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verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

trat, dasselbe öffnend, hinaus. Da blieb sie stehen und schaute auf eine bestimmte Stelle im nassen Grase.

Es war wohl schlecht von ihr, daß sie heute den Zank und die Oede des väterlichen Hauses nicht mit aller Schwere empfand? Sie konnte es nicht, sie meinte in ihrem vom Sonnenglanz der Liebe erfüllten Herzen, es müsse noch alles gut werden, alles! Wie ein Wanderer kam sie sich vor, der jetzt noch in Dunkelheit und Nacht auf schlechten Wegen dahinzieht, der aber sicher weiß, am Ende dieses Weges liegt ein schönes Ziel, und nach der Nacht kommt der Morgen in funkelndem Sonnenlicht. Sie schlang den Arm um den Stamm einer Birke, die, dicht am Wasser stehend, ihren Laubschmuck noch trug, aber brennend gelb verfärbt, als sei jedes einzelne Blatt vergoldet. Sonderbar leuchtete der Baum in den grauen Herbstnachmittag hinein, so golden wie die Hoffnung des jungen Geschöpfes unter ihm in die düstere Gegenwart. Sie war so vertieft, daß sie nicht merkte, wie langsam Blatt auf Blatt hernieder taumelte; sie merkte auch nicht, wie aus der Gitterthür das kleine Dienstmädchen schoß, mit verstörtem Gesicht und Augen ganz irr vor Entsetzen.

„Fräulein Lore! Fräulein Lore!“ keuchte sie und faßte die junge Herrin an der Schulter. „Grundgütiger! Kommen Sie doch – unsere gnädige Frau –“

Lore fragte nicht; sie starrte das Mädchen erschreckt an, dann lief sie in das Haus.

„Da unten!“ schrie das Mädchen ihr nach, „im Salon!“

Lore riß die Thür zu dem bezeichneten Raum auf; sie sah nichts in der ersten Sekunde, als den Bruder, der am Fenster stand, die Hände in den Hosentaschen, unbeweglich.

„Was ist geschehen?“ wollte sie fragen, aber der Mund schloß sich wieder – dort vor dem Sofa an der Erde, den Kopf auf dem Polster, die Hände in das graue Haar gekrallt, lag die Mutter.

„Mama,“ sagte Lore, „liebe Mama, sprich doch!“

Die alte Frau richtete sich empor. Lore erschrak, als sie in das veränderte Antlitz der Mutter schaute; – sie glich einer Irren.

„Das ist mir recht geschehen!“ schrie sie auf, „das habe ich verdient um meine Kinder! Auf das Herz treten sie mir, die ich sie auf Händen getragen! Warum denn nicht wenigstens gleich todt – todt!“

Und sie ließ sich in den Stuhl fallen und schlug die zitternden Hände vor das Gesicht.

Der Sohn wandte sich plötzlich auf dem Absatz und ging der Thür zu.

„Rudolf!“ schrie die Majorin so schrill und bang, daß er stehen blieb. Sie war aufgesprungen und hatte ihn am Arm gepackt, ihre Augen hingen mit Todesangst an seinem Gesicht, aus dem jede Spur von Farbe verschwunden war. „Rudolf, um Gotteswillen, was willst Du thun?“ flüsterte sie.

Der junge Offizier wandte sich ab, als könne er diesen Blick nicht ertragen, diese Worte nicht hören. „Aber Mama,“ murmelte er, „was denkst Du denn?“

„Mama,“ bat Lore, mit gefalteten Händen auf sie zutretend, „sage mir, sage mir doch wenigstens, was ist geschehen?“

Die Majorin hielt noch immer des Sohnes Hand. „Der Benberg!“ sprach sie flüsternd weiter, mit den nämlichen angststarren Augen, „der Benberg, Lore, der hatte für den Major von Machwitz Gelder ausbezahlt bekommen, während der auf Urlaub – ich glaube, Machwitz hatte Pferde verkauft und die Leute angewiesen, an Benberg zu zahlen, und – weil Rudi in Noth war, hat er es Rudolf auf vierzehn Tage angeboten, verstehst Du – hat es ihm angeboten – -“

„Benberg hat es Dir angeboten, Rudolf?“ fragte Lore.

„Ja doch – ich glaube – ich weiß selbst nicht, wie es kam – –“ murmelte der Bruder.

Lore hatte kein Wort mehr; sie stand wie ein Bild aus Stein, nur ihre Lippen zitterten leise.

„Der Benberg war es, Lore,“ wiederholte die alte Frau.

„Aber für ihn doch, für ihn!“ stammelte das Mädchen. „Was nun? Was soll geschehen?“

„Die Sache ist leider schrecklich einfach –. Wenn ich bis morgen abend das Geld nicht zur Post gebe, so“ – er zuckte die Schultern, fuhr sich dann mit den Händen hinter die Ohren und riß den Waffenrock auf, daß die Berlocken seiner Uhrkette klirrend auf die Erde flogen.

„Sei doch nur ruhig!“ wisperte die alte Dame, die offenbar kaum wußte, was sie that, „daß es Papa nicht hört; sei doch ruhig!“

„Rudolf,“ fragte Lore, „was kann Benberg geschehen?“

„Er wird kassirt! Aber es darf so weit nicht kommen –.“

„Das hast Du alles heute erst erfahren, Rudolf?“

„Erfahren? Was heißt erfahren? Daß das Geld Benberg nicht gehört, wußte ich; aber es war ja absolut kein Risiko –. Machwitz hatte vier Wochen Urlaub, und bei mir hieß es: entweder – oder. Verstehst Du? – Ich gab ihm einen Ehrenschein, daß in drei Wochen die Summe wieder in seinen Händen, – da plagt den Machwitz der Teufel, daß er vierzehn Tage früher wiederkommen will. Voilà tout! Das letztere habe ich allerdings erst heute früh erfahren, und zwar durch einen Brief und zwei Depeschen. Benberg scheint den Kopf verloren zu haben.“

„Wie viel ist es denn?“

„Viertausend Mark ungefähr.“

„Mein Gott, Rudolf, und keine Idee, wie Du helfen kannst?“

„Keine! Als ob ich sonst – – lächerlich!“

„Becker giebt Dir das Geld; Rudolf, geh’ zu Becker!“ sagte Lore. „Ihr seid ja gute Freunde jetzt –“

Der Lieutenant schüttelte den Kopf. „Mir giebt er keinen Heller, Lore, mir nicht.“

„Soll ich vermitteln, Rudolf? Ich will ihn bitten, ihn anflehen – der Eltern und Benbergs wegen, den Du unglücklich gemacht hast!“

„Danke schön – bemühe Dich nicht! Du wirst es begreiflich finden, daß der Mann, dem Du auf die unartigste Weise von der Welt einen Korb gabst, nicht thöricht genug sein wird, Deinem Bruder sechstausend Mark vorzustrecken. Diesen Edelmuth würde selbst der einfältigste, dümmste Geselle nicht ausüben.“

„Glaubst Du das sicher, Rudolf?“

„Ich habe den Beweis! Vor dem Ballabend war Becker bereit, mir eine Summe zu leihen; als ich aber am andern Morgen zu ihm kam, da war es ihm zufällig nicht gelungen, das Geld flüssig zu machen; er vertröstete mich auf einige Tage später. Mißzuverstehen war das nicht.“

Lore holte tief Athem. „Freilich,“ sagte sie langsam, „dann kann ich Dir nicht helfen!“

„Ich verlange auch kein Opfer von Dir,“ erwiderte er und verließ das Zimmer.

Die Majorin sah ihm stumm nach und wandte dann ihre Blicke auf Lore. Es war ein jammervoller Anblick, diese alte, bis ins Herz getroffene Frau. Lore lief hinüber zu ihr und schlang die Arme um sie.

„Mein Muttel! Mein armes, gutes Muttel!“ flüsterte sie, „ängstige Dich nicht so furchtbar, fasse doch Muth, irgend eine Hilfe muß sich ja finden lassen!“

„Ja, aber wo? – Es ist gut, Lore, laß mich nur, ich muß zum Vater. Sieht man es mir an, daß ich aufgeregt bin? Oder – geh’ Du doch lieber, sag’, ich hätte mein altes Migränekopfweh, ich läge – –. Ich will alles noch versuchen – weißt Du, ich gehe zu Tante Melitta, ich muß hinaus.“

„Ich gehe mit Dir, Mama.“

„Nein, bleib’ hier!“

Lore blieb. Sie saß beim Vater in der verräucherten Stube und spielte Schach mit ihm. Der alte Herr war bedeutend besserer Laune als heute mittag, er machte Witzchen und freute sich, als er seine Tochter endlich matt gesetzt hatte.

Lore konnte von ihrem Platze aus die Straße sehen und auch die gegenüber liegenden Häuser. Dicht neben dem Gasthofe, auf dessen allsonntägliche Tanzbelustigungen der alte Herr so wüthend war, lag ein sauberes einstöckiges Häuschen mit spiegelblanken Fensterscheiben, hinter denen schneeweiße Gardinen leuchteten. Dort wohnten Engels, ein altes Ehepaar, das in dem Rufe stand, sehr wohlhabend zu sein. Die alte Frau war das Muster einer braven bürgerlichen Hausehre; der Mann dasjenige eines harmlosen Philisters. Sie und Tollens pflegten sich mit freundlichem Kopfnicken zu begrüßen, wenn man, wie es Sitte war in Westenberg, abends nach Tische ein wenig auf der Bank vor der Hausthür saß.

Die Majorin hatte oft geäußert, wenn die beiden Alten da so einträchtig saßen, er im Schlafrock mit der langen Pfeife, das Käppchen auf dem silberweißen Haar, sie in schwarzer Wollschürze, ein Strickzeug in den nimmermüden Händen: „das sieht aus wie das Glück und die Behaglichkeit selber, Lore.“ – Freilich, Tollens hatten sich das Glück nur immer von weitem angesehen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1889, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_087.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)