gefahr ist, Gott sei Dank, keine vorhanden; allein es ist Ihnen, Herr Major, gewiß sehr erwünscht, Ihre Frau Gemahlin nach diesem Unfalle selbst nach Leipzig geleiten zu können.“

Ohne dem Professor zu antworten, wendete sich Major von Schnitzel ruhig an den Arzt mit der kurzen, bündigen, weder Freude nach die geringste Erregung verrathenden Frage: „Also Gefahr ist keine vorhanden? Sie ist nicht bewußtlos aber durch den Schreck – geistig gestört?“

„Nein, Herr Major,“ entgegnete, unwillig über solche Herzenshärte, Doktor Belden; „Ihre Frau Gemahlin trug eine Kopfwunde davon, die zwar stark blutete, aber ganz ungefährlich ist und rasch heilen wird; sie liegt schlafend hier nebenan, kann indessen jeden Augenblick erwachen, und dann steht Ihrer gegenseitigen Begrüßung nichts im Wege, nur möchte ich Aufregungen, beunruhigende häusliche Mittheilungen vermieden wissen.“

„Inwiefern mein Erscheinen die Kranke aufregen wird, vermag ich nicht zu beurtheilen, aber beunruhigende häusliche Mittheilungen wird die gnädige Frau durch mich sicher nicht erhalten Herr Doktor.“

„Nun,“ erwiderte der Doktor gereizt, „wenn man Kinder hat, sind derartige Berichte nicht ausgeschlossen, kenne das genugsam aus eigener Erfahrung.“

Der Major blieb einen Augenblick sprachlos vor Staunen. „Kinder,“ hatte der Doktor gesagt, – die Sache wurden immer besser. Erschien es denkbar, daß die Fremde selbst dies bestätigt hatte, oder spielten hier die unglaublichsten Zufälle? Vorderhand mußte er sich jedenfalls möglichst passiv verhalten; einmal mußte die Wahrheit an den Tag kommen, und sehen wollte er sie wenigstens – die Frau Majorin!

„Und sind Sie“ – wandte sich der Major wieder an die beiden Herren – „dessen vollkommen sicher, daß jene Dame die Frau Majorin von Schnitzel ist? Hat sie selbst sich diesen Namen beigelegt und von ihren Kindern erzählt?“

„Gewiß,“ erwiderte der Professor, ärgerlich über den ironischen Ton des Majors, der sich abermals eines Lächelns nicht erwehren konnte und sich jetzt artig verbeugte mit den Worten: „Ich streiche die Segel; da die Dame selbst sich als Frau von Schnitzel präsentirt hat, so muß es wohl wahr sein; jedenfalls,“ fügte er heiter hinzu, „wünsche ich sie jetzt endlich einmal zu sehen.“

„Bitte“ – des Doktors Antwort klang schroff, während er in das Nebenzimmer voranschritt.

Soeben war Helene von ihrem Schlafe erwacht, und rasch näherte sich ihr Doktor Belden: „Hier, gnädige Frau, bringe ich Ihren Herrn Gemahl, welcher auf unsere Depesche hin sogleich herbeieilte.“


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 863. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_863.jpg&oldid=- (Version vom 8.8.2016)