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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Lore wieder, „Onkel, ich will es ihr danken, auf den Knieen danken, denn dann, dann –“

Sie zog ihn herüber zu der Thür und schob ihn in das Boudoir; und sie selbst flüchtete in die äußerste Ecke einer der tiefen Fensternischen, legte den brennenden Kopf an die Scheiben und starrte hinaus in den dämmernden Park. Einen Augenblick vermochte sie des Generals Sprechen zu verstehen. „Ei, ei, das sind Sie, Madame?“ – Dann schloß sich die Thür und es war nur noch ein undeutliches Gemurmel, was hier herüber drang. Zuweilen lange Pausen, dann die flehende weiche Frauenstimme.

Barmherziger Gott, wenn sie eine Lügnerin wäre, wenn jene nur seine Geliebte, und ihre eigenen Fesseln doch nicht zerreißbar! – Es gab so wunderliche, verzwickte Gesetze. – Wenn ihr dieser Lichtstrahl nur gezeigt ward, um die Nacht desto finsterer zu machen! „Barmherziger Gott, laß sie die Wahrheit sprechen,“ betete das junge Weib, „laß mich leben, laß mich frei werden!“

An die Schmach, die man ihr angethan, wenn es Wahrheit war, dachte sie nicht.

Die Salonthür nach dem Korridor that sich auf mit kurzen, hastigen Schritten rauschte es durch den Raum – Lores Herz begann stürmisch zu klopfen – Frau Elfriede kam, nachzusehen, was eigentlich los sei hier oben. Die alte Dame klopfte an die Thür des Boudoirs und trat dann rasch ein.

Die Thür blieb offen stehen. Lore hörte den halberstickten Schrei und die zornigen Worte. „Sie wagen es, hierher zu kommen? Herr General, sie ist eine Abenteurerin vom reinsten Wasser! Sie war bei mir als Gesellschafterin, und das kokette Geschöpf hat sich in ein Verhältniß eingelassen mit meinem Sohn – Excellenz, wie junge Leute so sind – und gar einer solch schlauen Dirne gegenüber. – Ich mußte sie entlassen, sie aber thut weiter nichts seit Jahren, als den armen Jungen verfolgen.“

„Gnädige Frau, ich bitte Sie in Ihrem eigensten Interesse“ – des Generals Stimme klang sehr kühl –, „werden Sie ruhiger; in solchen Sachen nur keine Gehässigkeiten und keine Leidenschaften! Ich bin nicht Jurist, ich weiß nicht, wie weit die Ansprüche der Dame hier gehen, wir werden es bald erfahren, wenn sich das Gericht der Sache annimmt. Selbstverständlich habe ich keinen Grund, an Ihren Worten zu zweifeln, mich beirrt nur das eine, daß Madame hier willens ist, die Behörden zu ihrem Schutz anzurufen. Hm – ich meine, die Dame muß festen Boden unter den Füßen fühlen; und – haben Sie eine Ahnung, meine Gnädigste, wie der Strafrichter solche Irrthümer aufzufassen pflegt?“

„Barmherziger Gott, nicht so laut! Sprechen Sie doch nicht so laut!“ kreischte Frau Becker fassungslos, „sie ist eine Betrügerin, bei Gott, eine Betrügerin!“

„Ich bin keine Betrügerin,“ hörte Lore jetzt die Fremde mit zitternder Stimme sprechen, „ich bin auch nicht weggejagt, wie Sie sagen, ich ging freiwillig aus Ihrem Hause, um mich vor den Nachstellungen Ihres Sohnes zu sichern; aber er fand mich auch bei meiner Tante auf, bei der ich eine Zuflucht gesucht. Dort bot er mir, als ich fest blieb, seine Hand – ich –“ sie stockte minutenlang und sprach dann leise weiter: „ich nahm sie an, denn ich war ihm gut, trotzdem er versucht hatte, mich herabzuziehen. – Wir wurden getraut, und ich hatte kein Arg daran, daß unsere Ehe geheim gehalten wurde, daß er mich nicht in sein Haus einführte zu seiner Mutter. – Ich wußte, diese haßte mich; er sagte mir so oft, nur sie sei schuld, daß er nicht längst mir einen Heirathsantrag gemacht. Er vertröstete mich nur immer, er wolle mit mir nach Deutschland gehen. Dann reiste er dorthin – das Kind war just zwei Monate alt – und versprach mir, mich nachzuholen sobald als möglich. Er hat mich jedes Jahr besucht – auch im vorigen Winter noch einmal, dann –“

„Lügnerin!“ rief die alte Dame.

„Madame,“ sagte der General zu Ellen, „gehen Sie in ihr Hotel, ich habe mit Frau Becker zu sprechen. Sie werden morgen früh das Nähere von mir hören. Verzeihen Sie, wenn ich Sie nicht begleite, meine nächste Pflicht ist aber jetzt, mich um meine arme Nichte zu bekümmern.“

Lore, die sich nicht regte, hörte jetzt Schritte hinter sich, Frauentritte und die trippelnden Schritte eines Kindes und die des Onkels.

Dann rauschte wieder die Seidenschleppe und die Stimme der Schwiegermutter schrillte. „Erlauben Sie, Herr General, ich habe auch noch ein Wörtchen mit der – Dame zu reden.“

„Es thut mir leid, gnädige Frau, aber ich muß dringend in unserem Interesse bitten, daß Sie dies unterlassen! Falls diese Dame eine Betrügerin ist, wäre es unter Ihrer Würde, ist sie es nicht, so wäre es sicher nutzlos. Sehen Sie das ein?“

Lore war jetzt hervorgekommen aus ihrem Versteck.

„Onkel,“ rief sie, ihm entgegeneilend, „bring mich zu Mama, ich bitte Dich!“

„Gewiß, mein Herz, ich kann es begreifen, daß Du Dich nach der Mutter sehnst; komm!“

Die junge Frau lief in ihr Schlafzimmer und kam bald zurück, ein Spitzentuch über das blonde Haar gebunden und in ihr altes Mäntelchen gehüllt, das sie neulich schon heimlich mit hergebracht. Sie hielt in der Hand ihr Gesangbuch und des Vaters Photographie in einfachem Morarahmen.

Frau Becker brach bei diesem Anblick plötzlich in ein hysterisches Schluchzen aus. „Lore,“ rief sie, „Du kannst nicht gehen!“

Doch,“ sagte diese mit einem Aufathmen, „ich gehe – und komme niemals wieder!“

„Du kannst das nicht so bestimmt behaupten, mein altes Herz,“ bedeutete der General.

„Ja,“ rief das junge Weib und schien fast zu wachsen, so stolz richtete sie sich empor, „ja, das kann ich! Denn wenn sie auch nicht nach dem Gesetz seine Gattin wurde, sie ist es doch in meinen Augen, und wenn noch etwas die Verachtung, die ich für ihn hege, steigern konnte, so ist es der Anblick dieses Kindes, das er vergessen hat. – Nie, nie setze ich meinen Fuß wieder über diese Schwelle – nie!“

„Es wird sich finden,“ schluchzte Frau Becker.

„Nie!“ wiederholte Lore, und sie nahm die Schleppe des Trauerkleides hoch, als sollte auch das Gewand, das sie trug, nicht mehr den Boden des Hauses streifen, das sie verließ.

„Verzeihen Sie, Gnädigste! Sie ist natürlich furchtbar aufgeregt,“ entschuldigte der General, „ich bin sofort wieder zur Stelle.“

Er eilte Lore nach, die vor der Hausthür auf ihn wartete. „Komm, Kind!“ bat er weich und bot ihr den Arm.

Sie schmiegte sich zutraulich an ihn, aber sie sprach kein Wort mehr. Es war dunkel geworden hier draußen, der Wind hatte sich gelegt, voll und feierlich erklangen die Glocken von den Thürmen der Stadt. Es war Weihnachtsabend!

Ein weiches süßes Gefühl kam über das zitternde Herz Lores, etwas von dem frommen Kinderglauben, das Bewußtsein, es giebt einen Gott des Erbarmens, der Liebe. Sie machte sich los von dem Arm des alten Herrn. „Ich gehe zur Kirche,“ flüsterte sie, und er nickte:

„Ich werde Deine Mutter vorbereiten und kehre dann zu Frau Becker zurück.“

Sie schritt langsam dahin durch die belebten Straßen; aus den Häusern traten Andächtige und gingen unter dem Geläute den nämlichen Weg mit ihr. Sie betrat durch eine Seitenpforte die erhellte Kirche. Am Hochaltar strahlten zwei Christbäume im hellsten Kerzenglanz. Die Thränen schossen ihr plötzlich in die Augen, feierlich ward ihr zu Muth. Dicht vor ihr, halb versteckt hinter einem großen Pfeiler, saß die Fremde, das zarte vergrämte Gesicht sah andächtig zu den brennenden Bäumen hinüber; sie hielt des Kindes kleine Rechte in ihren gefalteten Händen und lauschte dem uralten deutschen Weihnachtsgesang:

„Vom Himmel hoch da komm ich her,
Ich bring’ Euch gute neue Mär –“

Lore trat in den nämlichen Stand, setzte sich neben das Kind und senkte den Kopf im Gebet. Die Augen der Nachbarin richteten sich groß auf ihr Antlitz, über das langsam ein klarer Tropfen nach dem andern rann.

„Um des Kindes willen vergeben Sie mir, daß ich Ihren Frieden störte,“ flüsterte die Amerikanerin nach der Predigt, zu Lore hinüber geneigt.

„Ich Ihnen? Sagen wir: Sie mir! Aber glauben Sie nur, ich bin schuldlos,“ entgegnete Lore. Ihre Hand ruhte einen Augenblick in der der Fremden und ihre Augen forschten in deren Zügen. Nein, sie sah nicht aus wie eine Lügnerin!

Als der Gottesdienst beendet war, ging sie hochgehobenen Kopfes durch die Menge, sie blickte nicht rechts noch links, sie schaute nur in die Zukunft, in die Freiheit.

An der Kirchthür stand der Doktor Schönberg. Seine Blicke hingen an der alten Frau, die neben Käthe von Tollen inmitten

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