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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Kaum hatte er gesagt: „Jetzt können die Herren immer dem breiten Wege nachgehen, ohne zu fehlen, bald senkt sich die Straße und dann sehen Sie fern in der Tiefe die Lichter der Stadt,“ so fingen sie an zu rennen, als ob alle Raubthiere der Erde hinter ihnen her wären. Sebaldus und Franz schauten ihnen eine Weile lachend nach, dann schlugen sie einen Fußpfad ein, der am Weißen Thor vorüber zur Sehnsuchtstanne führte, wo sich ihre Wege trennen mußten. Franz wußte nicht, wovon er zuerst zu reden anfangen sollte, während er neben Sebaldus auf dem dunklen Pfade einherschritt. Zuerst drängte es ihn, die Angelegenheit des Eisenhans und des Luka zur Sprache zu bringen, welche jene Unruhe in ihm erregt hatte, von der er aus dem Hause getrieben worden war. Indessen war es ihm durch die Schweigsamkeit seines Begleiters immer schwerer geworden, eine Anknüpfung an diese Geschichte zu finden. Nach der Bitte Reginens um Stillschweigen nahm er an, daß dieser Gegenstand einen eigenthümlichen Eindruck auf Sebaldus hervorbringen müsse.

Was sollte er opfern: den Wunsch Reginens oder die eigene Neugierde, die ihn verzehrte?

Mittlerweile sahen sie durch die helle Nacht hindurch den Steilabsturz des Trichters vom Weißen Thor.

Das wußte Franz freilich nicht, daß er keine verhängnißvollere Oertlichkeit hätte wählen können, um mit seinen Fragen anzufangen. Er schrak verblüfft zurück, als Sebaldus auf die einfachen Worte: „Weiß man jetzt noch immer nichts vom Luka?“ augenblicklich stehen blieb und den Fragenden mit einem seltsamen Blick von oben bis unten maß.

Nach einer Weile sagte Sebaldus: „Was soll’s damit?“

Franz antwortete nicht. Er dachte an Reginens Warnung. Offenbar wollte Sebaldus gleich dem Mädchen nichts von einer Sache hören, mit welcher zusammen der Name des Eisenhans genannt worden war.

„Es ist mir eben so durch den Kopf gegangen,“ sagte er nach einer Weile.

Sebaldus schritt hinter ihm her, ohne ihm zu antworten. Endlich kamen sie über das Weiße Thor hinaus und das Stillschweigen wurde Franz lästig. Er suchte nach einem Gegenstand, mit welchem er die Frage, die so übel aufgenommen worden war, vergessen machen könnte.

Warum hatte er aber auch nicht früher daran gedacht!

Er erzählte nun dem Sebaldus, welch wunderliche Begegnung er vorhin im Walde gehabt hatte. Ein mächtiges Thier war pfeilschnell durch sein Gesichtsfeld geflogen, es konnte kein Vogel, es konnte kein Reh gewesen sein. Waren Wölfe in den Wald eingedrungen? Er hatte kein Wort davon gehört.

Mittlerweile hatte sich der Himmel wieder verfinstert, der Südwind schob schwere Wolken vom Meere herauf. Sie gingen eben durch ein Dickicht und Sebaldus steckte seine Laterne an.

„Zum Kuckuck, was ist das?“ rief er, indem er mit der Laterne auf einen rundlichen Fleck im Schnee hindeutete. Zugleich horchte er in den Wald hinein, als ob ihm von dort etwas Auffallendes in die Ohren gedrungen wäre.

„Es ist nichts,“ sagte er. „Es ist der Schnee, welcher feucht und schwer geworden ist und von den Bäumen herabfällt.“

Im nächsten Augenblicke wendete er um so größere Aufmerksamkeit wieder dem Fleck im Schnee zu. Er leuchtete weiter. Da war ein paar Spannen weiter ein gleicher Fleck, dann ein dritter und so weiter.

„Straf mich der Himmel, das ist ein Luchs!“ sagte Sebaldus fast athemlos.

Franz bückte sich gleichfalls gegen den Boden und erwiderte: „Nichts anderes, wenngleich man nach der Spur meinen könnte, es sei ein Elephant durch den Wald getrabt.“

„Durch den warmen Wind ist sie eben größer geworden,“ sagte Sebaldus. „Morgen wird sie ausschauen wie ein Teller. Es ist nichts anderes. Wäre es ein Wolf, so müßte man die Krallen sehen.“

„Der Luchs ist’s, der an mir vorübergeflogen ist,“ rief Franz.

„Das Feuer muß den Burschen ganz verrückt gemacht haben. Das giebt morgen eine Treibjagd,“ sagte Sebaldus, indem er mit der Hand auf den Schenkel klatschte. „Gehe jetzt nur heim und verrathe kein Wort! Ich werde morgen den Eisenhans überraschen.“

Und ehe Franz Zeit hatte, ihm Ja oder Nein zu sagen, winkte er ihm mit der Laterne gegen die Sehnsuchtstanne hin, welche sich in geringer Entfernung von ihnen erhob, und schlug, offenbar in höchster Aufregung, eiligst den Weg nach seiner Behausung ein.

8.

Am nächsten Morgen war an dem Forsthause des Eisenhans ein Leben, wie es Regina seit langer Zeit dort nicht mehr wahrgenommen hatte.

Sebaldus mußte noch während der Nacht Gelegenheit gefunden haben, den Forstmeister in der Stadt von seiner Entdeckung zu benachrichtigen, denn es fehlten nur noch zwei Stunden bis Mittag, als der Forstmeister schon in voller Jagdausrüstung ankam und nach den Vorbereitungen zur Treibjagd fragte.

Dem Forstmeister war die Geschichte mit dem Luchs aber auch noch in anderer Hinsicht eine angenehme Nachricht gewesen. Es war jetzt offenbar, daß die zwei Schüsse, welche der Eisenhans dem Luchs nachgeschickt haben wollte und von denen Barbara herumgeschrieen hatte, daß sie ihrem verschwundenen Manne gegolten hätten, keine Erfindung des Försters gewesen waren. Er sagte dies auch sofort dem Eisenhans, noch während er sein Gewehr ablegte.

Der Eisenhans freute sich über die freundliche Ansprache des Forstmeisters, doch vermochte er im Augenblick nicht weiter über diese Angelegenheit, die ihm so nahe ging, zu sprechen.

Fort und fort kamen Jäger und Bauern mit ihren Meldungen. Dieselben wurden besprochen, gegen einander abgewogen und endlich, nach allen Beschreibungen der Fährten, ward angenommen, daß der Luchs an einer Stelle des Waldes nahe an der verlassenen Köhlerhütte liegen müsse, die man den „Bruch“ nennt, weil dort seit langer Zeit Stämme, welche ein Sturm umgeworfen hatte, übereinander lagen. Gelang es, das Thier von dort herauszutreiben, so mußte es auf der weiten Lichtung, welche den Bruch umgab, unzweifelhaft unter den Kugeln seiner Verfolger fallen.

Das Fell des Luchses war längst verkauft, bevor man es hatte.

Regina hatte alle Hände voll zu thun, ein kleines Mahl zu bereiten, mit welchem sich die Jäger vor ihrem Aufbruch zu stärken gedachten. Alle waren guter Laune; das schlimme Raubthier hatte eine heitere Stimmung über die ganze Gesellschaft gebracht.

Der Forstmeister, welcher die verstohlenen Blicke bemerkte, welche Regina und Sebaldus sich zeitweilig zuwarfen, sagte beim Fortgehen neckisch zu dem Mädchen:

„Auf diese Weise aber werden wir nicht aus dieser Wildniß herauskommen. Die Rose wird unter den Dornen bleiben.“

Regina erröthete, als ob sie es darauf anlegte, dem Schmeichelbeiwort, welches ihr der Herr Forstmeister bei guter Laune zu geben pflegte, nach Kräften gerecht zu werden. Noch lange schaute sie den Männern nach, als ihre Gestalten zwischen den Stämmen der Buchen und Tannen verschwanden.

Seit gestern hatten Sonne und Südwind mächtig gearbeitet, den Schnee von unbewaldeten Kuppen zu entfernen. Die „Große Kuppe“, wie man einen Hügel in der Nähe des Forsthauses nannte, hatte ihre Farbe seit dem gestrigen Abend vollständig verändert. Sie zeigte jetzt grauen, nackten Fels, wo man vorher nur zerfließenden Schnee oder nasse Steinflächen gesehen hatte. Es ging ein seltsames Schwirren durch den Wald. Der Wind trieb von Mittag gegen Norden, dennoch aber jagten die Wolken hoch oben am Himmel von Nord gegen Süd. Zwei Strömungen kämpften mit einander.

Es mußten noch lange Stunden bis zur Rückkehr der Jäger verstreichen. Regina beschloß deshalb, diesen ersten Frühlingstag zu benützen, um die aussichtsreiche Kuppe zu besuchen. Es verging keine halbe Stunde und sie befand sich auf der Erhöhung. Mit Freuden erspähte sie einiges Heidekraut, dessen rothe Blüthe sich schon unter dem Schnee entwickelt haben mochte. Hier und dort war der grauliche Stengel eines Huflattichs in die Höhe geschossen, und aus der tieferen Waldgegend vernahm sie die Stimmen zahlreicher Amseln.

Nachdem sie sich eine geraume Weile an diesem Frühlingsbilde erfreut hatte, fuhr sie sich plötzlich mit der Hand über die Augen, als ob sie etwas Störendes von ihnen wegwischen wollte. Doch umsonst. Sie versuchte es noch einmal. Es half nichts, was sie verscheuchen wollte, wich nicht.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 198. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_198.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)