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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

vor sich auf der Fensterbank, im Nebenzimmer fand. Lore ertrug wirklich musterhaft die Launen der alten Dame und würde sie ebenso musterhaft ertragen haben, wenn die Fenster des Wohnzimmers von Fräulein Melitta auch nicht den Blick gewährt hätten, wie sie es wirklich thaten, nämlich über die Straße hinweg zu einem Paar blinkender Fenster mit geblümten Kattunvorhängen, die so bescheiden und versteckt hinter hohen Rüstern lagen, daß sie gar nichts Bemerkenswerthes zu bieten schienen und weder der Tante noch den vielen Leuten auffielen, die dort vorüber gingen, die aber Lore von Tollen doch der schönste Anblick der Welt dünkten.

Das bescheidene Haus gehörte der verwitweten Frau Pastor Schönberg, und hinter den besagten Fenstern wohnte ihr Sohn, der Doktor Ernst Schönberg. Als Lore die Straße herunterkam, der Wind ihr gelbe Blätter entgegen wirbelte und ihr Auge die rothbraune Färbung der Rüstern gewahrte, zog es wie freudige Ueberraschung in ihr Herz – es nahte die Zeit, wo sie nicht mehr auf dem kleinen Balkon an der Hinterseite des Hauses mit Tante zu sitzen brauchte, wo das traute Plätzchen hinter der Filetgardine mit der entzückenden Aussicht wieder zur Geltung kam. Darüber vergaß sie einen Augenblick ihre vielen traurigen Gedanken von heute früh und trat, rosig und rasch athmend vom Gange und der steilen Treppe, in das Zimmer der Tante.

Die alte Dame mit der eigenthümlichen Haarfrisur – an jeder Seite des schmalen Gesichtes hingen drei bis vier Löckchen herunter, die allerdings ungemein an den Behang eines Wachtelhundes erinnerten – saß an ihrem Nähtisch und wühlte in einem Haufen von buntem seidenen Tand umher.

„Gott sei Dank, Lore, daß Du kommst!“ rief sie der Eintretenden entgegen, „der Thee ist schon abgegossen worden, er hätte sich sonst bitter gezogen; lege ab und setze Dich!“ Sie fuhr wieder mit den Fingern in den bunten Läppchen umher und zog einen Brief hervor. „Da ist ein Schreiben von Helene für Dich; sie bat mich, ich möchte es Dir unbemerkt übermitteln – ist wohl wegen Deines Papas Geburtstag, denke ich.“

Lore hatte das Jäckchen abgezogen, den dunkelblauen, sehr einfachen Filzhut von dem blonden Haare genommen und saß nun an ihrem geliebten Fensterplatz mit der interessanten Aussicht, der Tante gegenüber, den Brief in der Hand drehend. Die alte Aufwärterin des Fräuleins brachte Thee und Buttersemmeln, im Ofen brannte ein leichtes Feuer, denn die Herbstkühle war der alten Dame bereits sehr empfindlich, und der gemüthliche Zauber dieser wunderlichen Altjungfernstube, der die Puppenanlage einen heiteren kindlichen Ausdruck verlieh, theilte sich auch Lores jungem Herzen mit.

„Danke schön, liebe Engeln,“ sagte sie freundlich, der alten Frau die Tasse abnehmend und den Brief bei Seite legend. Dann wandte sie sich wieder zu der Tante: „Rudi ist gestern gekommen, er wird mich nachher abholen, um Dich zu begrüßen.“

„Weißt Du nicht, wie weit er mit seinem Interesse für die schöne Blondine in seinem Album gekommen ist?“

„Welche?“ fragte Lore belustigt. „Er hat Blondinen und Brünetten zu halben Dutzenden darin. Aber nun verzeih einen Augenblick, Tantchen, ich möchte den Brief erst lesen.“

Die Handschrift der Schwester erschreckte sie; die sonst so gleichmäßigen Schriftzüge hatten sich diesmal fast unleserlich gestaltet, als seien sie in Aufregung und Hast über das Papier gestreut.

„Liebste Lore!

Soeben beifolgende Zeilen meines Bräutigams – ich bitte Dich, was soll daraus werden? Am liebsten käme ich selbst, um die Sorgenstunden mit Euch zu tragen, aber die Pflicht fesselt mich hier; ich wäre zu undankbar, wollte ich meine Schwiegermama verlassen auf ihrem Krankenlager.

Ich kann mich nicht entschließen, Mama zu schreiben, wie Franz es wünschte –. Du bist so ruhig und verständig, in Deine Hände lege ich es; siehe zu, wie Du es den Eltern am besten beibringst.
 In treuer Liebe
  Deine Helene.“

Zitternd griff Lore nach dem Briefblatt, das mit des Schwagers Handschrift dicht bedeckt war. Noch suchte sie sich zu beherrschen, ihren Schrecken zu verbergen, da klopfte es an die Thür, und auf das „Herein!“ von der schrillen Stimme Tante Melittas erschien auf der Schwelle ein junger Mann in einem Besuchskostüm allerneuester englischer Mode.

„Mille pardon, meine Gnädigste, wenn ich störe! Schon lange beabsichtigte ich, unserer hochverehrten Nachbarin meine Aufwartung zu machen – Ah!“ unterbrach er sich, „Fräulein von Tollen – welch glücklicher Zufall! Eben ist meine Mutter bei Ihrem elterlichen Hause vorgefahren, um Ihnen, ganz speciell Ihnen, einen Besuch abzustatten. – Erlauben die Damen?“ Er hatte währenddem einen Stuhl herangezogen, um sich an Fräulein Melittas Seite niederzulassen, die mit einer gewissen altmodischen Feierlichkeit im Sofa Platz genommen.

„Freut mich sehr – äußerst angenehm, Herr Becker!“ lispelte sie.

Lore war ruhig auf ihrem Platz verblieben. Sie kam sich vor, als sei sie gelähmt, so rieselte ihr noch immer der Schreck über das Gelesene durch die Glieder. Die Anwesenheit Adalbert Beckers ward ihr zur psychischen Qual. Er richtete jetzt das Wort an sie, und sie sah ihn verständnißlos an, ohne eine Antwort zu finden. Er war gewissermaßen eine hübsche Erscheinung, dieser große blonde Mensch, nur lag in seinen feuchten hellblauen Augen ein Schimmer, der Lore stets mit Widerwillen erfüllte, ohne daß sie wußte, weshalb. Das rosige Gesicht war gedunsen, wie es denen passirt, die gern gut diniren und den Sekt dabei nicht sparen. Seine Toilette war elegant, aber nicht die eines Gentleman; er trieb einen wahnsinnigen Luxus in Kravatten und Hemdknöpfen, besaß die kleinsten Taschentücher mit den größten Monogrammen und die unmöglichsten Parfüms. Die Verbeugungen seines großen starken Körpers mißriethen meistens kläglich, und im Verkehr mit Damen warf er mit Komplimenten um sich, so groß und grob wie Bomben. Er sprach überdies gern von seinem Gelde und taxirte jedes Ding auf seinen Werth. Im großen und ganzen hatte er sich in den drei Jahren, die er in Westenberg verlebte, den Ruf eines „guten Kerls“ erworben, und in der That gab er nicht geringe Summen für wohlthätige Zwecke aus. Das neue städtische Krankenhaus war zum großen Theil aus seinen Mitteln erbaut, er hatte einen Brunnen auf dem Markt gestiftet und zu Kaisers Geburtstag speiste er den ganzen Kriegerverein in der „Krone“. Lauter Lobenswerthes; aber Lore von Tollen dachte anders. Sie hielt ihn für roh; sie hatte diese Ansicht von ihm, seitdem er ein edles Pferd, das er auf einem Wettrennen zu schanden geritten – es trug einen unheilbaren Schaden des rechten Vorderbeines davon und hustete – an einen Karrenfuhrmann verkauft. – Das Thier, das sich kaum zu schleppen vermochte, zog jeden Tag die schwere Sandkarre vor der eleganten Villa vorbei, in deren Ställen es noch vor wenigen Monaten gestanden, verhätschelt und geliebkost; und jedesmal machte das Thier Halt und wieherte leise, als ob es eingelassen werden wollte, und Herr Adalbert Becker sah es ruhig mit an – hatte er doch sechs Thaler für den Gaul bekommen!

Zufällig hatte Lore das erfahren; seitdem haßte sie den Mann, der für die beste Partie im Städtchen galt und der Gegenstand vieler heimlicher Berechnungen besorgter Mütter war, die heirathsfähige Töchter besaßen. Sie meinte, wer für Thiere kein Erbarmen habe, fühle auch Menschenleid nicht mit. Und dieser Mann widmete seine ausschließliche Huldigung Leonore von Tollen, und trotz der kühlen Nichtachtung wurde er immer eifriger in seinen Aufmerksamkeiten.

Nun saß er dort bei der Tante, bei der alten einsamen Person, die gar nicht Anspruch machte auf Besuche junger Lebemänner. Lore wußte ganz genau, es war wiederum ein Versuch, sich ihr und ihrer Familie zu nähern.

„Sie ahnen nicht, mein gnädigstes Fräulein, was meine Mutter Ihnen für eine Bitte vortragen wollte; da ich glücklicher bin als sie und Sie so unvermuthet hier treffe, darf ich Sie wohl damit bekannt machen? Es handelt sich um eine kleine Aufführung für unseren Ball – wir rechnen dabei auf Ihre Gnade. – Würden Sie die Rolle der französischen Bäuerin in dem kleinen Singspiel ‚Kurmärker und Pikarde‘ übernehmen? Diese entzückende Rolle wäre durch Ihre Grazie und Eleganz entschieden verkörpert.“

Er legte seine in helle Glacés gepreßten Hände bittend zusammen und sandte einen wahrhaft feurigen Blick zu dem jungen Mädchen hinüber.

„Ich bedaure sehr, ich spiele grundsätzlich nicht Komödie.“

„O, aber – warum nicht?“

„Weil ich es nicht liebe.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_022.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)