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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

artig gegrüßt und war dann in sein Zimmer gegangen. Was hatte er noch zu schaffen mit den Tollens?

Sie war dann öfter zu der Mutter gekommen, deren Groll allmählich schmolz vor der Zuthulichkeit des Mädchens.

„Es ist doch was dran an der,“ uteinte sie, „die trägt die ganze Reue mit für ihre Schwester und möcht’s gutmachen; ’s ist all eins, das kann keiner, da muß erst viel Wasser vom Berge hinunter fließen, mein armer Junge; – aber sie hat doch den Willen.“

„Laß sie doch, sie meint es gut,“ hatte er ebenfalls gesprochen, und die alte Frau war es zufrieden und ging wieder hinunter in ihr Wohnstübchen.

Käthe saß heute an dem wachstuchüberzogenen Sofatisch, auf den ein großer Haufe Linsen geschüttet war, und las eifrig die schlechten heraus mit den schlanken weißen Fingern. Nun wandte sie den Kopf und ein Zug von Enttäuschung glitt über ihr Gesicht, als die alte Frau Pastorin allein eintrat und, sich aufs Sofa setzend, dieselbe Beschäftigung aufnahm. An der Stubenwand schwang sich der Pendel der schwarzwälder Uhr, in dem wunderlichen pyramidenförmigen Kachelofen glühte der Torf und leise zischten die Borsdorfer Aepfel in der Röhre, durch die Doppelfenster klang gedämpft das Abendläuten von St. Marien; dieselbe Glocke schwang da noch ihren Klöppel über der alten Stadt, die vor fünfhundert Jahren schon die Bürger gemahnt. „Feierabend! Feierabend! Laßt die Arbeit ruhen!“

„Es ist so hübsch hier,“ sagte Käthe plötzlich, „und bei uns ist es so leer, so öde, ich habe es nicht ausgehalten, ich bin zu Ihnen gelaufen – sind Sie böse?“ Sie war aufgesprungen und vor der alten Frau niedergekniet.

„Stehn Sie man auf, so wat mag ik nich liden,“ antwortete die Frau Pastorin, der „neumodische Exaltation“ gar nicht paßte. „Vor mir braucht kein Mensch zu knieen. – Wieso ist’s denn ‚öde‘ bei Ihnen? Sie haben Ihr oll Mutter ja doch, und die wird Sie jetzt so nöthig brauchen wie nie.“

„Mama ist bei Lore,“ antwortete Käthe leise, indem sie sich erhob und nach dem Fenster zu wies, „und Rudolf ist abgereist, ich habe mich gefürchtet mit dem dummen Dienstmädchen so allein –“

In diesem Augenblick öffnete sich die Thür und der Doktor trat ein. Käthe ward purpurroth, und dieses Erglühen machte ihr unregelmäßiges Gesichtchen mit den großen mandelförmigen Augen unbeschreiblich anziehend. Er blickte sie auch groß an, wie erstaunt. Sie erschien so mädchenhaft reizend in dem langen schwarzen Trauerkleide und der Schürze, die ihr seine Mutter geliehen, weil sie durchaus helfen wollte.

Er grüßte sie stumm, setzte sich an die freie Seite des Tisches und begann, wie in Gedanken, mit den Körnern zu spielen.

„Aschenbrödel?“ fragte er dann, mit einem Versuch zu scherzen, als Käthe ihre Arbeit wieder aufnahm.

„Ich mag das gern thun,“ erwiderte sie.

Er lächelte ein wenig. „Seit wann denn?“

Draußen klingelte es jetzt und über den Flur kam ein schlürfender Tritt. „Das ist die Krügern,“ erklärte die Mutter, und gleich darauf klopfte es und die Freundin der Frau Pastorin trat ein.

„Nun, laßt mich man erst verpusten!“ rief die kleine dicke Dame, die in Tuchmantel und Pelzkappe vermummt war. „Guten Abend, Pasterchen! Wie geht’s denn? Ist das ein Weg! So ein Glatteis habe ich doch noch nicht erlebt! Geh’ nur nicht hinaus, Du brichst Dir Arm und Beine. – Grundgütiger, das ist ja die kleine Tollen! Wie geht’s denn der jungen Frau Becker? Ist’s wahr, daß sie so krank geworden ist?“

Käthe nickte stumm und sah erschreckt zu dem Doktor hinüber; es war das erste Mal, daß Lores Name hier in ihrer Gegenwart genannt wurde. Aber der machte sich am Ofen zu schaffen, er hatte es wohl nicht gehört.

„Und der junge Ehemann hat so rasch abreisen müssen?“ fuhr Frau Krüger fort. „Nein, Kind – aber so eine Hochzeit! Das ist ja ein schreckliches Schicksal! Nun, reden Sie doch, was fehlt ihr denn eigentlich?“

„Sie hat sich erkältet,“ erwiderte Käthe kurz und band die Schürze ab. „Ich will jetzt gehen,“ fügte sie hinzu

Der Doktor hatte seinen Hut vom Stuhle genommen; er pflegte immer auszureißen, wenn seine Mutter derartigen Besuch bekam. „Wir gehen ein Stück des Weges miteinander,“ sagte er zu dem jungen Mädchen, das sich rasch verabschiedete.

Sie traten zusammen ins Freie, ein scharfer Nordost wehte und feiner Sprühregen, vermengt mit einzelnen Eiskrystallen, traf empfindlich die Haut. Der Schein, welchen die Lampe aus des Doktors Giebelfenster warf, spiegelte sich auf dem übereisten Pfade, den man durch den zusammengeschmolzenen Schnee geschaufelt hatte.

Er that ein paar Schritte voraus; dann sagte er, sich umwendend: „Sie können nicht allein gehen, es ist in der That sehr glatt. Geben Sie mir Ihren Arm, ich begleite Sie heim.“

„Ich will nicht nach Hause,“ erwiderte sie zögernd, indem sie trippelnd zu ihm herüber kam. „Mama würde es übelnehmen, wollte ich mich nicht nach Lore erkundigen, und – ich fürchte mich auch daheim. Danke, der Weg ist ja kurz, ich gehe allein.“

Sie war jetzt neben ihm, aber die Stiefelchen mit den hohen Hacken erlaubten kein sicheres Auftreten, sie mußte sich doch an seinem Arm halten.

„Ich werde Sie hinüber begleiten,“ sagte er, „bis zum Parkthor wenigstens.“

Sie ging jetzt ganz sicher an seinem Arm, obgleich ihr fast schwindelte. Es war keine lange Strecke; sie sah das Ziel, das geöffnete Parkthor, schon nahe vor Augen. „Gute Nacht!“ sagte sie zögernd, „ich will nicht, daß Sie mit hereinkommen – es thut mir so leid, daß es so ist, aber Lore – –“

Er blieb stehen. „Sprechen Sie nicht darüber,“ sagte er rauh, „es ist abgethan –. Aber ich sehe, Sie können nicht gut allein gehen,“ fügte er hinzu, als sie erschreckt schwieg, „ich werde Sie bis zur Hausthür begleiten.“

Es war das erste Mal, daß er auf Beckerschem Grund und Boden dahinschritt. Der Fahrweg zog sich in weitem Bogen um den verschneiten Rasenplatz; vornehm schaute es aus matt erhellten Fenstern in den schweigenden Winterabend hinaus.

„Ich wollte Ihnen ja nicht wehthun,“ sagte Käthe jetzt weinerlich.

„Ich bin überzeugt davon,“ entgegnete er. Und als er sah, wie sie das Taschentuch an die Augen führte, that sie ihm leid. „Weinen Sie nicht, Käthe!“ bat er und drückte ihr die schmale Hand. „Ich weiß, Sie nehmen theil an meinem Geschick. Sie und meine Mutter sind ja die einzigen, die es in seiner ganzen Schwere kennen, Sie sind ein guter kleiner Kamerad, ich bin Ihnen dankbar dafür.“

Sie standen da in dem eisig kalten Winde, neben ihnen stieg pyramidengleich ein Taxus empor, auf welchem der Schnee nur noch in einzelnen weißen Flocken lag, droben am Himmel jagten die Wolken, und ab und zu erschien der Mond, um gleich wieder zu verschwinden. Käthe hatte ihre Hand aus dem Arm des jungen Mannes gezogen und preßte das Tuch vor die Augen, während sie schluchzte, daß ihre ganze schlanke Gestalt erbebte.

„Und es ist alles so schrecklich und so schwer,“ stieß sie hervor. „Papa ist todt, und Mama hat soviel Sorgen. Und ausziehen müssen wir, und wenn ich mein Examen gemacht habe, dann gehe ich unter fremde Menschen und –“

Sie sprach nicht weiter, sie hörte auf zu weinen und nahm das Tuch vom Gesichte, indem sie an ihm vorüber sah mit den schimmernden großen Augen, so ergeben und müde, daß es zum Erbarmen war.

Er wußte nicht, was er antworten sollte. Erst, als sie aufs neue zu schluchzen begann, flüsterte er, während er die Schritte weiter lenkte. „Aber Sie haben ja reiche Verwandte, Fräulein Käthe, Sie haben Brüder, die –“

„Brüder?“ unterbrach sie ihn bitter.

„Und Ihre Schwester – Sie hatten sich doch so innig lieb.“

„Nicht einen Pfennig nehme ich von ihr!“ rief das junge Mädchen und warf stolz den Kopf in den Nacken, „nicht einen Pfennig! Ich kann ihn nicht leiden – ich –“ sie ballte die Hände zusammen.

„O – weshalb?“

„Ich weiß es nicht,“ sagte sie und mit einer unbeschreiblich vornehmen Handbewegung setzte sie hinzu. „Gefühlssache! – Gute Nacht, Herr Doktor!“

„Gute Nacht!“ erwiderte er. Er stand noch ein Weilchen und sah ihr nach, wie sie die glasüberdeckte Auffahrt hinaufschritt und auf den Knopf der elektrischen Klingel drückte. Sie hatte etwas Bestimmtes, Stolzes in ihren Bewegungen, das flackernde Licht des Kandelabers streifte ihre schlanke Gestalt in dem kurzen ausgewachsenen Jäckchen und dem langen neuen Trauerkleide. Sie mußte größer sein als Lore, es fiel ihm erst heute auf.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_150.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)