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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

16 Jahren nach Amsterdam gebracht, welcher in Irland seinen Eltern entwichen war, von frühester Jugend an unter wilden Schafen gelebt und deren Natur gleichsam angenommen hatte. Er war von gelenkigem Körper, in ununterbrochener Bewegung, von trotziger Miene, festem Fleisch, trockener sonnverbrannter Haut, strammen Gliedmaßen, zurückweichender, niedriger Stirn, gewölbtem, höckerigem Hinterhaupt, roh, planlos, unerschrocken, jeder Menschlichkeit bar.

Im übrigen war er von gesunder Körperbeschaffenheit und erfreute sich des besten Wohlseins. Er hatte keine menschliche Stimme, sondern blökte wie ein Schaf, verweigerte unsre gewöhnlichen Speisen und Getränke, verzehrte dagegen nur Gras und Heu wie die Schafe. Alles mehrmals hin und herwendend und stückweise untersuchend, wählte und kostete er endlich bald dies bald jenes, je nachdem die Nase oder der Gaumen es angenehmer fand. Er hatte in rauhen Bergen und wilden Orten gelebt; er selbst war nicht weniger wild und ungebändigt, ein Freund von Höhlen, weglosen Gegenden, unzugänglichen Orten. Er war gewohnt, unter freiem Himmel zu leben, ertrug Winter und Sommer und entging sehr lange den Nachstellungen der Jäger, bis er endlich in ihre Netze gerieth. Er hatte mehr das Ansehen eines Thieres als eines Menschen. Den Waldgeist hatte er nur ungern, unter Menschen verweilend, erst nach langer Zeit ausgezogen. Seine Kehle war weit und breit, die Zunge an dem Gaumen gleichsam angefügt. Die Gegend der Herzgrube war infolge des vorwärts geneigten Ganges nach oben gerückt.“

Aehnliche thierische Gewohnheiten fand man auch bei anderen Wildlingen, wie z. B. bei den litauischen Knaben, die unter Bären gefangen wurden, und bei dem „Mädchen von Songi in der Champagne“.

Es wird genügen, was die Knaben anbelangt, nur die Geschichte des im Jahre 1661 entdeckten wiederzugeben:

„Jäger, die in den litauischen Wäldern ihre Beute verfolgten, sahen einen Trupp Bären. Unter ihnen bemerkten sie zwei kleine Wesen, welche menschliche Gestalt hatten. Sie verfolgten sie mit solchem Eifer, daß sie eins auffingen, ungeachtet seines Widerstandes und Geschreies, seines Zähnefletschens und seiner Vertheidigung mit den Nägeln, gleich der eines jungen ungezähmten Bären. Man fesselte ihn und brachte ihn nach Warschau vor den König und die Königin von Polen. Der ganze Adel und die ganze Stadt lief herbei, um das Kind zu sehen, welches damals etwa neun Jahre alt zu sein schien. Seine Haut war extrem weiß, ebenso seine Haare. Seine Glieder waren gut proportionirt und vollkräftig. Sein Gesicht war hübsch, seine Augen blau, alle seine Sinne aber so verthiert, er des Verstandes und der Vernunft so entblößt, daß er von einem Menschen nichts zu haben schien als den Körper. Er hatte nicht einmal den Gebrauch der Sprache und alle seine Neigungen waren thierischer Art … Er konnte nie die Wildheit seines Naturells aufgeben, die er unter den Thieren erworben hatte. Gleichwohl nahm er die Gewohnheit an, auf zwei Füßen zu gehen, und er ging, wohin man ihn rief. Rohes und gekochtes Fleisch waren ihm gleich willkommen; Kleider konnte er am Körper nicht leiden, ebenso wenig Schuhe; niemals bedeckte er den Kopf. Von Zeit zu Zeit floh er in die Wälder, wo er sich damit vergnügte, mit den Nägeln Baumrinde abzureißen und ihren Saft zu saugen.“

Sprechen soll er niemals gelernt haben, obwohl er eine fehlerlose Zunge hatte.

Was nun das „Mädchen von Songi“ anbelangt, so ist ihre Geschichte insofern von Bedeutung, als sie uns den Beweis liefert, daß einige der Wildlinge nach ihrer Rückkehr in die menschliche Gesellschaft Sprache und Vernunft wieder erlangt hatten.

Rauber erzählt über diesen Fall etwa folgendes: Im September 1731 trat ein Mädchen von 9 bis 10 Jahren zur Dämmerungszeit von Durst geplagt in das Dorf Songi ein, welches 4 oder 5 Lieues von Châlons entfernt liegt. Ihre Füße waren nackt, der Körper mit Lumpen und Fellen bekleidet, der Kopf mit einem Flaschenkürbis statt der Mütze bedeckt, die Hand mit einer hölzernen Keule bewaffnet. Als jemand aus dem Dorfe eine Dogge auf sie losließ, erwartete sie das Thier festen Fußes und versetzte ihm, als es auf sie zustürzte, einen so heftigen Schlag auf den Kopf, daß das Thier todt zu ihren Füßen sank.

Voll Freude über ihren Sieg warf sie sich mehrmals auf den Körper des Hundes. Darauf suchte sie eine Thür zu öffnen, ging aber, da ihr dies nicht gelang, auf das Feld zur Seite des Flusses zurück, bestieg einen Baum und schlief hier ruhig ein. Durch eine Frau wurde sie danach vom Baume herabgelockt und gerieth so in die Gefangenschaft der Dorfbewohner. Als sie in die Küche eines hier befindlichen Schlosses gebracht wurde, fielen ihre Blicke auf einiges Geflügel, welches der Koch zubereitete. Sie warf sich mit Lebhaftigkeit und Begier auf dasselbe und begann es sofort zu verzehren. Ein ihr mit der Haut gegebenes Kaninchen würgte sie ebenfalls hinunter.

Wie spätere Beobachtung erwies, war das Mädchen äußerst geschickt im Klettern auf den Bäumen; es hatte einen eigenartigen gleitenden Gang, war aber dabei so behend, daß es ihm gelang, das Wild im Laufe zu Haschen. Ebenso geschickt war es im Tauchen und im Fangen der Fische und Frösche, die es roh verzehrte.

Fräulein „Le Blanc“, wie das Mädchen später genannt wurde, erwies sich bildungsfähig, erlernte die französische Sprache und wurde Nonne. Aber nur mit großer Mühe gelang es, ihr den Genuß von rohem blutigen Fleisch, sowie von Blättern, Zweigen und Wurzeln abzugewöhnen. Noch zwei Jahre nach ihrer Einfangung hatte sie die Neigung, den Fisch im Wasser zu fangen, nicht verloren.

Wir verzichten darauf, weitere Beispiele anzuführen. Die Wildlinge, von denen einige, wie z. B. der „wilde Peter von Hameln“, der damaligen gelehrten Welt Stoff zu vielfachen Untersuchungen boten, sind, wie jedermann zugeben muß, durchaus abnorme Erscheinungen. Die Geschichte kennt nur 16 derartige Fälle und dabei muß noch in Betracht gezogen werden, daß in diesen Schilderungen Wahrheit und Dichtung nicht mehr von einander zu trennen sind.

Für den Psychologen sind diese Fälle äußerst wichtig, aber kein ernster Forscher der Gegenwart würde sich veranlaßt finden, diese Menschen, von denen man nicht einmal weiß, ob sie geisteskrank waren, als eine Rasse oder Menschenart hinzustellen.

Der Mensch ist nicht für die Einsamkeit geboren; löst man ihn los von dem Verbande der Gesellschaft, so muß er zu Grunde gehen, wie eine Biene, die sich von ihrem Schwarm getrennt hat.

Die heutige Wissenschaft kennt keine „wilden“ Menschen; selbst bei den rohesten Stämmen findet sie Zeichen der Kultur und Gesittung, die zwischen dem Menschen und dem Thiere eine tiefe Kluft wahrnehmen lassen.




Waldemars Brautfahrt.
Novellette von Julie Ludwig.
(Schluß.)

Elsbeth schaute dem Treiben ihres einstigen Vertrauten mit wachsendem Unwillen zu. Wie eilig er es hatte, dieser treulose Waldemar, der Hausfrau seinen Arm zu bieten, als man sich an die kleine Festtafel im Nebenraum begab! Wie unbefangen er sie, Elsbeth, als sein vis-à-vis am Tisch begrüßte! Und mit welch weltmännischer Gewandtheit er den Faden des Gespräches zu ergreifen und zu lenken wußte, um die Gesellschaft nach und nach auf den Ton der höchsten Heiterkeit zu stimmen! Nein! nein! das war nicht mehr der vulkanisch glühende Verehrer von vorhin, dieser von Witz, Humor, ja Uebermuth sprühende Genosse. Der Bürgermeister lachte Thränen, selbst die Hausfrau lächelte voll Würde, und was der allgemeine Frohsinn und der gute Wein aus „Karlchen“ machte – es war unerträglich!

Nur eine blieb scheinbar in ihrer Ruhe. Hilde waltete still ihres Amtes. Ihre Augen hoben sich nicht einmal nach dem fremden Gaste. Sie hatte auf Krystall und Porzellan, auf Braten, Sauce und Pudding zu achten, der plumpen Magd die Schüsseln abzunehmen und herumzureichen – kaum, daß sie nur einmal zum Sitzen kam, um mit dem Vormund auf die neue Kochmaschine oder mit Karl Dittmann auf fernere getreue – Kundschaft

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 883. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_883.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)