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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Käthe wickelte sich wirklich in ein Tuch und schlich aus dem Hause. Sie wußte, sie wurde nicht vermißt; man dachte sicher, daß sie ihre schriftlichen Aufgaben arbeite. Es war ein stockfinsterer, stürmischer Abend, die Laternen über der Straße schwankten im Winde. Das junge Mädchen ging sehr schnell, sie wußte selbst kaum, daß sie beinahe lief. Es brannte ihr im Kopf und Herzen, die ganze Welt schien sich mit ihr zu drehen, es war ihr so beklommen, so weh zu Muthe, und doch war sie zornig. Sie dachte, welch eine Wohlthat es sein müsse, könnte sie die Lore am Arme packen, sie schütteln und ihr ins Gesicht schreien. „Du Schlange, Du Verrätherin!“ – Sie ging erst langsamer, als sie sich der Gartenthür des Schönbergschen Grundstücks näherte, sie tastete in der Finsterniß – hier vor dem Thore brannte nirgends eine Laterne – nach der Klinke und ihre Augen suchten den schmalen Lichtstreif hinter den Läden der Frau Pastorin. Oben in seinem Zimmer war es dunkel. Auf einmal fühlte sie sich an der Hand ergriffen und im nächsten Augenblick hatte sie ein Arm umfaßt und ein Kuß drückte sich auf ihre Lippen.

„Lore! Lore! Gott sei Dank, daß Du kommst!“ flüsterte eine leidenschaftliche Stimme.

Sie war völlig schwindlig in diesem Augenblick, sie hatte nicht die Kraft, ein Wort hervorzubringen. Erst als er jetzt ihre Stirn küßte und ihre Hand, und sie wieder „Lore, meine Lore!“ nannte, machte sie sich los aus seinen Armen und stieß ihn zurück.

„Ich bin’s ja!“ rief sie klanglos, „die Käthe. Lore kann nicht kommen.“

Einen Moment blieb es still. „Käthe?“ klang es in ihr Ohr, enttäuscht und ärgerlich.

„Ich kann nichts dafür,“ murmelte sie und brach in Schluchzen aus.

„Nein! Nein! Entschuldigen Sie nur, Fräulein Käthe! – Lore beichtete Ihnen hoffentlich. Aber wollen Sie nicht eintreten?“ Das klang wieder, als stehe er auf dem Katheder, so kühl und besonnen.

In diesem Augenblick öffnete sich die Hausthür, Lichtschein fiel aus dem Dunkeln und einer Silhouette gleich trat die kleine Gestalt der Frau Pastorin in den Rahmen der Thür. „Ist mein Töchterchen da?“ fragte sie leise und freundlich.

„Nein, Mutter, es ist Fräulein Käthe.“

„Wollen Sie nicht hereinkommen?“ wiederholte die alte Frau die Bitte des Sohnes.

„Nein, ich kann nicht, ich will nicht –“ flüsterte das Mädchen, zurücktretend, „ich soll nur einfach bestellen, daß Lore nicht kommen konnte, sie muß Whist spielen mit Papa und Tante, sie würde aber, wenn möglich, am Bahnhofe sein, oder schreiben.“

„Es war wirklich so ganz unmöglich?“ fragte er bitter.

Sie zuckte die Schultern: „Lore sagt’s ja! – Lore ist feig,“ flüsterte sie leidenschaftlich, „wenn ich – ich es gewesen – gute Nacht!“

Sie war plötzlich in der Dunkelheit verschwunden. Als er ihr nacheilte bis zum Thor, vermochte er keine Spur mehr von ihr in der einsamen, schwach erhellten Straße zu erblicken.

„Mag der Irrwisch laufen, was sollte ihr auch in Westenberg passiren?“ murmelte er und ging verstimmt zurück. Ja, Lore hätte kommen müssen, meinte er, sie hätte Mittel und Wege finden müssen, wozu Rücksichten nehmen, wenn es sich um das Glück zweier Menschen handelt. War es nicht ein kleinlicher Zug? – Er stand mit blassem Gesicht vor der Mutter.

„Nun, nun,“ tröstete die alte Frau und setzte die Kuchentellerchen und Theetassen bedächtig wieder in den Glasschrank, die sie zur Bewirthung des Gastes hervorgenommen. „Das sind Liebesleiden, gieb Dich zufrieden, mein Jung, es kommt noch besser!“

Lore saß mit den Karten in der Hand am Whisttische und horchte auf jeden Schritt, der von der Straße herauf erscholl.

„Zum Tausendsapperment! So paß auf!“ schrie der Major, der ihr Aide war. „Ich hab’ Pique angezeigt. Das ist ja um zu verzweifeln, wie Du spielst!“

Sie sah ihn verständnißlos an.

„Da kommt Käthe die Treppe herauf,“ sagte Fräulein Melitta, und stach über; „danke, Lore, Ihr werdet Schlemm.“

„Mag der Deibel spielen!“ schrie der alte Herr zornig und warf die Karten auf den Tisch. „Ich nehme den Strohmann.“

Das Mädchen stand hastig auf und ging der Thür zu.

„Hierher!“ donnerte der Major ihr nach, „hingesetzt und aufgepaßt! Wie willst Du es sonst kapiren?“

Sie kam gehorsam zurück und saß vor den aufgedeckten Karten wie ein Wachsbild. Hie und da richtete der alte Herr eine Frage an sie. „He, Jüngferchen, wie würdest Du das jetzt machen? Wie wird gespielt?“

Sie sah ihn verängstigt und erschreckt an, ihre Gedanken kamen von Ernst zurück.

„Papa, ich habe heftiges Kopfweh,“ entschuldigte sie sich, als die Kuckucksuhr Zehn schlug und die Karten von neuem gemischt wurden.

„Meinetwegen leg’ Dich aufs Ohr,“ knurrte er und ordnete das Spiel in der Hand.

Sie sagte „Gute Nacht!“, eilte hinaus und in das Kämmerchen der Schwester. Die saß auf ihrem Bette, ihre Wangen brannten wie im Fieber und ihre Augen streiften Lore glühend.

„Käthe,“ fragte Lore athemlos und nahm die kalte Hand der Schwester, hast Du ihn gesehen? Was sagte er? War er böse?“ Käthe schüttelte den Kopf. „Ich habe halt bestellt, was Du sagtest, weiter sollte ich doch nichts? –“ entgegnete sie und wandte sich ab.

„Nein, weiter nichts! Ich danke Dir, Käthe,“ klang es enttäuscht. „Aber bist Du krank?“ fragte sie dann, als ein leises Schütteln durch die Glieder des jungen Mädchens ging.

„Nein! Laß mich allein!“

„Sei nicht so garstig, Käthe! Wenn man einen liebhat, da fragt man nicht nach seinem Stammbaum.“

Käthe lachte kurz auf, aber sie antwortete nicht. Lore machte einen Versuch, ihr das Haar zu streicheln, aber die Schwester stieß sie zurück. „Laß mich!“ wiederholte sie.

„Schlaf wohl, Käthe,“ sagte Lore und ging. Sie hatte kaum die Thür hinter sich geschlossen, da schob sich der Riegel vor, und nun war es ihr, als hörte sie leidenschaftliches Schluchzen. „Käthe!“ bat sie noch einmal; da ward es still.

Sie ging in ihr Stübchen und begann einen Brief zu schreiben an Ernst Schönberg.

„Ja, Ernst, es ist besser, Du bittest den Vater bald um seine Einwilligung. Mir ist so angst um unsere Liebe. So wie Du von M. zurück bist, komme zu Papa, ich will ihn vorbereiten. Reise glücklich und denke an
  Deine Braut.“

„Für alle Fälle,“ flüsterte sie. „Wenn ich nicht nach dem Bahnhof gehen könnte, muß Käthe ihn abgeben, die wird sich ausgeweint haben in dieser Nacht und sich darein finden müssen, das närrische stolze Ding.“

Sie saß noch lange wach und las in Scheffels „Trompeter“; die Lampe beleuchtete hell ihr schönes reines Angesicht, das so glücklich aussah in diesem Augenblick, wo sie sich in die reizenden Lieder hineinträumte. Dann fuhr sie empor. Draußen war die Thür gegangen.

„Rudi!“ sagte sie, und mit Bergeslasten fiel die bange Gegenwart auf ihre Seele.




Am andern Morgen wanderte Käthe dem Bahnhofe zu, sie trug bereits die kleine Ledertasche mit den Schulheften am Arme. Lore war in aller Frühe in das Zimmer der Schwester gekommen und hatte sie mit müder Stimme gebeten, ihr den einzigen Gefallen zu thun und Doktor Schönberg das Briefchen zu übergeben, sie könne leider wieder nicht ihr Versprechen halten, denn Papa sei wahrscheinlich infolge des längeren Aufbleibens und des Gläschens Grog gestern abend gar nicht wohl erwacht; sie müsse gleich hinauf zu ihm, um sein krankes Bein zu verbinden; Käthe wisse ja, er leide das von niemand anders.

Käthe hatte ihr das offene Couvert förmlich aus der Hand gerissen, im übrigen kein Wort dabei gesprochen. Aber Lore wußte, der Brief würde besorgt werden, zuverlässig war Käthe und „Treu und fest!“ ihr Motto. – Das junge Mädchen ging auf Umwegen nach dem Bahnhofe. Sie hatte einen starren Ausdruck, der ihr unregelmäßiges Gesicht fast unschön machte. In ihren dunkeln, heute von tiefen bläulichen Ringen umgebenen Augen lag etwas Grausames. Sie hielt das Briefchen Lores in der Hand und schien es kaum zu bemerken, daß sie es fast zerdrückte.

Auf einem schmalen Wege, der zwischen Gartenzäunen dahinführte, blieb sie stehen. Es war schon außerhalb des Ortes, die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_071.jpg&oldid=- (Version vom 4.10.2022)