Seite:Die Gartenlaube (1889) 183.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Nein, ich begreife nicht, Lore,“ rief sie, „daß Dir diese Vorbereitungen keinen Spaß machen! Du solltest nur sehen, wie reich die Tafel bedeckt ist mit Gaben für die armen Kinder. Und der Baum! Da sind auch die Makronen aus dem Ofen gekommen, bitte – koste einmal, – nach dem altbewährten Tollenschen Rezept. Denke Dir, wie rührend von Deiner Schwiegermutter. Käthe bekommt einen neuen Wintermantel. Das Mädel sieht auch gar zu spökerig aus in dem alten Jäckchen; na und was für Dich alles da ist, – Lore, ich sage gar nichts, nur soviel – Du hast einen rührenden, einen opulenten Mann. Willst Du nicht eine Makrone nehmen?“

Lore dankte und zog fröstelnd das Tuch fester um die Schultern.

„Na, dann verzeih; ich muß wieder hinunter.“

Die junge Frau holte sich eine Häkelarbeit, aber die lag bald vergessen auf der Fensterbank. Sie nahm eines der Bücher im weißen goldgepreßten Ledereinband aus dem zierlichen Bibliothekschränkchen. Es waren die Gedichte von Burns. Sie blätterte darin und wußte selbst nicht, was sie las. Dann blieben ihre Augen an einer Stelle haften:

Versprich mir Treue, Marie,
Gieb mir Deine weiße Hand,
Und schwöre mir Treue, Marie!

Wir haben’s gelobt, Marie,
Vereinigt ist Geist mit Geist,
Und Fluch sei dem Augenblicke,
Der uns von einander reißt.

Da waren sie wieder so lebendig vor ihren Augen, das Flüßchen, die Birke, der Herbstabend, als auch sie ihm Treue gelobte. Ja – und verflucht war sie gewesen von dem Augenblicke an, da sie sie brach, und sie würde es bleiben, solange sie athmete. Es gab keine andere Hilfe, als – –

Sie stand plötzlich auf, das Buch fiel zur Erde. Es ist ein fürchterliches Gesetz, das zwei Menschen an einander schmiedet wie Galeerensklaven. Es erfaßte sie, die Aristokratin, eine zitternde ohnmächtige Wuth gegen Ordnung und Obrigkeit. Und gleich darauf schlug sie die Hände vor das Gesicht – bis zu welchen irren Gedanken würde ihr krankes Herz sie noch führen? – Vorhin war eine Depesche an sie gekommen mit der Nachricht, daß ihr Gatte bereits am siebenundzwanzigsten Dezember die Rückreise wieder antrete, und daß sie vom achten oder neunten Januar ab in Hamburg seiner warten solle. – –

Er sollte warten, vergeblich warten, immer, immer! Wenn nur erst der heutige Tag vorbei wäre – –.

Die Mittagsstunde rückte näher; Fräulein Melitta lächelte abermals herein. „Ich begreife nicht, wo Deine Schwiegermutter bleibt!“ rief sie, „bist Du nicht auch verwundert? Seit zehn Uhr fährt sie in der Stadt umher; sie hat zwar zwölf arme Familien zu besuchen, aber – –“

Lores Jungfer trat ein. „Gnädige Frau, ein Herr wünscht Sie zu sprechen.“

Lore nahm die dargereichte Karte vom silbernen Teller, dann fuhr sie vom Stuhl empor. „Der Onkel,“ stammelte sie, „Onkel Wilhelm!“ Und im nächsten Augenblick war sie an Tante und Dienerin vorübergeeilt, und ein leiser in Thränen erstickter Aufschrei. „Ach, Onkel, Du?“ scholl zurück.

Als das alte Fräulein ihr nacheilte, fand sie die schlanke Gestalt Lores halb bewußtlos in den Armen ihres ältesten Bruders, der ganz verwirrt über das Aussehen und Gebaren seines Lieblings weiter nichts zu sagen vermochte, als: „Kind – Lore – was ist aus Dir geworden!“

Sie faßte sich gewaltsam und zog ihn mit zitternder Hand nach ihrem kleinen Boudoir. Dort blieb sie vor ihm stehen, seine beiden Hände noch immer festhaltend, und sah ihn an mit den blauen Augen, die so angstvoll aus dem schmalen Gesicht blickten. „Onkel,“ sagte sie, „Du kommst zu spät – –“

„Was denn, mein Lorchen, was denn?“ fragte er verwirrt.

„Ach, laß nur, Onkel, es ist Unsinn, was ich da rede, Du hättest ja auch nicht helfen können. Setze Dich, Onkel, ich bin so dankbar; es ist doch eine Freude, eine, am heutigen Tage.“

Er setzte sich, ohne ein Wort zu erwidern und sah sie unverwandt an. „Lore,“ fragte er endlich, ohne sich um die Gegenwart Tante Melittas zu kümmern, die auf der Chaiselongue saß und schluchzte, „Lore – bist Du – Du bist doch nicht –?“

Tante Melittas Schluchzen verstummte vor dem unruhigen Gebaren des alten Herrn. „Aber Wilhelm,“ sagte sie vorwurfsvoll, „was hast Du denn?“

Die junge Frau reichte ihm die Hand herüber. „Onkel, erzähle, wie es Dir ergangen!“

Er übersetzte es sich: Laß nur, es ist alles gleich. Frage nicht, ich muß mein Schicksal tragen. – Er öffnete den Mund zu einer Frage, aber er verschluckte sie, denn eben rauschte Frau Elfriede, die Wangen blauroth vor Kälte, ins Zimmer, und begrüßte „Seine Excellenz“ mit einem solchen Aufwand von Worten, daß es ihm unmöglich ward, auch seinerseits etwas vorzubringen. Er betrachtete von seiner stattlichen Höhe herunter die aufgeputzte kleine Person, und ein Anflug ironischen Lächelns zog seine buschigen Augenbrauen in die Höhe.

„Und Excellenz verleben den heutigen Tag bei uns?“ Frau Elfriede schmolz fast, als sie dies mit süßestem Lächeln flötete. „Lorchen, Kind, Du mußt es ja wissen – liebt Se. Excellenz ein Sprungfederbette oder eine Roßhaarmatratze? Die Herren Offiziere sind so eigenthümlich mit ihrem Lager. – Es versteht sich von selbst, daß Excellenz mit Lorchens bescheidener Logirstube vorlieb nehmen. Friedrich soll die Effekten Sr. Excellenz sofort aus dem Hotel holen.“

„Ich danke Ihnen, gnädige Frau,“ lehnte der General ab, „es ist ein Grundsatz von mir, ich wohne niemals in einem Privathause.“

„Aber Wilhelm, Du verdirbst Lore die Freude am ersten Gast in ihrer reizenden Häuslichkeit!“ rief Tante Melitta.

„Lore, Du nimmst’s nicht übel, – ich danke, gnädige Frau.“

„Nein, Onkel!“ erwiderte Lore.

„O, wie bedaure ich das,“ klagte Frau Elfriede, „aber ich will eilen, um zu sorgen, daß die Herrschaften bald etwas zu essen bekommen. Auf Wiedersehen! Liebstes Fräulein von Tollen, o bitte, auf einen Augenblick!“

Tante Melitta lief wichtig hinter Frau Becker her. Es herrschte jetzt eine fast beängstigende Stille in dem kleinen Gemach, in dem sich Onkel und Nichte ganz allein gegenüber saßen.

„Gott soll mich schützen!“ dachte der alte Herr. Er war gar nicht imstande, Lore jetzt anzusehen, er meinte, ihr feines Gefühl schäme sich dieser alten ordinären Schachtel, die ihre Schwiegermutter hieß. „Lorchen,“ fragte er endlich, „Du siehst elend aus, und Deine Mutter meinte, Da seist so sonderbar geworden; hab mal Vertrauen zu mir – stimmt hier nicht alles?“

„Doch, Onkel, doch!“

„Hm!“

Sie schwiegen wieder, man hörte nur das leise hastige Ticken der kleinen Uhr. Lore sah so aus, als wollte sie bitten: „Wozu denn, Onkel? Du kannst mir auch nicht helfen.“

Dem General that das alte ehrliche Herz in seiner Brust mächtig wehe. Was war aus dem Mädel geworden? Und er war doch höllisch ungeschickt, er wußte nicht mal, wie er es anfangen sollte, zu erfahren, ob sie unglücklich war über des Vaters Tod, oder gar – hm –. „Es ist hart, Kind, daß Du gleich so Bitteres erfuhrst im Anfang Deiner Ehe.“

Sie nickte. „Wo traf Dich denn die Todesnachricht?“ fragte sie dagegen, und als er sagte. „In Cairo,“ da begann sie hastig zu fragen nach seinen Reisen; er war kaum imstande zu antworten, so forciert, so nervös klang es. Sie dachte dabei ganz anderes; aussprechen möchte sie sich gegen ihn, die Last von ihrer Seele wälzen, aber – würde er sie verstehen?

Sie ging dann an seinem Arm hinunter nach der Beletage in das Speisezimmer der Schwiegermutter.

Die alte Dame hatte der „Excellenz“ zu Ehren alles Silber aufgesetzt, über das sie verfügte. Es war zu der frühen Stunde schon dämmerig in dem mit dunklem Holz getäfelten Raum, deshalb brannten die Flammen an der altdeutschen Messingkrone über dem Tische und entlockten dem Tafelgeräth Funkeln und Blitzen. Im Kamin glühte ein mächtiger Block Eichenholz. Weich und warm breitete sich der Smyrnateppich über den Boden. Es war ein behaglicher, harmonischer Raum, nur einzig und allein zwei schreckliche Oeldruckbilder störten dieses comme il faut, Stillleben nach irgend welchen berühmten Originalen aus der Dresdener Galerie, das eine Wild, Fische und Geflügel, das andere Früchte und ein Kelchglas mit Rheinwein darstellend.

Das Talmi guckt überall durch, dachte der General. Er saß, den Rücken nach dem eichengeschnitzten Kredenztisch gewandt, an der Schmalseite des Tisches, Lore und ihre Schwiegermutter zu beiden Seiten, Tante Melitta gegenüber.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 183. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_183.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)