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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Der Eissport.

Jedes Jahr, wenn die Stürme des Spätherbstes über Wald und Flur brausen und ungestüm in den Kronen der Bäume wüthen, daß diese ihnen willig ihren Blätterschmuck als Spielzeug überlassen; wenn die Sonne tiefer und tiefer sinkt und die Tage immer kürzer werden; wenn Frau Holle die ersten Flocken auf die von aller Schaffenslust müde Erde herabsendet und der alte Hausfreund während der rauhen Jahreszeit, der Ofen, wieder zu Ehren kommt – jedes Jahr um diese Zeit vernimmt man von schwächlichen Naturen immer wieder den klagenden Wunsch: ach, wäre doch der Winter erst vorbei! Und doch hat auch diese Jahreszeit ihre Freuden und Vorzüge, und unser herrliches deutsches Weihnachten mit seinem strahlenden Lichterbaum würde den größten Theil seiner Poesie, seines geheimnisvollen Reizes einbüßen, wenn es mitten in den Sommer fiele. So oft auch die Vorzüge eines frischen fröhlichen Winters mit seinen Schlittenpartien für Kinder und Erwachsene, seinen herrlichen Schneeballkämpfen und seinen Eisbahnen gerühmt worden sind – immer wieder möchte man auf diese Geist und Körper kräftigenden Freuden zur Ehrenrettung des vielgeschmähten Winters hinweisen.

Ganz besonders ist es das Schlittschuhlaufen, das in dieser Beziehung eine Wirkung ausübt wie kein anderes Bewegungsspiel. Weder der Tanz noch das Turnen reichen in ihrem wohlthätigen Einfluß auf den menschlichen Organismus an dieses winterliche Vergnügen heran, denn der Tanz im staubigen, nicht selten überhitzten Saale dürfte für die Gesundheit schwerlich von großem Nutzen sein und das Turnen im Winter geschieht ebenfalls fast ausschließlich im geschlossenen Raum; es entbehrt also wie das Tanzen des wichtigsten Erfordernisses, der reinen frischen Luft, die der Schlittschuhläufer im vollsten Maße genießt.

Der Ruhm dessen, der dem Fuße Flügel gab – wie Klopstock in seiner Ode „Der Eislauf“[WS 1] sich ausdrückt – ist vergangen und verloren, denn der Erfinder des Schlittschuhs, oder nach der Schreibweise desselben Dichters: Schrittschuhs, ist unbekannt geblieben bis auf den heutigen Tag. Gewiß ist nur, daß schon in grauer Vorzeit die Skandinavier dem Eislaufe huldigten, und bereits in der „Edda“ wird der nordische Wintergott Uller als gewandter Schlittschuhläufer gerühmt. Die ersten Schlittschuhe bestanden aus Knochen von Renthieren, Pferden und Rindern und noch heutigen Tages bedient man sich in Island und einem Theile Norwegens dieses Materials, während die übrige eislaufende Welt bis zu hoher Vollkommenheit ausgebildete Stahlschienen benutzt. Die besten Schlittschuhläufer der Welt sind bekanntlich die Niederländer, für welche der eiserne Schuh ein unentbehrliches Verkehrsmittel bildet. Aber auch die übrigen Nationen, und die Deutschen nicht zuletzt, vervollkommnen sich immer mehr in dieser Kunst, soweit die klimatischen Verhältnisse ihnen dies ermöglichen, namentlich nimmt auch das weibliche Geschlecht mehr und mehr an diesem gesundheitsfördernden Sport theil.

Das Schlittschuhlaufen hat seine Lobredner in allen Ständen gefunden und selbst die gefeiertsten Dichter verschmähten es nicht, ihm zu Ehren den Pegasus zu besteigen. Klopstock gehörte zu den begeistertsten Anhängern des Eislaufes; seine Oden „Braga“, „die Kunst Tialfs“ und die bereits erwähnte Dichtung sind diesem Vergnügen gewidmet und noch in seinem dreiundsiebzigsten Jahre sang er:

„Wasserkothurn, Du warst mir der heilenden Einer; ich hätte
 Unbeseelet von Dir weniger Sonnen gesehn!“

Der Etatrath Peter Sturz in Oldenburg, welcher mit Klopstock persönlich und brieflich verkehrte, schreibt über den Dichter: „Die Holländer schätzt er gleich nach den Deutschen, weil sie die Tyrannen verjagten und – die besten Eisläufer sind. Einst traf ich ihn bei einer Landkarte in tiefem Nachsinnen; er zog Linien, maß und theilte. ‚Sehen Sie,‘ rief er dann ‚man vereinigt Meere; wenn man diese Flüsse verbände, hier einen Kanal zöge, dort noch einen, das wäre doch unserer Fürsten noch würdig, denn so hätte man Deutschland durch eine herrliche Eisbahn vereinigt.‘ Er hat Gesetze gegeben für den Eislauf mit einem solonischen Ernste.“

Altmeister Goethe war bereits ziemlich hoch bei Jahren, als er noch immer das Schlittschuhlaufen mit jugendlicher Kraft übte. In seiner Selbstbiographie „Aus meinem Leben“ äußert er sich über dieses Vergnügen folgendermaßen: „Bei eintretendem Winter that sich eine neue Welt vor uns auf, indem ich mich zum Schlittschuhfahren, welches ich nie versucht hatte, rasch entschloß. Diese neue frohe Thätigkeit waren wir denn auch Klopstocken schuldig, seinem Enthusiasmus für diese glückliche Bewegung. Ich erinnere mich ganz genau, daß an einem heiteren Frostmorgen ich, aus dem Bette springend, mir jene Stelle zurief: ‚Schon von dem Gefühle der Gesundheit froh, hab’ ich, weit hinab, weiß an dem Gestade gemacht den bedeckenden Kristall.‘ Mein zaudernder und schwankender Entschluß war sogleich bestimmt, und ich flog sträcklings dem Orte zu, wo ein so alter Anfänger mit einiger Schicklichkeit seine ersten Uebungen anstellen konnte. Und fürwahr, diese Kraftäußerung verdiente wohl von Klopstock empfohlen zu werden, die uns mit der frischesten Kindheit in Berührung setzt, den Jüngling seiner Gelenkheit ganz zu genießen aufruft und ein stockendes Alter abzuwehren geeignet ist. Auch hingen wir dieser Lust unmäßig nach. Einen herrlichen Sonnentag so auf dem Eise zu verbringen, genügte uns nicht; wir setzten unsere Bewegung bis spät in die Nacht fort. Denn wie andere Anstrengungen den Leib ermüden, so verleiht ihm diese eine immer neue Schwungkraft.“

Chamisso, Seume, Wilhelm Müller und andere besingen ebenfalls dieses Wintervergnügen in zum Theil begeisterten Dithyramben; der alte Pädagog Salzmann, der Begründer der berühmten Erziehungsanstalt Schnepfenthal, ließ seine Zöglinge täglich, so lange das Eis hielt, Schlittschuh laufen, und Hufeland, Hahnemann, der seiner Zeit hochgefeierte Professor Heim und viele andere hervorragende Aerzte empfahlen diese Art von Bewegung im Freien als das beste Vorbeugungsmittel gegen Krankheiten aller Art. Die vortrefflichen sanitären Wirkungen dieses Sports, wenn man diese Bezeichnung anwenden darf, stehen längst so unumstößlich fest, daß dem kein vernünftiger Mensch widersprechen wird, kaum irgend ein Anhänger aber hat in so schwungvollen Worten das Lob des Schlittschuhvergnügens verkündet wie der treffliche Jugenderzieher und Mitbegründer der Turnkunst, Christoph Friedrich Guts Muths, wenn er in seiner „Gymnastik für die Jugend“ sagt: „Ich kenne keine schönere Uebung als den Eislauf, diese bezaubernde Bewegung, die uns von dem Gesetze der Gravitation gleichsam entfesselt. Sie führt ein so göttliches Vergnügen mit sich, daß unser großer Klopstock ihr zum Lobe mehrmals in seine nie entweihte Harfe griff. Reine Luft, durchdringende, stärkende Kälte, Beschleunigung des Umlaufs der Körpersäfte, Anstrengung der Muskeln, Uebung in so mannigfaltigen geschickten Bewegungen, reines Vergnügen u. s. w. müssen nicht nur auf die körperliche Maschine des Menschen, sondern auch auf seinen Geist einen sehr mächtigen Einfluß üben.“

Gegenüber solchen Zeugnissen müßte auch das letzte Bedenken überängstlicher Eltern schwinden!




Blätter und Blüthen.

Wohnungsnoth der Arbeiterinnen. Arbeiterwohnungen bilden längst eine der brennendsten socialen Fragen und hier und dort sind bereits segensreiche Anfänge zur Lösung derselben gemacht worden. In erster Linie wurde jedoch dabei nur an die verheiratheten oder ledigen männlichen Arbeiter gedacht; die Arbeiterinnen oder Fabrikmädchen sind dabei, von sehr geringen und durchaus vereinzelten Ausnahmen abgesehen, unberücksichtigt geblieben; und doch ist die Wohnungsnoth derselben dringender als die irgend einer anderen Arbeiterklasse. Die Lohnstatistik weist uns nach, daß ein sehr großer Theil der Arbeiterinnen unserer Großstädte Löhne erhält, welche nicht hinreichen, die nothwendigsten Bedürfnisse des Lebens zu befriedigen, und ebenso steht es fest, daß die Mehrzahl der unverheiratheten Arbeiterinnen sich nicht in der Lage befindet, im elterlichen Hause oder bei Verwandten Wohnung zu nehmen, sondern genöthigt ist, bei fremden Leuten ein Unterkommen zu suchen. Dadurch kommt es, daß gerade die Arbeiterinnen von allen Schattenseiten der Arbeiterwohnungen am empfindlichsten getroffen werden.

Es ist hier nicht der Ort, auf die bedenklichen Unzuträglichkeiten hinzuweisen, welche das Schlafstellenwesen in gesundheitlicher und sittlicher Beziehung mit sich bringt. In einer Broschüre „Die Lage der Arbeiterinnen in den deutschen Großstädten“ von Dr. Kuno Frankenstein (Leipzig, Duncker und Humblot) sind die Ergebnisse verschiedenartiger Nachforschungen zu einem wahrhaft düsteren und abschreckenden Bilde zusammengestellt und jene Broschüre veranlaßt uns, auch für die Bestrebungen einzutreten, welche geeignet sind, jener Wohnungsnoth abzuhelfen.

Am besten ist die Arbeiterin geborgen, wenn sie einen engeren Anschluß an eine solide Arbeiterfamilie findet; aber bei der in den ärmeren Klassen bestehenden Wohnungsnoth ist dieses Mittel nur in den wenigsten Fällen zu erreichen, und daraus folgt auch, daß für die Arbeiterinnen besondere Logirhäuser geschaffen werden sollten. Dieselben gehören keineswegs in das Reich der Utopien. Aehnliche Anstalten sind für unverheirathete Arbeiter bereits ins Leben gerufen worden und haben sich trefflich bewährt. Als Beispiel wollen wir nur das vom Bochumer Verein für Bergbau und Gußstahlfabrikation im Jahre 1873 errichtete für 1500 unverheirathete Arbeiter ausreichende Kost- und Logirhaus in der Nähe der Kolonie Stahlhausen anführen. In diesem erhält der Arbeiter für den sehr mäßigen Preis von 80 Pfg. im Winter und 75 Pfg. im Sommer täglich Wohnung nebst einem guten Mittag- und Abendessen.

Das Logirhaus liefert den Arbeitern sogar Bettwäsche nebst Handtücher und das Essen ist wirklich gut zu nennen; denn das Mittagessen besteht aus einer kräftigen Suppe, Gemüse und Fleisch, je nach der Jahreszeit, und das Abendbrot aus warmen Kartoffeln mit Sauce und Braten oder einem andern Stücke Fleisch. Die Portionen sind sehr reichlich; außerdem kann aber ohne Mehrkosten von dem betreffenden Arbeiter noch nachverlangt werden. Brot und Kaffee sind im Hause zu Einkaufspreisen, außerdem aber heißes Kaffeewasser unentgeltlich zu haben.

Sollte es nicht möglich sein, ähnliche Kost- und Logirhäuser für die Arbeiterinnen zu errichten? Die Frage ist ohne Zweifel zu bejahen. Man sollte nur den Anfang machen und für die allgemeine Frauenfrage wird die Gründung eines ersten solchen Hauses im größeren Maßstabe viel wichtiger sein als die Erlangung so manchen Rechtes, nach dem sich viele Frauen so sehr sehnen. Ein Daheim für einige wenige Arbeiterinnen, wie es hier und dort vielleicht zu finden ist, genügt der großen Noth gegenüber keineswegs. Die Hilfe muß eine weitreichende werden; und wir glauben, diese Hilfe wird kein Almosen sein. Frauen sind zum Wirthschaften geboren, und ein Logirhaus für Arbeiterinnen wird mit geringeren Kosten zu erhalten sein, als die Logirhäuser für Arbeiter. So wird es sich eigentlich nur um ein Gründungskapital handeln, das zu beschaffen sein wird.

Und welchen unermeßlichen Nutzen würden solche Logirhäuser in moralischer und wirthschaftlicher Beziehung bringen! In richtigen Händen, unter sorgsamer sachverständiger Leitung könnten dieselben zu wahren Pflanzstätten der Zucht und besonders für jüngere Arbeiterinnen zu Erziehungsanstalten und Fortbildungsschulen fürs praktische Leben werden.

C. Falkenhorst.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. vgl. Oden, Hamburg 1771, S. 151 Deutsches Textarchiv
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_019.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)