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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

No. 5.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


 

Lore von Tollen.

Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.
(Fortsetzung.) Roman von W. Heimburg.


Käthe lief, wie verfolgt, durch das Gärtchen auf die Straße hinaus. Erst als sie in der Thorgasse war, ging sie ruhiger, aber das Buch brannte wie Feuer in ihrer Hand. Unter einer Laterne zur Seite des Fahrdammes blieb sie stehen und betrachtete das Packet. Es war mit einem Siegel zugedrückt und mit Bindfaden umwunden. Ein eisiger Zug legte sich um ihren Mund und ließ das junge Gesicht um Jahre älter erscheinen, ihre Finger zuckten, als müsse sie das Siegel erbrechen, aber sie unterließ es. „Unverschämt!“ flüsterte sie, weiterschreitend mit verdoppelter Hast. Ungestüm trat sie in die Thür des väterlichen Hauses, und als sie Lores Stimme aus der Küche hörte, stand sie im nächsten Augenblick vor der Schwester, die am Herd beschäftigt war, des Vaters Abendsuppe zu bereiten.

„Hier!“ sagte sie fast heiser und hielt Lore das Packet entgegen, „da ist das Buch.“

„Welches Buch?“ klang es überrascht zurück.

„Nun, das vom Doktor Schönberg, thue doch nicht so verwundert; nimm es, ich habe keine Lust, es Dir noch länger hinzuhalten.“

Lore hob die Kasserole vom offenen Feuer, in der die Wassersuppe am Ueberschäumen war, und ergriff erst dann das Packet. Käthe schlug die Arme in einander und beobachtete, wie die Schwester, am Küchentisch vor der kleinen Petroleumlampe stehend, die Kordel löste und aus dem Umschlag ein Buch nahm. Als sie es öffnete, flog ein Streifchen Papier hernieder, ohne daß sie es bemerkte.

Käthe rührte sich nicht.

Lore schüttelte den Kopf. „Ein griechisches Wörterbuch? Käthe, das ist wohl ein Irrthum!“

Das junge Mädchen lachte laut auf. „Der Kommentar liegt zu Deinen Füßen, Lore!“ rief sie; „Schönberg besitzt wahrscheinlich keinen Schimmer, daß Du so schwer kapirst, sonst hätte er vielleicht außen auf dem Päckchen bemerkt: ‚Einliegend ein Billetdoux!‘“

Lore hatte sich rasch gebückt und das Zettelchen aufgehoben, sie las es, roth erglüht:

„Ich konnte Dich nicht treffen heute, Lore, und mich verlangt es, Dich zu sehen. Ich muß mit Dir verabreden, wann ich mit Deinem Vater sprechen darf; so ertrage ich es nicht länger. Entschließe Dich, komme heut abend nach Tische zu meiner Mutter, ich habe ihr alles anvertraut. Ich muß Abschied von Dir nehmen für acht lange Tage; eben fand ich einen Brief vor, der mich nach M. ruft. Wenn Du mich liebst, Lore, so erfülle meine Bitte.“

Sie stand noch immer, den Kopf geneigt, mit sinnendem Ausdruck in ihrem schönen Gesichte. Würde es sich thun lassen heute abend? Aber, es war ja keine


Wilhelm Jordan.
Nach einer Photographie aus dem Atelier Bamberger, Inhaber: C. Böttcher, in Frankfurt a. M.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 69. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_069.jpg&oldid=- (Version vom 31.3.2020)