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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Aber was fiel denn der Mutter ein, da drüben in das Haus zu gehen? Lore sah es ganz deutlich, sah, wie eben die braunlackirte Hausthür sich hinter der Gestalt der Majorin schloß. – Gott im Himmel, sie suchte bei Engels das Geld zu bekommen!

Lores Hand zitterte plötzlich, sie warf an paar Figuren um. „Verzeih’, Papa, es ist so schwül hier.“

„Das kommt von dem Schandwetter,“ brummte der alte Herr, „ich merk’s seit drei Tagen schon in meinem Bein. Meinetwegen mach’s Fenster auf!“

Lore öffnete das Fenster. Der Vater hatte recht, es war eine unnatürliche Wärme draußen und dabei ja ruhig – – die Stille vor dem Sturme. Ihre Augen hafteten an dem Hause drüben. War es denn nicht unrecht von der Mutter? Wie, wenn die guten Leute ihrer Bitte willfahrten, ihr sauer erworbenes Geld darliehen? Betrog sie dieselben nicht? Sie war eine Borgerin, die keinerlei Sicherheit bieten konnte; sie hatte das nicht überlegt, die Mutter, sie war in ihrer Todesangst dorthin gegangen.

Kling! Der Ton einer Hausglocke scholl, und über die Schwelle des Engelschen Hauses kam die Majorin. Lore meinte, ihr Gesicht sei noch nie so kalkweiß gewesen. Sie sah nicht nach rechts noch links, sie ging den Weg nach der Kirche hinunter.

„Da läuft ja die Mutter!“ rief der alte Herr, der aufgestanden war und über die Schulter der Tochter sah, „ich denke, sie hat Kopfweh? Das weiß der Himmel, man ist jetzt wie verrathen und verkauft in seinen eigenen vier Pfählen! Wenn ich nur wüßte, was Ihr vorhabt! Sag’ mal, Lore, Ihr macht doch hoffentlich keinerlei Hopphei zu meinem Geburtstag? Hör’, Lore, Du weißt, das kann ich nicht vertragen!“

„Nein, Papa, ich weiß nichts,“ betheuerte das Mädchen. „Mama geht ja doch öfters an die frische Luft, wenn sie Kopfweh hat.“

„Lüg’ Du und der Deibel!“ rief der Major zwischen Ernst und Scherz, „sie liegt für gewöhnlich dabei wie ein Hamster auf der Klappe. Es ist gut – mach’s Fenster zu und komm her, meinetwegen nehmt Affen aus!“

Die Dunkelheit brach rasch herein, Lore zündete die Lampe an. Der Major las, des Schachspiels müde, die Zeitung, und sie stieg erst nach der Küche hinunter, um das Abendbrot zu besorgen, und ging dann hinauf in ihr kleines Stübchen und begann an Ernst Schönberg zu schreiben, Käthe würde ihr ja seine Adresse bringen.

Sie mußte sich ihre Angst von der Seele schreiben. – Wenn er hier wäre, wenn sie sich aussprechen dürfte – – aber das konnte sie ja nicht, konnte doch die Schande ihres Hauses nicht erzählen! War Rudolf weniger schuldig als der, der, um ihn zu retten, ein Verbrechen beging? – Sie zerriß den Brief in lauter kleine Stückchen. „Mein Gott!“ – Sie war doch fürchterlich, diese Lage, in die der Leichtsinn eines Menschen sie alle gestürzt!

Wenn doch die Mutter daheim wäre!

Draußen hatte sich wirklich der Sturm aufgemacht, er legte sich fauchend gegen die Scheiben der Mansardenfenster und sauste durch die Aeste der Linden auf dem Schulhofe drüben. Und durch den Sturm verzitterten die Glockenklänge der Uhr von St. Marien.

Sieben Uhr! Kam denn keines? Rudolf nicht, die Mutter und Käthe nicht? – Sie wollte eben hinunter, um nachzusehen, ob die Lampe in der Eßstube brenne, da that sich die Thür auf und jemand trat über die Schwelle, den Lore allerdings nicht vermuthet hatte.

„Um Gott - Tante Melitta! Und wie siehst Du aus!“ rief sie.

Das alte Fräulein hatte das Tuch von dem grauen Haupt genommen und dabei ihre Haube mit herunter gerissen; die zierlichen Seitenlöckchen hingen ihr, vom Winde zerzaust, um das Gesicht, das einen so wunderbaren Ausdruck von Angst und Entschlossenheit trug.

„Sei doch still, Lorchen, daß Dein Vater nichts merkt,“ wisperte sie. „Laß mich sitzen, Kind, ich will mit Dir reden – Du weißt ja wohl, wie es steht und daß etwas geschehen muß, rasch geschehen muß?“

„War die Mutter bei Dir, Tante? Hast Du sie mitgebracht?“

„Sie sind alle unten.“

„Auch Käthe? – Warum kommt Käthe nicht? - Wollen wir nicht hinunter, Tante?“

„Bleib’ doch sitzen, Lore, ich muß mit Dir erst sprechen,“ flüsterte Tante Melitta. „Siehst Du, Deine Mutter ist bei Hinz und Kunz gewesen, um das Geld aufzutreiben – die reine Thorheit, Lore, Euch borgt kein Mensch einen Silbergroschen, geschweige solche Summe. Aber die arme Frau ist halb irr vor Angst. Rudolf lieh sich ein Pferd von Beckers und ritt nach Zeppke zum alten Schmettow, aber, mein Gott, der hat selbst drei Söhne in der Armee, man kann’s ihm ja nicht verdenken, wenn er ‚Nein!‘ sagt, und so auf den Stutz –; heutzutage hat einer die Tausende auch nicht so liegen. Da machte ich mich vorhin auf und ging zu Beckers.“

Fräulein Melitta brach ab und trocknete sich die Stirn mit dem Taschentuch.

„Tante!“ kam es angstvoll von den Lippen des Mädchens. „Sie wollen’s geben, Kind,“ fuhr das kleine Wesen auf dem Stuhle fort, „wenn Du nur erlauben willst, daß er sich Dir nähern darf – weiter nichts vorläufig, ich schwöre es Dir, Lore.“

„Tante!“ rief das Mädchen entsetzt, „bist Du wahnsinnig? Wie kannst Du mir so etwas sagen? Giebt es keine Spur mehr von Ehrgefühl in unserer Familie?“

„Lore, ich bitte Dich, Du weißt nicht, was Du redest. Es ist ja nicht um den Hans Liederjahn, den Rudi, der möchte meinetwegen sich die Kugel vor den Kopf schießen, von der er vorhin sprach – aber der andere und seine Mutter, und vor allem Deine eigene arme Mutter, die dabei zu Grunde gehen wird.“

„Tante, mit meinem Leben, wenn’s sein muß – nur das nicht!“

„Ach, Lore, das sind schöne Redensarten, es klingt wie aus einem Roman, das können wir nicht brauchen. Du sollst Dich ja nicht verloben heute und morgen, Du sollst ihm nur die Hoffnung lassen.“

„Aber das kann ich nicht! Erbarmt Euch doch! Ich wäre schlechter denn schlecht, thät’ ich’s. Ich bin nicht im Stande, ihm die geringste Hoffnung zu geben, Tante.“

„Das wird sich ja alles finden, vorläufig mußt Du Dich zwingen, mußt – sage ich. Man ist verpflichtet, seiner Familienehre zu Liebe noch andere Opfer zu bringen – hörst Du, Lore? Ueberlege Dir das; überlege, was Deine Eltern, was Deine Mutter für Dich gethan! Eltern und Kinder sind darauf angewiesen, sich gegenseitig zu helfen. – Lore, ich bitte Dich, mache nicht so erschrecklich starre Augen!“

Das Mädchen war unter dem Strome dieser flehenden Worte förmlich zusammengeknickt. „Nein!“ stammelte sie, „lieber will ich sterben.“

„Nun, dann sieh Deinen Bruder als Sträfling oder – wenn’s Glück gut ist, wenn er nach Amerika entkommt, so sieh ihn nie wieder, laß Deine Mutter und Deinen Vater zu Grunde gehen, und sei glücklich dabei, wenn Du es kannst!“

Das alte Fräulein eilte in vollster Verzweiflung der Thür zu.

„Schicke mir Käthe herauf!“ bat Lore.

„Käthe? Was soll Käthe? Die ist unzurechnungsfähig, sie versteht nicht mal, um was es sich handelt, das launische Ding. Kommt sie da heute zu mir, spricht kein Wort und setzt sich wie ein Stock an das Fenster, wo Du immer sitzest. Ich frage sie, kriege aber keine Antwort, sie guckt immer nur das Schönbergsche Haus an, als habe sie es noch nie gesehen; ich bringe ihr ihr Lieblingsbuch, den Gothaischen Kalender, da sagt sie, es interessire sie durchaus nicht, zu wissen, ob Herr von so und so Fräulein von so und so geheirathet, und wieviel Kinder er habe, es sei langweilig. – Gott im Himmel, was soll aus Euch verzogenen Gören werden!“

„Schicke mir Käthe!“ wiederholte Lore.

„Sei doch nur verständig, Kind!“

„Quäle mich nicht todt!“ rief das Mädchen wild und fuhr sich mit der Hand in das weiche Blondhaar, „ich kann nicht, bei Gott, ich kann nicht, Tante Melitta!“

„Du willst nicht!“

„Ja, ich will nicht.“

„Nun, so komme, was da kommen muß!“

Das alte Fräulein ging und Lore blieb allein. Es war eiskalt in dem Zimmer, denn der kleine Windofen ward nur höchst selten geheizt, aber ihre Wangen glühten trotzdem. Sie horchte nach der Thür hin, Käthe mußte ja kommen – ja, jetzt! Langsam, Stufe für Stufe – was hatte sie denn nur? Endlich trat das junge Mädchen ein.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 88. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_088.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)