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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Gärtchens von künftigen glänzenden Tagen zu träumen. Indessen sammelte sie eifrig Wappen, wußte die Stammbäume aller namhaften Geschlechter auswendig und gerieth über die immer häufiger werdenden Mesalliancen in hellen Zorn. Zur Hochzeit ihres ältesten Bruders simulirte die damals achtjährige Krabbe eine Halsentzündung und blieb daheim; sie hätte es nicht mit ansehen können, daß Viktor von Tollen, dem stattlichen Kürassier, ein simples Fräulein Lange angetraut wurde, und wären die Geldsäcke der niedlichen Braut noch zwanzigmal größer gewesen. Käthchen hätte am liebsten zu Zeiten der Raubritter leben mögen, damit Viktor den Herrn Kommerzienrath Lange ausplündern konnte, anstatt die Tochter zu freien. Dies alles hinderte sie aber durchaus nicht, mit wahrer Hingebung für Herrn Doktor Schönberg zu schwärmen, der die Litteraturstunden in der Selecta der Töchterschule übernommen hatte, welche Klasse Käthe besuchte, um das Erzieherinexamen zu machen. Sie suchte sich über diese „Verirrung“ mit den wunderlichsten Romanen zu trösten, in denen „Er“ jedesmal „von Schönberg“ hieß, der, nur durch die Noth gezwungen, seinen Adel einstweilen bei Seite legte. – –

Lore hatte die Schwester traurig angesehen. „Wie spät Du wieder aufgestanden bist,“ sagte sie vorwurfsvoll, „und konntest doch so gut etwas helfen, denn Deine Klasse beginnt heute erst um zehn Uhr.“

Käthe schnitt ein unbehagliches Gesicht, warf zwei große Stücke Zucker in den Milchkaffee und sprach von etwas anderem.

„Rudi! Rudi! ertönte jetzt die Stimme der Mutter draußen, „der Vater fragt nach Dir!“

Ein trauriger bittender Blick Lores folgte dem Hinausgehenden.




Lore war noch ein Weilchen in der Küche thätig gewesen, hatte ein zweites Frühstück in der Eßstube auf den Tisch gestellt, nach der Wäsche gesehen und sich dann in ihr eigenes Stübchen hinauf begeben, um Toilette zu machen. Es befand sich im Bodengeschoß und war eine sogenannte Mansarde; aber wie anmuthig sah es hier aus! Das schmale Bettchen unter dem schrägen Dach verdeckten duftige weiße Mullvorhänge, in denen die vielen Stopfen so fein ausgeführt waren, daß man meinen konnte, sie gehörten zu dem Blumenmuster. An dem niedrigen Fenster stand ein kleiner wunderlicher Schreibtisch, eine Art Rokokomöbel mit erblindeter Politur und allerhand Schäden, das eine der verschnörkelten Beine fehlte ganz und war in sehr primitiver Weise ersetzt worden. Aber dieser Schreibtisch war „historisch“; Frau von Tollen auf Donnerstadt nannte ihn einst ihr eigen, und Prinz Louis Ferdinand hatte, während er in Donnerstadt bei Gelegenheit eines Manövers zwei Wochen Quartier genommen, seine Briefe an diesem Tischchen geschrieben. Auf der oberen Platte standen nun die kleinen Nippessachen der jetzigen Eigenthümerin, bescheidene Blumenvasen, die stets gefüllt waren mit frischen Blüthen, wenn die Jahreszeit es erlaubte; Nadelkißchen, eine Kabinettphotographie des Kaisers, und als Pendant ein Bild der Königin Luise; kleine unbedeutende Kotillongeschenke, ein Kästchen mit Messingbeschlag zum Aufbewahren von Schmuck, das aber nur ein welkes Sträußchen in seinem dunkelrothen Atlaspolster barg. Auf der untern Platte lag die Schreibmappe, ein Geschenk Käthes; sie zeigte auf der Holzplatte in möglichster Größe, aber etwas primitiver Malerei das Tollensche Wappen, den silbernen Hund auf goldener Mauer im blauen Felde, und darunter den Wahlspruch: „Treu und fest.“ Der kleine Spiegel über der Kommode an der Längswand des Kämmerchens trug in der Ecke ebenfalls das Wappen; es wollte gar nicht zu der einfachen Holzleiste passen, die es umrahmte, so wenig, wie das schöne Mädchen in diesen niedrigen Raum zu gehören schien, in den es eben eingetreten war und wo es so unbeweglich stehen blieb mit tief gesenktem Haupt.

Endlich fuhr sie sich mit der Hand über die Stirn, durch das geöffnete Fenster waren lärmende, lachende Stimmen erklungen. Sie spähte hinter den Blumenstöcken hervor zu dem Nachbargrundstück hinüber. Ein großes altersgraues Gebäude lag dort im klaren Sonnenschein, und auf dem weiten kiesbestreuten Platz davor tummelten sich ein paar hundert Knaben in diesem Augenblick. Ehemals ein Kloster, diente es jetzt dem Städtchen als Gymnasium.

Die Augen Lores irrten über die spielende bewegte Menge und blieben endlich mit beredtem Ausdruck an einem jungen Manne haften, der mitten durch das Getümmel über den Platz der Mauer zu schritt. Er trug einen dunkelblauen gut sitzenden Civilanzug und einen Filzhut von gleicher Farbe. Näher kommend, faßte er das Giebelfensterchen ins Auge und nahm grüßend den Hut ab. Rosig erglühend neigte Lore von Tollen den Kopf und trat zurück, während er, als geschehe es nur der warmen Sonnenstrahlen wegen, seine Kopfbedeckung in der Hand barhaupt weiterschritt.

Das junge Mädchen hatte sich auf den Stuhl gesetzt, der vor ihrem Bette stand, sie konnte von dort aus seine Schritte verfolgen. Ein strahlendes Lächeln war über ihr Gesicht verbreitet, und so lächelnd wandte sie noch den Kopf zurück. als ihre Mutter eintrat.

„Lore,“ begann die alte Dame verlegen, „wenn es Dir keine Unbequemlichkeit macht – der Schuster – weißt Du, die Stiefel für Käthe und einige Reparaturen – er hat die Rechnung zum dritten Male geschickt und gleich quittiert. Die Frau wartet unten – und – ich bin – es ist der siebenundzwanzigste, Lore.“

Das junge Mädchen war aufgesprungen und an die Kommode geeilt. „Wie viel, Mama?“ fragte sie fröhlich, indem sie aus dem obersten Schub ein Kästchen hervorlangte und es vor dem Ohre der Mutter leise klappern ließ.

„Zwölf Mark. Lorchen – wenn es nicht zu viel?“

Vier blanke Thaler verschwanden in der Hand der alten Dame und vier Lippen preßten sich innig aufeinander. „Nächsten Ersten. Lore.“

„Mach’ Dir keine Sorgen, Herzensmutter!“

Als sie gleich darauf wieder allein war, überzählte sie ihren kleinen Schatz. Noch zwölf Thaler; davon würden drei für des Vaters Geburtstagsgeschenk sein, und das Uebrige – sie lächelte wieder und dachte an das hellblaue Tüllkleid, das sie so gern, so lebensgern zum ersten Winterklubabend sich kaufen wollte. Aber – Weihnacht? Nun, bis Weihnacht war schon längst wieder ihr Geburtstag gewesen und der Onkel hat die bewußten zwanzig Mark gespendet; bis dahin hatte sie auch aus dem Berliner Stickereigeschäft – sie sah sich unwillkürlich scheu um: das durfte ja niemand ahnen, daß sie heimlich für Geld arbeitete! Der Vater würde schelten, die Mutter weinen und Käthe außer sich sein. Und gar Rudi – ach, Rudi! –

Ihr sonniges Lächeln verschwand, wie hatte sie das nur einen Augenblick vergessen können? Still beendete sie ihre einfache Toilette und nahm, bevor sie das Zimmer verließ, von dem Bücherband eine Spruchsammlung, steckte den schlanken Finger zwischen die Seiten und las die Stelle, die seine Spitze berührte. Sie pflegte es jeden Morgen zu thun und den kleinen Wegweiser für den Tag in der zufällig bezeichneten Stelle zu suchen.

„Sorg’! Aber sorge nicht zu viel;
Es geht doch, wie Gott haben will.“

las sie.

Und noch einmal:

„Kein süßer Leid, denn Hoffen.“

Sie sprach es leise und wie fragend vor sich hin. Dann flog ihr Blick durch das Fenster zu dem Gymnasium hinüber, und wie Rosengluth ergoß es sich wieder über das schöne Gesicht. Hastig, als habe sie ein Geheimniß verrathen, schloß sie das Buch und lief hinunter zum Vater.

Der alte gelähmte Herr saß in seinem Rollstuhl, von blauen Tabakswolken umhüllt, und plauderte mit dem Sohne. Als er Lore gewahrte, flog ein ungeduldiger Zug über sein vergrämtes Gesicht. „Lore, wie tausendmal habe ich Dir schon gesagt, Du sollst Taubenfedern besorgen und die Pfeifen reinigen, sie sind kaum noch zu rauchen.“

„Papa, ich habe sie vor zwei Tagen alle gereinigt bis auf diese; Du rauchtest gerade daraus.“

„Ausreden giebt’s immer,“ polterte der alte Herr. – „Was sagte denn nun der freche Dachs von Fähnrich?“ wandte er sich, im Gespräch fortfahrend, an seinen Sohn. „Zu meiner Zeit hätte ich den Patron achtundvierzig Stunden eingelocht, aber –“

„Ist auch geschehen, Papa.“

„Lore!“ rief der Major.

Das Mädchen kam aus der Nebenstube zurück.

„Schließ die Fenster! Himmelsakrament, Junge, hör’ diesen Spektakel da draußen an! Was, ist’s denn schon Zwölf? Ach so – heute ist die Schule eine Stunde früher aus als gewöhnlich. Ich sage Dir, zum Verrücktwerden ist diese Wohnung; am Alltag der Schullärm und Sonntags drüben im sogenannten Hellmannschen Gartensaal die Tanzmusik“ – er verbeugte sich ironisch gegen

Lore, die noch am Fenster stand – „alles haben wir den Damen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_006.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)