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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

seit Waldemar sich ihrer zu entsinnen wußte. Nur zwei Gebäude machten eine stattliche Ausnahme: der Kaufladen „Zum goldnen Engel“ und das Haus des regierenden Herrn Bürgermeisters. Von einem dieser altehrwürdigen Patrizierhäuser zum andern wanderten die Augen Waldemars mit einem Ausdruck, der seltsam zwischen Lachen, Spott und Wehmuth wechselte.

Ja, da saß er wirklich wieder in dem „gottverlass’nen Neste“ und es war ein just so grämlicher Dezembermorgen, wie er ihn oft und oft zur heimlichen Verzweiflung und schließlich, vor zwölf Jahren, zum Davonlaufen gebracht. O Goldner Engel! Deine immer offene Ladenthür, deine nassen Dielen, die Erbschaft jeder bäuerischen Beschuhung, dein Gemisch von Düften – – da stehe einer mit dem Drang des Göttlichen in seiner Brust, in dünnem Rock mit vorgebund’ner Schürze, und zapfe Oel und wiege Käse ab oder fische mit den verklammten Fingern einen Hering aus der durchaus nicht „göttlichen Salzfluth“! Nachdenklich blickte Waldemar auf seine Hände, die weiß und schlank mit wohlgepflegten Fingernägeln nichts mehr von ihrer einstigen Mißhandlung verriethen; dann warf er mit dem ihm eignen kurzen Ruck den Kopf zurück, als ob er damit alles Unliebsame von sich schüttelte, und lächelte von neuem vor sich hin.

Denn trotz alledem: es hatte doch auch hier im Reich der Spieß- und Ackerbürger in jedem Lenz einmal geduftet und geblüht, und er war jung gewesen hier – trotz alledem! Ohne Eltern und Geschwister, die er nie gekannt, doch aber Mündel des Herrn Bürgermeisters und Lehrling, später gar „Kommis“ im ersten Materialwaarengeschäft der Stadt, wie hätte er sich nicht manchmal „fühlen“ sollen? Besonders an den freien Sonntagsnachmittagen, wenn er den leeren Ladentisch zum Malen mit den schönen selbstgemachten Farben und als Modell die blonde Elsbeth hatte? Kaum zehn, elf Jahre zählend, blickte des strengen Vormunds holdseliges Töchterlein schon recht verständig aus den blauen Augen und zierlich drehte sie den feinen Kopf, das weiße Hälschen hier- und dorthin, wie er es verlangte; ja! sie erröthete schier jungfräulich, wenn er ihr versicherte, sie sei allerliebst und sie müsse einst sein Bräutchen werden.

Waldemar hatte sich eine Cigarre angezündet, doch sie war kalt geworden vor dem Gedankengang, der warm in ihm heraufstieg. Ein Reisender „in Zucker und Kaffee“, der nebenbei ein Schwärmer für die Kunst war, hatte seine „Studien“ gesehen und ein „vielversprechendes Talent“ darin entdeckt. Er rieth ihm, keine Zeit mehr zu versäumen und auf eine Kunstakademie zu gehen, Da war’s, was Waldemar in seinem dunklen Drang ersehnt, da war der Name für das Unausgesprochene, was ihn gequält: Kunstakademie und Maler werden! Er wußte, wo der Weg zu seinem Himmel war – und sollte ihn nicht gehen! Es half kein Vorstellen, kein Bitten, Flehen; Vormund und Lehrherr kannten ihre „Pflicht“. Was blieb dem Aermsten übrig, als davonzulaufen? mit Hinterlassung seines kleinen Vatererbtheils und, was schwerer wog, der blonden Elsbeth!

Sie war die einzige Vertraute seiner Flucht gewesen, ja sie hatte ihm mit einer Schlauheit und Geschicklichkeit dabei geholfen, die ihn jetzt, nach mancherlei Erfahrung in der Welt, noch wunderte. „Wenn ich reich und berühmt geworden bin, komm’ ich und hol’ Dich,“ hatte er gesagt. Er hörte noch ihr kinderhelles Lachen.

Reich und berühmt? War er es geworden? Was gab ihm, nach so langer Zeit, das Recht, hierher zu kommen? Waldemar, nachdem er umgeblickt und sich versichert, hatte, daß niemand außer ihm im Zimmer war, öffnete ein elegantes Taschenbuch und nahm eine Photographie heraus, die das Brustbild einer ganz entzückenden jungen Dame zeigte. Elsbeth! Das Kärtchen hatte der letzten Zinsensendung seines Vormunds beigelegen, ohne jede weitere Bemerkung, als die er aus dem hergebrachten Schlusse des alljährlichen Begleitschreibens: „Frau und Tochter lassen grüßen“, sich heraus las.

Es war eine Mahnung zu rechter Zeit gewesen, das hätte jeder in dem Blicke lesen können, den Waldemar nach einer längeren andächtigen Versenkung in das Bildchen an die Zimmerdecke und dann, den Irrthum merkend, durch das Fenster nach dem Himmel sandte. Durch den feinen Regen, der draußen unablässig niederstäubte, flimmerte es weißlich. Es waren leichte Federchen und Flöckchen, die auf den Steinen wieder auseinanderflossen, gleich verfrühten Hoffnungen der Menschen. Waldemar sah nur den Schnee. Ja, komm’ nur, Winter! dachte er vergnügt: „Junggesellen-Weihnacht – giebt’s nicht mehr.“

Wer den stillen, menschenleeren, feuchtumschleierten Platz an diesem trübseligen Dezembervormittag für den Marktplatz einer längstversunkenen Stadt gehalten hätte, der würde, wenn nicht früher, mit dem Schlage elf seinen Irrthum eingesehen haben. Denn kaum verzitterte der letzte Ton der Glocke, als sich das „Hauptportal“ zum „Weißen Hirschen.“ aufthat und ein moderner Herr in Handschuhen, mit Hut und elegantem Regenschirm heraustrat. Alsbald belebten sich ringsum die todten Häuser, Fenster knarrten und neugierige Gesichter tauchten auf, um blitzartig wieder zu verschwinden, sowie der Fremde unter seinem Schirmdach in die Höhe blickte. Ei guten Morgen, werthester Herr Kreisgerichtsamtsaktuarius! Ihr Diener, hochverehrteste Frau Stadtsyndikus! hätte Waldemar gewiß zu jeder andern Zeit mit landesüblicher Höflichkeit gegrüßt. Jetzt kam ihm wohl der flüchtige Gedanke, wie gut sich all die alten Leutchen hier gehalten hatten, aber sein Herz war nicht dabei, das flog den feinen Lackstiefeln voraus, die Mühe hatten, sich zwischen den zahllosen Wasseradern und Lagunen dieses Klein-Venedigs einen Schimmer ihres großstädtischen Glanzes zu bewahren.

Von Schritt zu Schritt, das heißt von einem See zum anderen, verfolgten ihn weitaufgerissene Augen und Hälse, die sich fast gefahrdrohend verlängerten. Ein Fremder, der nicht einmal um den Weg fragt! Woher er kommt? Wohin, zu wem er will? Aha! zum jungen Dittmann in den Goldnen Engel! Nicht doch – er geht zu Bürgermeisters!! Waldemar war wirklich einen Augenblick vor dem wohlbekannten Laden stehen geblieben und hatte zu dem frisch vergoldeten Genossen seiner „schönen Jugendjahre“ aufgesehn. Erst jetzt bemerkte er, daß auch das alte Schaufenster beseitigt und eine große Spiegelscheibe dafür eingelassen war. Demnach war sein sparsamer Prinzipal nicht mehr am Leben. Richtig! vom Pult des Alten, der seinen festen Platz am Fenster hatte, erhob sich eine weitaus jüngere Gestalt: Karl Dittmann. „Karlchen!“ hätte er fast laut gerufen, so sehr erfreute ihn das Wiedersehen des runden sommersprossigen Gesichtes, der peinlich ungekämmten semmelblonden Haare und des verlegenen hilflosen Zuges um den Mund des guten Jungen, den er und Elsbeth oft gehänselt hatten. Aber der Vierzehnjährige von damals war zu einem großem starken Mann erwachsen und die sonst so freundlich hellen Augen hefteten sich nachdenklich, ja fast finster auf den Fremden, der erst im Weiterschreiten, seinen Hut zog. Was war das? Hatte ihn der junge Mann erkannt? Und warum so feindlich? Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn vor ihm lag das Haus des Bürgermeisters.

Es war fast das einzige am ganzen Markte, an dessen Fenstern sich kein Kopf gezeigt, aus dem Grunde, weil die Familie noch in der Tiefe der geräumigen

Wohnstube beim zweiten Frühstück saß. Waldemar gelangte ungesehen in den Hausgang, wo er sein Schuhwerk auf einer Binsenmatte reinigte, die ihm dieselbe schien, auf der er seine Erstlingsstiefel abgekratzt, und seinen Schirm in einen Ständer stellte, dem er mit Stolz einst seinen Konfirmationsregenschirm anvertraut hatte. In der Küche hörte er die Magd mit Kochgeschirr hantieren und aus dem Zimmer schallten Stimmen, unter denen er die fette heisere seines einstigen Vormundes unterschied. Es war ihm doch ein wenig wunderlich zu Muthe, als er an der wohlbekannten Thür anklopfte, vielmehr klopfen wollte. Denn in dem nämlichen Moment ward sie geöffnet und Kopf an Kopf, beinah zusammenstoßend, stand er vor einer schlanken weiblichen Gestalt, von welcher er zuerst nichts

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 871. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_871.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)