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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

ihrem Elternhause gewesen! An letzter Weihnacht hatte ihr der Vater Immermanns „Oberhof“ geschenkt und ein Paar Handschuhe für das nächste Tanzfest, und die Mutter hatte für Käthe und sie aus einer langen Goldkette der seligen Großmutter kleine Halskettchen machen lassen; daran trug Lore das dünne Goldmedaillon, das Geschenk einer Pathin zur Konfirmation, und innen lag ein Vergißmeinnicht, das er ihr einst gepflückt hatte auf einer Landpartie. – Die Armuth ihres Vaterhauses erschien ihr als ein unrettbar verlorener goldener Hort. Ach, nur einmal noch – nur um acht Wochen die Zeit zurückwenden können!

Frau Elfriede pochte jetzt mit hartem Finger an die Thür. „Komm heraus, Lore, wir wollen uns ja nicht zanken!“ rief sie.

Die junge Frau ging hinüber und öffnete.

Die Schwiegermutter rauschte herein. „Ich bitte Dich, Kind, schreib Deinem Mann nichts darüber,“ sagte sie sanft. „Es ist ja wahr, ich bin heftig gewesen, – nun, wir sind allzumal keine Engel, und wo Menschen zusammenleben, giebt’s natürlich zuweilen Meinungsverschiedenheiten.“

Lore antwortete nicht.

„Und heute nachmittag begleitest Du mich wohl, um die letzten Weihnachtskommissionen zu machen, wir wollen dann auch die Kiste von Hertzog aus Berlin auspacken; die zurückgesetzten Kleider sind darin, die Geschenke für die Dienstleute.“

„Ich bedaure,“ erwiderte Lore, „ich gehe zu Mama.“

„Ganz recht – ich werde – –“

„Mama und ich haben allein miteinander zu reden; man wird mir doch nicht wohl verweigern können, ein paar Stunden im Hause meiner Mutter zuzubringen?“

„Ach Gott, wie Du alles mißverstehst!“ klagte Frau Elfriede, „ich will Dich nur hinbegleiten.“

„Danke, den Weg finde ich allein.“ Sie grüßte leicht mit dem kleinen goldflimmernden Kopf und schritt in ihr Wohnzimmer und begann dort die Sachen aufzulesen, die von dem mißhandelten Schreibtisch hinunter in alle Ecken des Boudoirs zerstreut waren.

Sie kam am Nachmittage ungehindert aus dem Hause und ging zu Fuß nach dem elterlichen Heim. Die Straßen erschienen ihr so fremd, als sei sie jahrelang abwesend gewesen. Die Leute sahen sie so neugierig an; hinter ihr wurden verschiedene Fenster aufgerissen. Das war ja aber auch, als wäre diese schlanke schwarze Gestalt nur noch das Gespenst von dem blühenden schönen Mädchen. Sie dankte auf die Grüße der Leute, aber sie neigte dabei kaum das Haupt. Sonst war immer so ein freundlicher Blick aus den sonnigen Augen dabei gewesen, jetzt sah das „toll hochmüthig“ aus. Na, die saß ja auch auf einem riesigen Geldsack!

Die Mutter hatte im Eßzimmer Feuer und saß schon bei der Lampe, sie rechnete und etwas Geld lag neben ihr. „Du bist es, Lore?“ fragte sie.

„Ja, Mama! Laß nur, ich setze mich hierher. Bitte, Mama leih’ Dir nie wieder Geld von meiner Schwiegermutter!“

Die alte Dame erschrak sichtlich. „Ach Gott, wenn ich nur andern Rath wüßte,“ stotterte sie.

„Verkaufe, was Du hast; aber leihe Dir dort nichts!“

„Ich hatte mir Lenz bestellt, er sollte Papas Garderobe kaufen; aber er giebt ja nichts.“

„Wir haben doch noch Silber, Mama?“

„Auch das soll ich hergeben?“ klang es schmerzlich.

„Ja! Ja, ehe Du bittest bei – bei –“ sie verschluckte das Letzte.

„Hat sie etwas gesagt?“

„Ja – frage mich nicht, Mama, und erfülle meinen Wunsch!“

„Es ist gut, Lore. Ich hatte nur gedacht – – ich kann ihr übrigens jetzt das Geborgte nicht zurückgeben.“

„Sei ruhig, Mama, ich habe es schon gethan. Wo ist denn Käthe?“

Frau von Tollen wußte es nicht; sie sei noch nicht aus der Klasse zurück. Im Ofen stand die kleine Kanne mit dem dünnen Kaffee, der des jungen Mädchens harrte, und auf dem Tische Butter und Brot.

Lore hatte den Mantel abgeworfen und sich in die Sofaecke gekauert; sprechen that sie nicht. Sie sah nur umher, und dann schnitt sie sich ein Stückchen Brot ab und begann zu essen. Sie hatte nicht theilgenommen an dem Mittagessen zu Hause.

„Wirst Du abgeholt?“ fragte die Mutter endlich.

„Ich weiß es nicht. Sprich doch nicht vom Fortgehen, laß mich doch hier!“

„Ich freue mich ja sehr, Lore, ich dachte nur – versteh’ mich nicht falsch –“

Sie blieben zusammen, bis es sechs Uhr schlug, kaum miteinander sprechend.

„Du bist so sonderbar jetzt, Lore,“ seufzte Frau von Tollen, als die Tochter aufstand und sich zum Gehen anschickte.

Aber Lore hatte es wohl nicht gehört, sie küßte ihre Mutter und verließ das Haus. Käthe war noch immer nicht gekommen.

Die junge Frau ging langsam durch die Straßen und athmete die schwere neblige Luft mit vollen Zügen, sie konnte träumen, sie sei frei in diesem Augenblicke. Das Coupé ihres Mannes rollte an ihr vorüber, sie sollte abgeholt werden; rasch bog sie in eine ganz schmale Gasse ein, in der kein Wagen fahren konnte. Ziellos schritt sie weiter, die Straßen auf und ab; zuletzt wieder hinüber in die Neustadt. Es war, als könnte sie nicht lange genug wandern. Sie sah zu allen Fenstern hinauf, wo Bekannte wohnten, und blieb sogar stehen gegenüber dem Hause einer verheiratheten Freundin, dort oben war Licht in dem traulichen bescheidenen Wohnzimmer der jungen Frau Doktorin, sie sah die Hängelampe schwanken und eine Frauengestalt mit einem Kinde auf dem Arme durch das Zimmer gehen. Dann kam eilig ein Mann auf dem schmalen Trottoir daher, er ging rasch die Stufen hinauf und in das Haus hinein. Bald darauf standen da oben Mann und Weib und herzten gemeinschaftlich das Kleine, das nun auf seinem Arme saß.

Es war achteinhalb Uhr, als Lore endlich ihre Schritte heimwärts lenkte. Aber sie blieb erst noch vor dem Schönbergschen Hause stehen und sah nach dem Giebelfenster hinauf. Sie würde hier selbstvergessen geweilt haben, wäre nicht plötzlich das Licht erloschen dort oben und hätte sich nicht bald darauf die Hausthür geöffnet. Raschen Schrittes ging sie über den Fahrdamm, und dort sah sie sich um. Im blassen Mondschein erkannte sie Ernst, der den Weg zur Stadt einschlug. – In ihren Augen glühte es auf, ihr Fuß hob sich, sie wollte ihm nach, wollte seine Hand fassen und ihn bitten: „Vergieb!“ Aber die alte mädchenhafte Befangenheit, brennende Scham und Angst fesselten ihre Glieder förmlich. Sie sah ihm nur nach mit Augen, in denen die Sehnsucht eines ganzen Menschenlebens lag. Endlich ging sie mit einem Gefühle von Schwäche und Verzweiflung weiter, zurück in das Haus und hinauf in ihr Zimmer. Sie sah so bleich und verstört aus, daß Frau Elfrieden die Bosheit auf den Lippen haften blieb, mit der sie die Heimkehrende im Vestibül zu empfangen gedachte.

Droben setzte sich Lore auf ihr Bett, und so saß sie, bis die Müdigkeit sie übermannte. Das Mädchen weckte sie am andern Morgen, als es zum Heizen kam, mit dem Rufe. „Um Gott, die gnädige Frau sind noch im Mantel und Hut!“




In den Hamburger Schnellzug stieg auf Station Uelzen ein Herr. Er war athemlos vom jenseitigen Perron, wo die hannöverschen Züge halten, herübergeeilt und schaute mit verdrießlicher Miene die Dame an, die bereits in dem Coupé saß, das ihm der Schaffner auf sein Verlangen geöffnet hatte. Das Donner und Wetter – nun konnte er nicht einmal rauchen! Er beugte sich aus dem Fenster und schrie mit mächtiger Stimme dem Kondukteur zu:

„Ich will ja kein Nichtrauchercoupé!“

„Entschuldigen Sie, mein Herr, der Zug ist ungewöhnlich stark besetzt,“ war die Antwort, „es ist eben Weihnachten.“

Der Herr murmelte irgend etwas und setzte sich, nachdem er das Fenster geschlossen, in der Ecke zurecht. Er war ein mittelgroßer Mann zu Ende der sechziger Jahre, mit einem richtigen bärbeißigen Soldatengesicht, aus dem ein Paar wunderbar heller Augen unter buschigen weißen Brauen hervorleuchtete. Er trug Krimmermütze und Pelz, und um den linken Aermel des letzteren einen schwarzen Wollstreifen als Zeichen der Trauer.

Nachdem er sich sorglich den Pelz über die Kniee geschlagen, zog er eine Zeitung hervor und begann zu lesen, während der Zug durch eine einförmige Winterlandschaft dahinjagte. Es war trübes, nebliges Wetter, die Sonne schien erst gar nicht versuchen zu wollen, mit den dichten, niedrig hängenden Wolken zu kämpfen. Der Schnee auf den Feldern war fast ganz hinweg gethaut, nur in den Gräben zur Seite des Schienenstranges lagen noch kleine schmutzige Reste desselben, und die Weiden schimmerten dunkelroth. Dazu wehte es von Westen her, es war ein eintöniges Brausen, das man so recht deutlich hörte, wenn der Zug einmal hielt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 167. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_167.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)