Seite:Die Gartenlaube (1889) 112.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Ein geheilter Othello.

Von F. Schifkorn.

Der erste Schneesturm rüttelt an den Fenstern, dichte Flocken und welke Blätter vor sich hertreibend. Fröstelnd eilen die Menschen an den Häusern entlang; selbst die Pferde an den Wagen greifen so rasch aus, als es ihre müden Beine erlauben, und nur die Dohlen, die schwarzen Herolde König Winters, verkünden freudig krächzend die erneute Herrschaft ihres Herrn und Gebieters.

Mir aber zaubert Erinnerung lachende Sommerlust in die Stube, warmen Sonnenschein, azurblauen Himmel über einem stillen, tiefen Wasserspiegel, umrahmt von rebenbekränzten Hügeln mit einem Neste kleiner Häuschen, auf welche altersgraue Kastellmauern verdrießlich herabschauen, als grollten sie ob des stillen Friedens ringsum, der ihnen keine andere Rolle mehr zuweist, als mit ihren erhitzten Quadern die Netze der anwohnenden Fischer zu trocknen. Am Strande vor dem Häuschen badet eine Schar fröhlicher Kinder; auf dem weiten grasbedeckten Platze unterhalten sich einige Männer mit dem beliebten Kugelspiele; im Vordergrunde aber liegt eine dunkle Apollogestalt in Fischertracht platt auf der Erde, den fezbedeckten Lockenkopf auf beide Ellbogen gestützt; auf dem Rücken des Mannes schaukelt sich jauchzend ein unbeflügelter Amor im bloßen Hemdchen, während ein schönes junges Weib lächelnd auf die Gruppe herabsieht.

Wohl sah ich manch schönere oder großartigere landschaftliche Scenerie, doch keine, welche sich meinem Gedächtnisse so treu und lebhaft eingeprägt hätte wie diese, allerdings nicht nur ihrer Naturreize, sondern einer Geschichte wegen, welche sich in der Erinnerung mit dem idyllischen Strandbilde untrennbar verflocht.

Andrea Chiotti – so hieß der Mann mit dem Amor auf dem Rücken – war seines Zeichens Fischer und dabei Besitzer eines kleinen Anwesens in der Umgegend von Muggia, dessen Ertrag ihn sammt seiner kleinen Familie vor den zeitweiligen Nahrungssorgen minder glücklicher Berufsgenossen schützte, außerdem aber ein Mann, der an körperlichen Vorzügen seinem jungen schönen Weibe durchaus gleichkam und sich überdies jener herkulischen Muskelkraft und unverwüstlichen Gesundheit erfreute, wie sie eben nur das rauhe Seemannsleben verleiht. Trotzdem schien der kaum dreißigjährige, vielbeneidete Familienvater von seinem Glücke wenig befriedigt, zeigte vielmehr statt der üblichen scherzhaften Laune seiner Gefährten ein ernstes, in sich gekehrtes Wesen, das – wie ich später zu bemerken Gelegenheit hatte – nicht selten in finstere Schwermuth überging.

Abgesehen von dieser Seltsamkeit war Chiotti jedoch ein eben so gutmüthiger Geselle wie gewandter Schiffer, weshalb ich denn auch seine Barke wählte, so oft es mich gelüstete, Seeluft in unverfälschter Reinheit zu athmen. Ein melancholisches Liedchen summend, ließ dann der junge Fischer das sauber gehaltene kleine Fahrzeug weit hinaus treiben auf die Höhe des blauen Golfes, um dort seine Netze auszuwerfen, während ich mich, im Schatten des breiten Segels gelagert, in ein Buch vertiefte oder jenen süßen Träumen nachhing, welche die Menschenseele, angesichts des grenzenlosen Horizontes, zwischen Himmel und Erde schwebend, mit leisen Fittigen in die Welt der Phantasie – das Reich der Seligen – entrücken.

Chiotti störte mich nie, sondern verfiel seinerseits, wenn er seine Vorbereitungen zum Fischfang getroffen hatte, in ein trübes Hinbrüten, aus welchem ihn erst die Neigung der Sonne oder eine lebhafte Bewegung in den Netzen erweckte. Meine Versuche, den Grund dieser räthselhaften Gemüthsstimmung zu erforschen, blieben erfolglos. Ich brachte ihn zwar bisweilen zum Plaudern, doch nicht über sich oder ihn betreffende Verhältnisse. So ließ ich ihn schließlich gewähren und fühlte mich in seiner stummen Gesellschaft um so behaglicher, als das Wenige, was er sprach, nicht nur gesunden Menschenverstand, sondern auch einen äußerst regen Rechtssinn und, was bei seinen Landsleuten noch seltener zu finden ist, eine ungewöhnliche Achtung für fremde, namentlich deutsche Art und Sitte verriet.

So war denn unser Verkehr ein, wenn nicht freundschaftlicher, so doch gegenseitig wohlwollender geworden, als ich eines Tages an dem jungen Manne eine Unruhe bemerkte, welche mit dem Niedergange der Sonne zu wachsen schien. Immer häufiger schaute er nach Osten aus, wo die grotesken Linien der Karstberge sich vom tiefblauen Himmel abhoben, bis er endlich nach solchem Blicke in die Ferne plötzlich die eben erst ausgeworfenen leeren Netze einzuziehen begann, als ob es gelte, den reichsten Fang zu bergen.

„Was in aller Welt treibt Ihr da, Chiotti?“ fragte ich erstaunt.

„Schlimmes Wetter, Herr,“ erwiderte dieser in seiner kurzen Weise, ohne sich in seiner Arbeit stören zu lassen; „die Bora ist im Anzuge, und die läßt nicht mit sich spaßen.“

Nun blickte auch ich besorgt nach den Bergen, von welchen sich bisweilen der bekannte Nordostwind orkanartig auf die weite Niederung der Adria und ihres Ufergebietes herabstürzt. Ich wußte, daß schon manches Fischerboot solchen unvorhergesehenen Stürmen zum Opfer geworden; doch deutete der blaue Himmel so wenig auf eine nahe Gefahr, daß ich im Stillen die Vorsicht Chiottis belächelte, der schon das Segel stellte, um die frische Abendbrise zur Heimfahrt zu benutzen. Alsbald schwellte sich das Stückchen Leinewand, worauf unser kleines Fahrzeug mit der anmuthigen Bewegung eines Schwanes über die leicht gekräuselten Wellen glitt, während mein schmucker Fährmann sich zum Steuer setzte, um wieder in jenes finstere Hinbrüten zu verfallen, dem er sich so gern überließ.

„Ihr habt wohl schon schlimme Erfahrungen mit Frau Bora gemacht?“ fragte ich, um ihn seinem Trübsinne zu entreißen.

„Schlimme Erfahrungen?“ wiederholte er wie aus einem schweren Traume auffahrend, „Per Dio, wäre es nur das! Schlimme Erfahrungen bleiben keinem erspart, der mit ihr zu thun hat, aber mich, Herr, hat die verwünschte Hexe zum –“

Er hielt inne, als scheute er sich, das Wort in meiner Gegenwart auszusprechen.

„Fahrt immerhin fort!“ ermuthigte ich; „bin ich auch kein Gewissensrath, meiner Theilnahme dürft Ihr versichert sein.“

„Ja, Herr, ja, ich weiß das und danke Euch,“ versetzte Chiotti sinnend, um nach kurzer Pause hinzuzufügen: „Vielleicht ist auch das eine Fügung; stammt Ihr doch aus demselben Lande wie der Fremde, an dem ich zum – Mörder geworden.“

„Ein Mord, Chiotti?“

Die Entdeckung, mich mit einem Verbrecher allein in einem Nachen auf offener See zu befinden, war eine so überraschende, daß ich bei dieser Frage unwillkürlich nach der Brusttasche griff, wo ich bei weiteren Ausflügen meinen Revolver verwahrte; doch die Tasche war heute leer; in Chiottis Gesellschaft hatte ich eine derartige Vorsicht für überflüssig gehalten. Letzterer schien übrigens nichts von meiner Bewegung bemerkt zu haben; er starrte vor sich hin und erwiderte nur mit einem unheimlichen Lächeln nickend:

„So ist’s, Herr, so gut wie ein Mord, wenn auch – nun, Herr, ich will lieber von Anfang beginnen, Ihr mögt dann urtheilen, da es für mich keinen Richter giebt.“

Diese in geheimnißvollem Tone geflüsterten Worte im Zusammenhalt mit der krankhaften Melancholie des jugendlich kräftigen Mannes gaben meinen Gedanken eine neue Richtung; ich glaubte nun, daß ich einen Irrsinnigen vor mir habe, was allerdings kaum angenehmer war als die Gesellschaft eines Mörders. Ich hütete mich daher, auch nur mit einem Worte die Rede meines unheimlichen Gefährten zu unterbrechen, welcher, den Blick unverwandt auf die blaue Fluth zu unseren Füßen gerichtet, also begann: „Noch vor vier Jahren, Herr, war ich der froheste, ja vielleicht auch übermüthigste Barkenführer von Triest. Ich war gesund und stark, und niemals fehlte es mir an Kundschaft; außerdem aber war mir das schönste Mädchen von Muggia gut, und Ihr wißt, Herr, was dies sagen will. Mit der Aussicht auf Hochzeit stand es freilich nicht am besten; Angiolinas Vater wollte seine Einwilligung nicht eher geben, als bis ich Herr meiner eigenen Barke wäre. Indessen wir waren beide jung, legten unsere Ersparnisse zusammen, und so war ich denn so glücklich, wie ein Mensch sein kann, der sein Herz an ein allzu hübsches Mädchen verloren hat. Ihr meint wohl, Herr, ich schwatze Unsinn, und doch war es nur diese Schönheit, welche mir damals Tag und Nacht keine Ruhe ließ; denn kurz gesagt, der Teufel

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 112. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_112.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)