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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

gegangen, um die Eltern und Geschwister hereinzurufen. Der Major hatte Wein bringen lassen, und als man auf das Brautpaar angestoßen, hatte sich der Bräutigam entfernt, um, wie er sagte, seiner Mutter die frohe Nachricht zu überbringen. Lore hörte freilich, wie er Rudolf zuflüsterte: „Ich habe einen furchtbaren Kater, Tollen.“

Am Abend hatte Familienfeier bei Beckers stattgefunden. Sie erinnerte sich dessen nicht mehr genau, nur daß sie viele Geschenke erhalten, daß sie ellenlange Auseinandersetzungen von Mutter, Schwiegermutter und Tante Melitta über Ausstattung und Brautkleid mit angehört. Sie wußte, daß sie täglich spazieren gefahren war mit Frau Elfriede und dem Bräutigam, und dies alles tauchte vor ihr auf wie die Bilder eines Kaleidoskopes, während sie hier saß an ihrer hochzeitlichen Tafel.

Nur eines trat entsetzlich deutlich aus dem Chaos hervor – ihr Wiedersehen mit Ernst. – Sie ging am Arme Beckers, um Brautvisiten zu machen; sie war ja stets ein Automat neben ihm. Und so hatte er sie die Straße daher geführt, in welcher das Gymnasium lag, um dem Direktor und dessen Frau einen Besuch abzustatten. Sie kam erst zur Besinnung darüber, als sie auf dem Schulhofe stand unter den alten kahlen Linden. Die Nachmittagsschule war eben aus und die Dämmerung des Novembertages füllte die Gänge des Klosters, als sie die Treppe hinaufschritten. Und da, mitten auf der engen Stiege, hatte sie ihm plötzlich gegenüber gestanden. – Ihr war es gewesen, wie wenn der Boden unter ihr wanke, als er mit abgenommenem Hut an ihr vorüberschritt, ohne daß sein Auge sie nur streifte. Sie hatte sich mit beiden Händen an dem Geländer festhalten müssen, und droben bei der jungen Frau Direktor hatte sie gesessen, körperlich und geistig elend, ohne ein Wort sprechen zu können.

Sie wußte es nun, der Mann, den sie verrathen hatte, verrathen mußte – verachtete sie.

Ihre Blicke suchten jetzt den Vater, als wollte sie aus seinem Anblick wieder Kraft schöpfen. Er saß da drüben neben der schwatzenden und lachenden Frau Elfriede Becker. Sein Gesicht hatte einen leidenden Zug, als ob er sich nur mit Mühe aufrecht halte, er sprach auch nicht, er drehte Brotkügelchen zwischen den nervös zuckenden Fingern und dann und wann führte er hastig das Glas zum Munde.

Ob er nur krank war, kränker als gewöhnlich?

Die junge Frau packte auf einmal ein Gedanke, der ihr das Herz schmerzhaft zusammenpreßte. Wie, wenn sie den alten Mann zum letzten Male heute sähe? Wenn er stürbe, derweil sie fern von ihm in Italien weilte? Sie suchte angstvoll die Augen der Mutter, aber die alte Dame sah nicht herüber zu ihr. – Eben hatte der Prediger ein Hoch auf das junge Paar ausgebracht, brausend fiel die Musik in die Jubelrufe der Menschenstimmen und die Gäste drängten sich mit den Champagnerkelchen um Herrn und Frau Becker. Der Name, ihr neuer Name, den irgend jemand im Scherz aussprach, klang mahnend in ihre Seele. – Gott im Himmel, sie hatte sich mehr Kraft zugetraut!

„Hast Du gehört, Lore, was der Herr Pastor sagte?“ fragte ihr Mann. „Glaubst Du nicht auch, daß er die Treue meint, welche die Frau dem Ehemann schuldet?“ Und er stieß lachend mit seinem Glase an das ihre.

Sie sah ihn nicht an, sie kam sich vor wie eine Verworfene in diesem Augenblick, kein einziger ihrer Gedanken gehörte ja ihm!

Sie ward dann endlich beim Aufheben der Tafel von der Mutter in ihr Zimmer geführt, um die Brautschleppe mit dem Reisekleide zu vertauschen. Es waren schöne, prächtig ausgestattete Räume, die sie bewohnen sollte, sie lagen nach dem Parke zu, und eben ging die Sonne purpurroth unter hinter den Bäumen und ihr Schein erfüllte das trauliche Boudoir der jungen Frau mit warmem Lichte und umwob rosig ihre weiße bräutliche Gestalt. Dieselbe Sonne war es, die sich auch da drüben in das kleine Studierstübchen durch die Vorhänge stahl und den Mann streifte, der ruhelos dort auf und ab wanderte.

Die Majorin sprach kein Wort, während sie geschäftig Kranz und Schleier aus dem Haar der Tochter nahm und ihr half, das dunkelgrüne mit Biber besetzte Tuchkostüm anzulegen, in dem sie reisen sollte. Die alte Frau dachte an ihre eigene Hochzeit, und wie anders sie doch als Braut gewesen sei, so ganz anders wie dieses blasse apathische Wesen vor ihr.

„So, mein Herzenskind, da sind die Handschuhe und der Muff, und nun komm, Lore, küsse mich!“

Das schöne unbewegte Gesicht bog sich zur Mutter herunter.

„Schreibe bald, und schreib mir, daß Du glücklich bist,“ schluchzte jetzt Frau von Tollen und schlang die Arme um die Tochter. „Ich will Dein gedenken, ich will beten für Dein Glück.“

– Lore schüttelte leise den Kopf, es sah aus, als wollte sie

sagen: „Bemühe Dich nicht, es ist umsonst!“

Die Stimme ihres Mannes scholl jetzt vom Korridor herein. Sie zuckte zusammen und preßte die Hände an die Schläfen, es lag eine furchtbare Verzweiflung in dieser einzigen Bewegung.

Die Mutter sah es nicht, sie weinte in ihr Taschentuch.

Jetzt trat er ein, schon in seinem kostbaren Pelz, und seine Augen ruhten mit lächelnder Siegesfreude auf den blassen abgespannten Zügen seiner jungen Frau. Die Majorin verließ still das Gemach, und im Nebenzimmer sank sie auf einen Fauteuil und barg den Kopf in die Polster.

Drunten rollte nach ein paar Minuten ein Wagen von der Rampe. – „Meine Lore,“ schluchzte sie, „meine goldene, gute Lore!“

Die Musik und der Lärm des Festes schollen kaum noch hierher, niemand störte die alte Frau in den Thränen, die ihr die Angst erpreßte um das Wohl und Wehe ihres Kindes. „Herr Gott, gieb das Beste!“ betete sie, „sie nahm ihn, weil sie nicht anders konnte, und ich – ich habe das Opfer angenommen!“

So saß sie lange. Sie schaute erst auf, als ihre älteste Tochter vor ihr stand und mit eigenthümlich bewegter Stimme sagte. „Mama, komm doch einmal herunter – Papa ist gar nicht wohl.“

Sie stand urplötzlich auf den Füßen. „Was denn?“ fragte sie erschrocken, „was ist?“

„Ich glaube, es ist nur eine Ohnmacht, Mama,“ und das starke Mädchen faßte die zitternde Frau um die Schultern und führte sie in die untere Etage, wo der Major besinnungslos auf dem Himmelbette der Frau Elfriede lag.

Die Söhne, der Schwiegersohn und Tante Melitta standen an dem Lager und ein zufällig anwesender Arzt beschäftigte sich um den alten Herrn.

Es war todtenstill im Hause geworden, die Musik verstummt, und die fröhlichen Gäste standen flüsternd im Gesellschaftszimmer beisammen und besprachen den traurigen Vorfall.

Als der Wagen fortfuhr mit den jungen Eheleuten, war der alte Herr ans Fenster gehinkt, gestützt von seiner ältesten Tochter und ihrem Bräutigam. Sie hatten beide gehört, wie er „Lore!“ gemurmelt, und plötzlich hatte er sich die Uniform, die er dem festlichen Tage zu Ehren trug, aufgerissen und war gegen die Wand getaumelt. Der Schwiegersohn war noch eben im stande gewesen, ihn aufzufangen.

„Ein Schlagfluß!“ sagte der Arzt endlich.

„Ist es gefährlich? Muß er sterben?“ fragte die Majorin, die aussah, als träume sie das Schreckliche nur.

„Gnädige Frau, Herr von Tollen ist ein alter schwacher Herr, aber es ist ja möglich, daß er es übersteht –“

Der Lieutenant folgte dem Arzt, der hinausgegangen war, um einige Anordnungen zu treffen. „Herr Doktor, wie lange kann mein Vater noch leben?“

„Vielleicht noch eine Stunde – vielleicht bis morgen mittag, Herr Lieutenant.“

„Ist es möglich, daß er noch einmal zur Besinnung kommt?“

„Möglich, ja!“

Der junge Offizier dankte und ließ sich im Vestibül Paletot und Mütze geben. Er wußte, Lore würde es ihm nie verzeihen, wenn er sie nicht benachrichtigte.

Drei Stunden später fuhr langsam ein Wagen an der Wohnung des Majors vor, und der Todte wurde hinaufgetragen in sein Zimmer. – Er war noch einmal zur Besinnung gekommen und hatte nach Lore gefragt.

Zu dem Zug um sechs Uhr war ein Wagen an den Bahnhof geschickt, man glaubte, das junge Paar müsse zurückkehren, denn der Lieutenant hatte die Depesche nach der nächsten Station gesandt, an welcher der Zug einige Minuten halten mußte. Wenn sie, was ja ohne Zweifel geschehen, richtig in die Hände Beckers gekommen war, so konnten sie mit dem Zug, der den ihrigen dort kreuzte, sofort zurückkehren.

Der Wagen kam leer wieder.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_104.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)