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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Durch Neu-Mexiko.

Von Rudolf Cronau.

Unter den vielen Ländern, die der nordamerikanische Staatenbund in sich vereinigt, ist Neu-Mexiko sicherlich eines der merkwürdigsten: reich an geschichtlichen Erinnerungen, reich an landschaftlicher Pracht, reich an werthvollen Metallen und Naturerzeugnissen und voll des Interessanten und Sehenswerthen. In dem von allen fremden Einflüssen bis vor wenig Jahren fast vollständig abgeschlossenen Lande haben sich altspanische und indianische Sitten und Bräuche unverändert erhalten, und erst seitdem das Dampfroß in dieses sagenumwobene Montezumareich eingedrungen, ist dasselbe wieder mehr in den Bereich des Weltverkehrs und der Forschung gezogen worden.

Die Kirche San Miguel in Santa Fé. Originalzeichnung von Rudolf Cronau.

Namentlich der letzteren hat sich mit der allmählichen Aufschließung dieses wunderbaren Landes eine Welt von Fragen eröffnet, und noch sind die Hypothesen keineswegs erschöpft, wer die Erbauer jener überaus merkwürdigen Ruinenstädte gewesen sein mögen, die sich auf den dürren Hochebenen und in den schwer zugänglichen Cañons von Neu-Mexiko so häufig finden und den schlagendsten Beweis liefern, daß vor Zeiten, deren Dauer sich allerdings der genaueren Bestimmung entzieht, in diesen weiten menschenleeren Landen Völkerschaften gewohnt haben, die auf einer höheren Kulturstufe standen als die heute in Neu-Mexiko lebenden Stämme.

Das Eigenartige dieser längst untergegangenen Völker – die Amerikaner nennen sie „Cliff-dwellers“, „Felsenbewohner“ – bestand in der Wahl ihrer Wohnstätten, die sie, gleich den Schwalben, an alle Felsenabhänge anklebten. Hoch über schwindelerregendem Abgrund hängen in den Schluchten des Rio Manco, San Juan, de Chelle etc. zahlreiche malerische Ruinen, manche leicht zugänglich, andere hingegen gar nicht oder nur dann erreichbar, wenn man sich an langen Seilen vom Rande der Schlucht bis zu den Höhlenwohnungen hinabließe. Einzelne dieser Häuser sind 800 Fuß über der Thalsohle gelegen und von unten aus dem unbewaffneten Auge nur als kleine Punkte erkennbar. Kein Fußsteig führt die fast lothrechten Wände hinan, ebenso wenig ist ein Zugang von oben her zu erzwingen, da die Wohnstätten unter weit überhängenden Felsensimsen liegen. Hinter mehreren dieser Luftwohnungen finden sich kleine Stallungen für Vieh, und es ist geradezu unbegreiflich, wie man Thiere in diese unwegsamen Höhen bringen und hier erhalten konnte.

An anderen Punkten Neu-Mexikos finden sich altindianische Bauten, die an Umfang alle gegenwärtigen Bauten Nordamerikas mit Ausnahme des Kapitols zu Washington hinter sich lassen. Eine dieser Ruinen, das Pueblo Chetho Kettle, ist 440 Fuß lang, 250 Fuß breit und weist vier Stockwerke auf. Das ganze Mauerwerk enthält etwa 30 Millionen Stück Bausteine. Pueblo Bonita am Rio Chacos gelegen, hatte einen Umfang von 1300 Fuß und umschloß 641 Räume, welche nach einer Schätzung 3000 Indianern Wohnung geben konnten. Noch größere Maßverhältnisse hat das Pueblo de Penasca Blanca, es weist einen Umfang von 1700 Fuß auf.

Auf die Frage, wer die Erbauer dieser merkwürdigen Ruinenstädte gewesen, hat, wie schon angedeutet, die Wissenschaft eine endgültige, befriedigende Antwort noch nicht gefunden. Daß diese Erbauer aber vor der Entdeckung Amerikas durch Columbus gelebt haben müssen, geht aus den Aufzeichnungen der spanischen Mönche und Conquistadoren hervor, welche bereits im Jahre 1540 nach Neu-Mexiko vordrangen, denn schon diesen ward von den Eingeborenen versichert, daß die „Casas Grandes“, die „großen Häuser“, mehr als 700 Jahre alt seien. Ueber die Erbauer aber wußten auch sie keinerlei Auskunft zu geben.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 192. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_192.jpg&oldid=- (Version vom 30.3.2020)